VG Berlin, Urteil vom 30.01.2019 - 20 K 538.17 V
Fundstelle
openJur 2020, 36662
  • Rkr:
Tenor

Das Verfahren wird eingestellt, soweit der Kläger zu 5. die Klage zurückgenommen hat.

Der Remonstrationsbescheid der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Beirut vom 5. Oktober 2017 wird aufgehoben, soweit mit ihm die Anträge der Kläger zu 1. und 2. abgelehnt werden. Die Beklagte wird verpflichtet den Klägern zu 1. und 2. ein Visum zum Familiennachzug zu erteilen.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Kläger zu 3. und 4. tragen jeweils ein Achtel der außergerichtlichen Kosten der Beklagten und jeweils ein Achtel der Gerichtskosten. Der Kläger zu 5. trägt die Hälfte der außergerichtlichen Kosten der Beklagten und die Hälfte der Gerichtskosten. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Kläger zu 1. und 2. und ein Viertel der Gerichtskosten. Darüber hinaus findet eine Kostenerstattung nicht statt.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung i.H.v. 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit i.H.v. 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Die Berufung und die Sprungrevision werden zugelassen.

Tatbestand

Die Kläger sind syrische Staatsangehörige. Sie begehren die Erteilung von Visa zum Zwecke des Familiennachzugs. Die Kläger zu 1. und 2. sind die Eltern, die Kläger zu 3. und 4. die minderjährigen Geschwister des am 1. Januar 1999 geborenen Klägers zu 5., der in der Bundesrepublik Deutschland lebt und als Flüchtling anerkannt ist. Die Kläger zu 1. bis 4. leben gemeinsam mit zwei volljährigen Töchtern der Kläger zu 1. und 2. in Damaskus.

Der Kläger zu 5. reiste Ende August 2015 gemeinsam mit seinen drei volljährigen Brüdern in das Bundesgebiet ein und stellte einen Asylantrag. Er legte eine in Syrien notariell beurkundete Vollmacht vom 14. September 2015 vor, wonach sein Vater, der Kläger zu 1., den ältesten Sohn zur Vertretung des Klägers zu 5. bevollmächtigte. Mit Bescheid vom 10. Dezember 2015 erkannte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) dem Kläger zu 5. die Flüchtlingseigenschaft zu. Der Bescheid ist seit dem 31. Dezember 2015 bestandskräftig. Mit Beschluss vom 24. Februar 2016 stellte das Amtsgericht Chemnitz das Ruhen der elterlichen Sorge für den Kläger zu 5. fest und bestimmte seinen ältesten Bruder zum Vormund. Die Beigeladene als zuständige Ausländerbehörde erteilte dem Kläger zu 5. am 14. Juli 2016 eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 2 des Aufenthaltsgesetzes (Gültigkeit bis zum 25. Mai 2019). Der Kläger zu 5. absolviert zurzeit eine Ausbildung als IT-Systemelektroniker, für die er eine Ausbildungsvergütung i.H.v. von monatlich 500,- Euro erhält. Er lebt alleine in einer 47 qm großen Wohnung. Sein ältester Bruder verdient als Finanzbuchhalter monatlich 1.656,- Euro brutto. Die beiden anderen Brüder studieren bzw. besuchen die Schule.

Im Januar 2016 übermittelten der Kläger zu 5. und sein ältester Bruder einen Antrag auf Familiennachzug an die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Beirut/Libanon (im Folgenden: Botschaft). Die Botschaft vergab daraufhin im Februar 2016 an die Kläger zu 1. bis 4. einen Termin zur Visumsbeantragung für den 9. November 2016, den sie wahrnahmen. Mit Bescheiden der Botschaft vom 28. März 2017 lehnte die Beklagte die Erteilung der begehrten Visa ab, nachdem die Beigeladene ihre Zustimmung zur Visumserteilung verweigert hatte. Die hiergegen erhobene Remonstration der Kläger blieb ohne Erfolg. Mit Remonstrationsbescheid der Botschaft vom 5. Oktober 2017 ersetzte die Beklagte die bisherigen Bescheide und hielt an der ablehnenden Entscheidung unter Hinweis auf die zwischenzeitlich eingetretene Volljährigkeit des Klägers zu 5. fest. Eine außergewöhnliche Härte liege nicht vor.

Mit ihrer hiergegen erhobenen Klage verfolgen die Kläger ihr Begehren weiter. Sie sind der Auffassung, die Volljährigkeit des Klägers zu 5. stehe dem Nachzugsanspruch nicht entgegen, und verweisen hierzu auf das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union (im Folgenden: EuGH) vom 12. April 2018 (C-550/16 - A. und S. ./. Niederlande). Das Wohl des Klägers zu 5. erfordere die Anwesenheit seiner Eltern im Bundesgebiet. Er habe sich wegen einer krankhaften Erweiterung der Flüssigkeitsräume des Gehirns und des daraus resultierenden erhöhten Hirndrucks (Hydrocephalus) jeweils im April und Mai 2018 einer Operation unterziehen müssen. Aufgrund seines Gesundheitszustandes sei sein Entwicklungszustand nicht mit dem eines jungen Erwachsenen im selben Alter vergleichbar. Aus finanziellen Gründen könne ausreichender Wohnraum erst angemietet werden, wenn der Nachzug der Kläger zu 1. bis 4. sichergestellt sei. Die Brüder des Klägers zu 5. seien bereit, sie finanziell zu unterstützen.

Nachdem der Kläger zu 5. seine Klage in der mündlichen Verhandlung zurückgenommen hat, beantragen nunmehr allein die Kläger zu 1. bis 4.,

die Beklagte unter Aufhebung des Remonstrationsbescheides der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Beirut vom 5. Oktober 2017 zu verpflichten, ihnen Visa zum Familiennachzug zu erteilen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung führt sie im Wesentlichen aus, das auf Vorlage eines niederländischen Gerichts ergangene Urteil des EuGH sei nicht uneingeschränkt auf das deutsche Recht anwendbar. Einen Rechtsanspruch der Eltern auf einen eigenständigen, nicht akzessorischen Aufenthaltstitel, wie es das niederländische Recht vorsehe, bestehe nach deutschem Recht nicht. Einen solchen Rechtsanspruch schreibe auch das Unionsrecht nicht vor. Vielmehr stehe den Mitgliedstaaten nach Art. 15 Abs. 2 der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (Abl. der Europäischen Union Nr. L 251/12 vom 3. Oktober 2003; im Folgenden: Familienzusammenführungsrichtlinie) ein Umsetzungsspielraum zu, der nicht beschränkt werden könne. Der deutsche Gesetzgeber habe von der Möglichkeit der Schaffung eines eigenständigen Aufenthaltsrechts der Eltern keinen Gebrauch gemacht. Eine Verpflichtung bestehe jedenfalls dann nicht, wenn der Mitgliedstaat in seinem nationalen Verfahrensrecht geeignete Vorkehrungen getroffen habe, damit ein Familiennachzug zum unbegleiteten minderjährigen Flüchtling nicht durch Verfahrensverzögerung vereitelt werden könne. Dies sei vorliegend der Fall, weil nach der ausdrücklichen Weisungslage der Beklagten Visumsanträge, in denen die Volljährigkeit des Kindes in Deutschland bevorstehe, vorrangig und beschleunigt zu bearbeiten seien. Im Übrigen stünden den Betroffenen prozessuale Möglichkeiten zur Seite, ihren Visumsanspruch rechtzeitig vor Erreichen der Volljährigkeit des Kindes durch Erhebung einer Untätigkeitsklage oder Beantragung einer einstweiligen Anordnung durchzusetzen. Ferner gehe aus der Entscheidung des EuGH nicht hervor, für welche Aufenthaltsdauer und zu welchem Aufenthaltszweck den Eltern eines inzwischen volljährig gewordenen Flüchtlings ein Aufenthaltstitel erteilt werden solle. Für einen solchen Sachverhalt sehe das Aufenthaltsgesetz einen Aufenthaltstitel nicht vor. Der Kläger zu 5. sei auch nicht "unbegleitet" im Sinne der Familienzusammenführungsrichtlinie. Er habe sich bis zum Erreichen der Volljährigkeit in der Obhut seines ältesten Bruders befunden. Mangels Übertragbarkeit der Entscheidung des EuGH finde daher weiterhin die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts Anwendung. Im Übrigen habe auch der EuGH betont, dass der Nachzug zum unbegleiteten Minderjährigen nicht ohne jede zeitliche Begrenzung bestehe. Die insofern vom EuGH angeführte Frist, wonach der Visumsantrag innerhalb von drei Monaten ab dem Tag der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu stellen ist, sei von den Klägern nicht eingehalten. Schlussendlich sei auch der Lebensunterhalt nicht gesichert. Ein atypischer Fall, der ausnahmsweise ein Absehen von dem Erfordernis der Lebensunterhaltssicherung gebiete, liege nicht vor. Die Familie lebe in Damaskus im Stadtteil B..., in dem es seit Mai 2017 keine Kampfhandlungen mehr gegeben habe.

Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt. Sie schließt sich den Ausführungen der Beklagten an.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Streitakte und die Verwaltungsvorgänge der Beklagten und der Beigeladenen Bezug genommen, die vorgelegen haben und - soweit wesentlich - Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Gründe

Das Gericht konnte trotz Ausbleibens einer Vertreterin oder eines Vertreters der Beigeladenen verhandeln und entscheiden, weil sie mit der ihr ordnungsgemäß zugestellten Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden ist (§ 102 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO).

Soweit der Kläger zu 5. seine Klage zurückgenommen hat, war das Verfahren gemäß § 92 Abs. 3 VwGO einzustellen.

Im Übrigen hat die Klage teilweise Erfolg. Die gemäß § 42 Abs. 1 VwGO statthafte und zulässige Verpflichtungsklage ist bezogen auf die Kläger zu 1. und 2. begründet (I.), bezogen auf die Kläger zu 3. und 4. indes unbegründet (II.).

I. Der Remonstrationsbescheid der Botschaft vom 5. Oktober 2017 ist insoweit rechtswidrig, als er einen Nachzugsanspruch der Kläger zu 1. und 2. ablehnt und sie daher in ihren Rechten verletzt (§ 113 Abs. 5 VwGO). Die Kläger zu 1. und 2. haben zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung einen Anspruch auf Erteilung von Visa zum Familiennachzug zum Kläger zu 5. nach § 6 Abs. 3 i. V. m. § 36 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG).

Nach § 6 Abs. 3 Satz 1 AufenthG ist für einen längerfristigen Aufenthalt ein Visum für das Bundesgebiet (nationales Visum) erforderlich, das vor der Einreise erteilt wird. Gemäß § 6 Abs. 3 Satz 2 AufenthG richtet sich die Erteilung nach den für die Aufenthaltserlaubnis geltenden Vorschriften. Nach § 36 Abs. 1 AufenthG ist den Eltern eines minderjährigen Ausländers, der eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 Satz. 1 Alt. 1 AufenthG besitzt, abweichend von § 5 Abs. 1 Nr. 1 (Sicherung des Lebensunterhalts) und § 29 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG (ausreichender Wohnraum), eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wenn sich kein personensorgeberechtigter Elternteil im Bundesgebiet aufhält.

Die Voraussetzungen nach § 36 Abs. 1 AufenthG liegen vor. Die Kläger zu 1. und 2. sind die Eltern des syrischen Klägers zu 5., der eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 Satz 1 Alt. 1 AufenthG besitzt. Folglich befindet sich auch kein personensorgeberechtigter Elternteil im Bundesgebiet.

Der Kläger zu 5. ist bei der gebotenen unionskonformen Auslegung auch minderjährig im Sinne dieser Bestimmung. Seine inzwischen eingetretene Volljährigkeit steht dem Nachzugsanspruch der Kläger zu 1. und 2. nicht entgegen.

Insoweit folgt die Kammer nicht mehr der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 18. April 2013 - BVerwG 10 C 9/12 -, juris; vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 11. Oktober 2017 - 2 BvR 1758/17 -, juris Rn. 16), wonach mit Blick auf die für das Verpflichtungsbegehren grundsätzlich maßgebliche Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung der Nachzugsanspruch der Eltern zum unbegleiteten minderjährigen Flüchtling nur bis Erreichen der Volljährigkeit des Kindes besteht und sich im Anschluss nicht in ein eigenständiges Aufenthaltsrecht wandelt. Diese Rechtsprechung ist nach Auffassung der Kammer nach dem Urteil des EuGH vom 12. April 2018 (C-550/16, ECLI:EU:C:2018:248, A. und S. ./. Niederlande -, juris) nicht mehr aufrechtzuerhalten. Sie steht nicht im Einklang mit den Vorgaben der Familienzusammenführungsrichtlinie.

Die Regelung des § 36 Abs. 1 AufenthG wurde zur Umsetzung des Art. 10 Abs. 3 Buchst. a) der Familienzusammenführungsrichtlinie eingeführt (Deutscher Bundestag, BT-Drucksache 16/5065 S. 176). Auf der Grundlage dieser unionsrechtlichen Bestimmung gestatten die Mitgliedstaaten den Verwandten in gerader aufsteigender Linie ersten Grades eines unbegleiteten Minderjährigen die Einreise und den Aufenthalt zum Zwecke der Familienzusammenführung. Art. 2 Buchst. f) der Familienzusammenführungsrichtlinie definiert den "unbegleiteten Minderjährigen" als einen Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen unter 18 Jahren, der ohne Begleitung eines für ihn nach dem Gesetz oder dem Gewohnheitsrecht verantwortlichen Erwachsenen in einen Mitgliedstaat einreist, solange er sich nicht tatsächlich in der Obhut einer solchen Peron befindet, oder Minderjährige, die ohne Begleitung im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zurückgelassen werden, nachdem sie in diesen Mitgliedstaat eingereist sind.

Mit dem vorgenannten Urteil hat der EuGH auf die Vorlage eines niederländischen Gerichts im Vorabentscheidungsverfahren entschieden, dass Art. 10 Abs. 3 Buchst. a) i.V.m. Art. 2 Buchst. f) der Familienzusammenführungsrichtlinie dahingehend auszulegen ist, dass ein Drittstaatsangehöriger, der zum Zeitpunkt der Stellung seines Asylantrags im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats unter 18 Jahre alt war, aber während des Asylverfahrens volljährig wird und dem später die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wird, als "Minderjähriger" im Sinne dieser Bestimmung anzusehen ist (Urteil vom 12. April 2018 a.a.O. Rn. 64).

Die Auslegung des EuGH ist für alle Mitgliedstaaten bindend, auch wenn die Entscheidung auf das Vorabentscheidungsersuchen eines niederländischen Gerichts ergangen ist (vgl. EuGH, Urteil vom 6. Oktober 1982 - C-283/81 - C.I.L.F.I.T. Rn. 14, juris). Sie ist bei der Anwendung des § 36 Abs. 1 AufenthG zu berücksichtigen mit der Folge, dass im Falle des Nachzuges zu einem unbegleiteten Flüchtling für die Frage der Minderjährigkeit auf den Zeitpunkt der Stellung des Asylantrages abzustellen ist (vgl. dazu auch OVG Berlin-Brandenburg, Beschlüsse vom 26. April 2018 - OVG 3 M 23.18 -, vom 4. September 2018 - OVG 3 S 47.18/OVG 3 M 52.18 - und vom 19. Dezember 2018 - OVG 3 S. 98.18 -, jeweils in juris; s. auch Habbe, Familiennachzug zu volljährig gewordenen unbegleiteten Minderjährigen, Asylmagazin 5/2018, S. 149 ff.; BeckOK AuslR/Tewocht, 20. Auflage, Stand: 1. November 2018, AufenthG § 36 Rn. 4).

Die Auffassung der Beklagten, die Auslegung des EuGH sei nicht auf die deutsche Rechtslage anwendbar, sondern den Besonderheiten des niederländischen Rechts geschuldet, überzeugt nicht.

Der EuGH legt den maßgeblichen Zeitpunkt der Minderjährigkeit ohne Bezugnahme auf das niederländische Recht oder das Recht eines sonstigen Mitgliedsstaates aus. Er legt seiner Auslegung ausschließlich die Regelungen der Familienzusammenführungsrichtlinie zugrunde. Zur Begründung verweist er darauf, die praktische Wirksamkeit von Art. 10 Abs. 3 Buchst. a) der Familienzusammenführungsrichtlinie werde in Frage gestellt, wenn das Recht auf Familienzusammenführung auf der Grundlage dieser Bestimmung davon abhinge, zu welchem Zeitpunkt die zuständige nationale Behörde förmlich über den Antrag auf internationalen Schutz entscheide. Die Anknüpfung an den Zeitpunkt der Stellung des Antrages auf internationalen Schutz gewährleiste die gleiche und vorhersehbare Behandlung aller Antragsteller, die sich zeitlich in der gleichen Situation befinden. Allein dieses Verständnis der Vorschrift stelle sicher, dass der Erfolg des Antrags auf Familienzusammenführung nicht von Umständen abhänge, die in der Behördensphäre liegen. Eine andere Auslegung liefe auch dem Ziel der Familienzusammenführungsrichtlinie, der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 (Abl. der Europäischen Union L337/9 vom 20. Dezember 2011; im Folgenden: Qualifikationsrichtlinie), und des Art. 24 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäische Union (GR-Charta) zuwider, wonach das Wohl des Kindes vorrangige Erwägung sein solle (EuGH, Urteil vom 12. April 2018 a.a.O. Rn. 55-60).

Zudem nimmt der EuGH zur Begründung seiner Auslegung Bezug auf den 21. Erwägungsgrund der Qualifikationsrichtlinie, wonach die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ein deklaratorischer Akt ist. Danach habe jeder Drittstaatsangehörige oder Staatenlose, der die materiellen Voraussetzungen von Kapitel II der Qualifikationsrichtlinie erfülle, nach der Stellung eines Antrages auf internationalen Schutz ein subjektives Recht auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, und zwar noch bevor hierzu eine förmliche Entscheidung ergehe (EuGH, Urteil vom 12. April 2018 a.a.O. Rn. 53f.).

Eine fehlende Übertragbarkeit des Urteils des EuGH lässt sich auch nicht aus Systemunterschieden zwischen dem niederländischen und dem deutschen Recht herleiten. Die vom EuGH vorgenommene Auslegung hat nicht allein für Mitgliedstaaten Geltung, die - anders als die Bundesrepublik Deutschland - ein eigenständiges, nicht akzessorisches Aufenthaltsrechts der Eltern nach Erreichen der Volljährigkeit des Stammberechtigten nach Art. 15 Abs. 2 der Familienzusammenführungsrichtlinie geschaffen haben. Hierfür ist der Entscheidung nichts zu entnehmen. Vielmehr hat sich der EuGH erkennbar allein mit der Frage auseinandergesetzt, wann ein Elternnachzugsanspruch auf der Grundlage von Art. 10 Abs. 3 Buchst. a) der Familienzusammenführungsrichtlinie zu einem bereits volljährigen Flüchtling besteht, ohne hierbei ein eigenständiges Aufenthaltsrecht der Eltern nach Erreichen der Volljährigkeit des zusammenführenden Flüchtlings vorauszusetzen. Der EuGH hat ausdrücklich hervorgehoben, es sei nicht Sache der Mitgliedstaaten zu entscheiden, auf welchen Zeitpunkt sie für die Feststellung, ob die Voraussetzung der Minderjährigkeit vorliegt, abstellen möchten. Aus den Anforderungen sowohl der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts als auch des Gleichheitsgrundsatzes folge nämlich, dass eine Bestimmung des Unionsrechts, die für die Ermittlung ihres Sinns und ihrer Bedeutung nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweise, in der Regel in der gesamten Union eine autonome und einheitliche Auslegung erhalten müsse (EuGH, Urteil vom 12. April 2018 a.a.O. Rn. 40 f.). Weder Art. 10 Abs. 3 Buchst. a), noch Art. 2 Buchst. f) der Familienzusammenführungsrichtlinie würden auf nationales Recht verweisen. Art. 10 Abs. 3 Buchst. a) der Familienzusammenführungsrichtlinie erlege den Mitgliedstaaten die Verpflichtung auf, den Familienangehörigen den Nachzug zum Zusammenführenden zu gestatten, ohne dass sie dabei über einen Wertungsspielraum verfügten (EuGH, Urteil vom 12. April 2018 a.a.O. Rn. 43).

Der Beklagten ist auch nicht dahingehend zu folgen, dass der EuGH eine Verpflichtung zur Visumserteilung in Fällen, in denen der Zusammenführende erst im Laufe des Asylverfahrens volljährig wird, nur für diejenigen Mitgliedstaaten sieht, die keine Vorsorge für eine beschleunigte Verfahrensbearbeitung getroffen oder prozessuale Möglichkeiten zur rechtzeitigen Durchsetzung des Nachzugsanspruchs geschaffen haben. Eine solche Differenzierung ist der Entscheidung nicht zu entnehmen. Darüber hinaus zeigt der vorliegende Fall, dass diese Mechanismen nicht in jedem Fall zuverlässig greifen. Denn trotz der Weisungslage der Beklagten, wonach Visumsverfahren bei herannahender Volljährigkeit vorrangig zu bearbeiten sind, kam es zu Verfahrensverzögerungen, die außerhalb der Sphäre der Kläger lagen.

Den Mitgliedstaaten steht auch kein Umsetzungsspielraum in Bezug auf die Gewährung des Rechts auf Familienzusammenführung aus Art. 10 Abs. 3 Buchst. a) der Familienzusammenführungsrichtlinie zu und zwar unabhängig davon, ob dieses Recht vor oder nach der Volljährigkeit in Anspruch genommen wird. Soweit die Beklagte die vom EuGH vorgenommene Auslegung des Art. 10 Abs. 3 Buchst. a) der Familienzusammenführungsrichtlinie als Eingriff in einen von ihr angenommenen Umsetzungsspielraum wertet, äußert sie allein Kritik an der Entscheidung ohne Gründe für eine fehlende Übertragbarkeit auf den vorliegenden Sachverhalt aufzuzeigen.

Etwas anderes folgt auch nicht aus Art. 15 Abs. 2 der Familienzusammenführungsrichtlinie. Denn der Anwendungsbereich dieser Vorschrift unterscheidet sich von dem des Art. 10 Abs. 3 Buchst. a) der Familienzusammenführungsrichtlinie. Nach Art. 15 Abs. 2 der Familienzusammenführungsrichtlinie können Mitgliedstaaten volljährigen Kindern und Verwandten in gerader aufsteigender Linie, auf die Art. 4 Abs. 2 Anwendung findet, einen eigenen Aufenthaltstitel gewähren. Während Art. 10 Abs. 3 Buchst. a) der Zusammenführungsrichtlinie das Recht auf Einreise und Aufenthalt zum Zweck der Familienzusammenführung gewährt, stellt Art. 15 Abs. 2 der Familienzusammenführungsrichtlinie den Mitgliedstaaten frei, den Familienangehörigen ein nach erfolgter Familienzusammenführung sich anschließendes, vom Zusammenführenden unabhängiges Aufenthaltsrecht nach Eintritt der Volljährigkeit einzuräumen. Anders als die Beklagte meint, folgt aus der Auslegung des EuGH nicht, dass bereits mit der Gewährung des Rechts auf Familienzusammenführung auf der Grundlage des Art. 10 Abs. 3 Buchst. a) der Familienzusammenführungsrichtlinie den Eltern ein eigenständiges Aufenthaltsrecht vermittelt wird. Der unterschiedliche Anwendungsbereich der beiden Vorschriften ergibt sich zudem auch aus der Systematik der Norm. Denn auch die anderen, in Art. 15 Abs. 1 und 3 der Familienzusammenführungsrichtlinie geregelten Fälle der Gewährung eines eigenständigen Aufenthaltsrechts betreffen im Verhältnis zum ursprünglichen Nachzugsrecht nachfolgende Aufenthaltsrechte. Nach Art. 15 Abs. 1 der Familienzusammenführungsrichtlinie haben die Ehegatten und volljährigen Kinder spätestens nach fünfjährigem Aufenthalt das Recht auf einen eigenständigen Aufenthaltstitel. Nach Art. 15 Abs. 3 der Familienzusammenführungsrichtlinie kann den bereits Nachgezogenen im Falle des Todes des Stammberechtigten bzw. der Trennung von diesem in besonderen Fällen ein eigenständiges Aufenthaltsrecht erteilt werden. Anders als im Falle des Nachzugsrechts nach Art. 10 Abs. 3 Buchst. a) der Familienzusammenführungsrichtlinie sieht Art. 15 Abs. 4 der Familienzusammenführungsrichtlinie vor, dass die Bedingungen für die Erteilung und die Dauer eines eigenen Aufenthaltstitels im nationalen Recht festzulegen sind. Hiervon hat der deutsche Gesetzgeber keinen Gebrauch gemacht. Dies lässt jedoch keine Rückschlüsse für das Nachzugsrecht auf der Grundlage von Art. 10 Abs. 3 Buchst. a) der Familienzusammenführungsrichtlinie zu.

Zutreffend weist die Beklagte darauf hin, dass sich die Entscheidung des EuGH nicht dazu verhält, für welche Aufenthaltsdauer und zu welchem Aufenthaltszweck den Familienangehörigen nach Ausübung des Nachzugsrechts ein Aufenthaltstitel zu erteilen ist. Dies entbindet sie gleichwohl nicht von der Verpflichtung, in richtlinienkonformer Anwendung den Zeitpunkt der Asylantragstellung als maßgeblichen Zeitpunkt für die Frage der Minderjährigkeit des zusammenführenden Flüchtlings zugrunde zu legen, und der Verpflichtung, den Nachzug zu gestatten, nachzukommen.

Art. 10 Abs. 3 Buchst. a) der Familienzusammenführungsrichtlinie gewährt die Einreise und den Aufenthalt. Für die Einreise und Aufenthalt regelt Art. 13 der Familienzusammenführungsrichtlinie die Modalitäten. Absatz 1 der Vorschrift bestimmt, dass der betreffende Mitgliedstaat die Einreise des Familienangehörigen genehmigt und das vorgeschriebene Visum erteilt, sobald dem Antrag auf Familienzusammenführung stattgegeben wurde. Nach Art. 13 Abs. 2 Satz 1 der Familienzusammenführungsrichtlinie erteilt der betreffende Mitgliedstaat den Familienangehörigen einen ersten Aufenthaltstitel mit mindestens einjähriger Gültigkeitsdauer. Danach folgt dem Nachzugsanspruch gemäß Art. 10 Abs. 3 Buchst. a) der Familienzusammenführungsrichtlinie nach der Einreise ein Anspruch auf einen Aufenthaltstitel mit einer Geltungsdauer von einem Jahr an. Der Aufenthaltstitel ist gemäß Art. 13 Abs. 2 Satz 2 der Familienzusammenführungsrichtlinie verlängerbar. Eine kürzere Geltungsdauer kommt nur nach Art. 13 Abs. 3 der Familienzusammenführungsrichtlinie in Betracht. Danach darf die Gültigkeitsdauer des dem Familienangehörigen erteilten Aufenthaltstitels grundsätzlich nicht über die des Aufenthaltstitels des Zusammenführenden hinausgehen. Folglich hat sich an die Visumserteilung ein Aufenthalt "zumindest von einer gewissen Dauer" anzuschließen (OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 19. Dezember 2018 - OVG 3 S 98.18 -, juris Rn. 12).

Eine Befristung des Aufenthaltsrechts auf den Zeitpunkt der Volljährigkeit ist auch nicht durch den Zweck des Art. 10 Abs. 3 Buchst. a) der Familienzusammenführungsrichtlinie indiziert. Die Auffassung der Beklagten, wonach der Zweck des Familiennachzugs sich auf die Ausübung der elterlichen Sorge beschränke, welche mit Eintritt der Volljährigkeit endet, entspricht nicht der Familienzusammenführungsrichtlinie. Zweck ist nach dem ausdrücklichen Wortlaut des Art. 10 Abs. 3 Buchst. a) der Familienzusammenführungsrichtlinie allein die "Familienzusammenführung".

Anders als die Beklagte meint, steht der Bindung an die vom EuGH vorgenommene Auslegung des Art. 10 Abs. 3 Buchst. a) der Familienzusammenführungsrichtlinie auch nicht entgegen, dass der Kläger zu 5. erst nach Abschluss des Asylverfahrens, während des Visumsverfahrens volljährig geworden ist. Zwar bezieht sich der EuGH in seinem Ausspruch ausdrücklich auf Zusammenführende, die bereits während des Asylverfahrens volljährig werden (EuGH, Urteil vom 12. April 2018 a.a.O. Rn. 49). Jedoch hat der EuGH den für das Nachzugsbegehren maßgebenden Zeitpunkt für die Beurteilung der Minderjährigkeit abstrakt bestimmt. Dies ergibt sich ohne weiteres vor dem Hintergrund, dass er weitere in Betracht kommende Zeitpunkte, auf die für die Beurteilung der Minderjährigkeit abgestellt werden könnte, erörtert und verworfen hat (EuGH, Urteil vom 12. April 2018 a.a.O. Rn. 62f.). Die Begründung des EuGH, wonach es dem minderjährigen Flüchtling für das Recht auf Familienzusammenführung nicht zum Nachteil gereichen darf, dass er während des laufenden Asylverfahrens volljährig wird, gilt gleichermaßen und erst recht in einer Fallkonstellation wie der vorliegenden, in der die Volljährigkeit erst während des sich anschließenden Verfahrens zur Familienzusammenführung eintritt.

Der Anwendung der Rechtsprechung des EuGH zur Auslegung des Begriffs der Minderjährigkeit in § 36 Abs. 1 AufenthG steht vorliegend auch nicht entgegen, dass der Kläger zu 5. gemeinsam mit seinen volljährigen Brüdern in das Bundesgebiet eingereist ist. Denn dieser Umstand macht ihn nicht zu einem begleiteten Minderjährigen, der von Art. 10 Abs. 3 Buchst. a) i.V.m. Art. 2 Buchst. f) der Familienzusammenführungsrichtlinie nicht erfasst wird. Ein Minderjähriger ist unbegleitet im Sinne der vorgenannten Vorschrift, wenn er ohne Begleitung eines für ihn nach dem Gesetz oder dem Gewohnheitsrecht verantwortlichen Erwachsenen in den Mitgliedstaat einreist, solange er sich nicht tatsächlich in der Obhut einer solchen Person befindet.

Vorliegend bedarf es keiner Entscheidung, ob sich die Beantwortung der Frage, ob jemand im Verhältnis zu einem minderjährigen Flüchtling nach dem Gesetz oder dem Gewohnheitsrecht ein verantwortlicher Erwachsener ist, nach dem Recht des Herkunftslandes oder dem des aufnehmenden Mitgliedsstaates als Land des nunmehr gewöhnlichen Aufenthaltes richtet. Denn weder nach syrischem noch nach deutschem Recht waren die Brüder des Klägers zu 5., und insbesondere der älteste Bruder, nicht verantwortliche Erwachsene im Sinne der genannten unionsrechtlichen Vorschrift.

Nach Art. 170 Abs. 1 des syrischen Personalstatutgesetzes vom 17. September 1953, zuletzt geändert durch Gesetz vom 25. Oktober 2003 (PSG), sorgt für die Person und das Vermögen des Minderjährigen der Vater bzw. bei dessen Verhinderung der Großvater. Danach oblag die Personensorge für den Kläger zu 5. dem Kläger zu 1. Zwar kann allein zur Personensorge, nicht jedoch zur Vermögenssorge (Art. 170 Abs. 2, 172 Abs. 1 PSG), auch der ältere Bruder nach Art. 170 Abs. 2 i.V.m. Art. 21 PSG i.V.m mit den Grundsätzen der agnatischen Erbfolge berufen sein. Hiervon ist vorliegend jedoch nicht auszugehen. Dabei kann dahinstehen, ob nach syrischem Recht eine Übertragung des Personensorgerechts überhaupt durch eine einseitige, notariell beurkundete Erklärung zulässig ist. Denn bereits ihrem Inhalt nach handelt es sich bei der notariell beurkundeten Erklärung nicht um eine Übertragung des Personensorgerechts. Vielmehr hat der Kläger zu 1. seinen ältesten Sohn lediglich zur Vertretung des Klägers zu 5. in behördlichen Angelegenheiten bevollmächtigt ("I have instituted and empowered my son M...M... ... to run the affairs of my minor son A...M...... to contact ... all governmental departments in any country to make all necessary procedures...").

Auch nach deutschem Recht haben die Brüder des Klägers zu 5. bis zu dessen Volljährigkeit nicht das Sorgerecht für ihn innegehabt. Nach § 1626 Abs. 1 Satz 1 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) haben allein die Eltern die Pflicht und das Recht, für das minderjährige Kind zu sorgen. Beschränkungen bzw. Übertragungen des Sorgerechts können nur durch gerichtliche Entscheidung erfolgen (§§ 1666 Abs. 1, 1671, 1674, 1774 BGB). Die spätere, nach Abschluss des Asylverfahrens erfolgte Bestellung des ältesten Bruders zum Vormund ändert nichts daran, dass der Kläger zu 5. zum maßgeblichen Zeitpunkt unbegleitet im Sinne von Art. 2 Buchst. f) der Familienzusammenführungsrichtlinie gewesen ist.

Liegt nach alledem die tatbestandliche Voraussetzung des minderjährigen Ausländers bei der gebotenen unionsrechtskonformen Auslegung des § 36 Abs. 1 AufenthG vor, scheitert der Nachzugsanspruch der Kläger zu 1. und 2. schließlich auch nicht an der Versäumung einer für die Visumsbeantragung einzuhaltenden Frist. Die vom EuGH statuierte zeitliche Befristung des Nachzugsrechts (EuGH, Urteil vom 12. April 2018 a.a.O. Rn. 61) findet hier keine Anwendung. Der EuGH stellt klar, dass der auf der Grundlage von Art. 10 Abs. 3 Buchst. a) der Familienzusammenführungsrichtlinie eingereichte Antrag auf Familienzusammenführung in Fällen, in denen der unbegleitete minderjährige Flüchtling bereits während des laufenden Asylverfahrens volljährig geworden ist, grundsätzlich innerhalb einer Frist von drei Monaten ab dem Tag zu stellen ist, an dem der nunmehr Volljährige als Flüchtling anerkannt worden ist (EuGH, Urteil vom 12. April 2018 a.a.O. Rn. 61). Der EuGH begründet die Erforderlichkeit einer angemessenen Frist für die Stellung eines Antrages auf Familiennachzug auf der Grundlage von Art. 10 Abs. 3 Buchst. a) der Familienzusammenführungsrichtlinie damit, es wäre mit dem Ziel der Vorschrift unvereinbar, könne sich ein nunmehr volljähriger Flüchtling ohne jede zeitliche Begrenzung auf die Minderjährigkeit berufen, um eine Familienzusammenführung zu erwirken. Damit trifft der EuGH ersichtlich keine Aussage zu Sachverhalten wie dem vorliegenden, bei dem der Zusammenführende erst nach dem Abschluss des Asylverfahrens volljährig wird. Denn einer erforderlichen zeitlichen Begrenzung bedarf es jedenfalls dann nicht, wenn die Familienangehörigen den Antrag auf Familienzusammenführung zu einem Zeitpunkt stellen, in dem der Zusammenführende noch minderjährig ist. Ob dies auch für Sachverhalte gilt, bei denen der Zusammenführende nach der Schutzanerkennung, aber vor der Antragstellung der Familienangehörigen volljährig wird, bedarf vorliegend keiner Entscheidung.

Aber auch wenn man eine Drei-Monatsfrist im vorliegenden Fall annehmen wollte, spricht im Übrigen viel dafür, dass die Kläger sie gewahrt haben. Denn die Beklagte hat nach Eintritt der Bestandskraft des die Flüchtlingseigenschaft zuerkennenden Bescheides am 31. Dezember 2015 auf den Antrag des Klägers zu 5. und seines ältesten Bruders hin bereits im Februar 2016 einen Vorsprachetermin an die Kläger zu 1. bis 4. für den 6. November 2015 vergeben.

II. Der streitgegenständliche Bescheid bezogen auf die Kläger zu 3. und 4. ist rechtmäßig und verletzt diese nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 VwGO). Die Kläger zu 3. und 4. können einen Nachzugsanspruch weder auf § 32 Abs. 1 und Abs. 4 AufenthG noch auf § 36 Abs. 2 AufenthG oder § 22 AufenthG jeweils in Verbindung mit § 6 Abs. 3 Satz 2 AufenthG stützen.

1. Die Voraussetzungen für einen Anspruch der Kläger zu 3. und 4. zum Kindernachzug zu den Klägern zu 1. und 2. gemäß § 6 Abs. 3 i.V.m. § 32 Abs. 1 AufenthG liegen nicht vor. Nach dieser Vorschrift ist dem minderjährigen ledigen Kind eines Ausländers eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wenn die Eltern eine Aufenthaltserlaubnis, eine Blaue Karte EU, eine Niederlassungserlaubnis oder eine Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EU besitzen (Abs. 1). Im Übrigen kann dem minderjährigen ledigen Kind eines Ausländers eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn es aufgrund der Umstände des Einzelfalls zur Vermeidung einer besonderen Härte erforderlich ist, wobei das Kindeswohl und die familiäre Situation zu berücksichtigen sind (Abs. 4).

Es bedarf keiner Entscheidung, ob der Anspruch bereits daran scheitert, dass die Kläger zu 1. und 2. noch nicht im Besitz von Visa sind, welche grundsätzlich für einen Nachzug auf der Grundlage von § 32 AufenthG genügen (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschlüsse vom 19. Dezember 2018 a.a.O. Rn. 12; vom 22. Dezember 2016 a.a.O. Rn. 3; und vom 21. Dezember 2015 - OVG 3 S 95.15 -, juris Rn. 2), zu deren Erteilung die Beklagte erst mit dem vorliegenden Urteil verpflichtet wird. Denn die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen der Sicherung des Lebensunterhalts und des Vorhandenseins ausreichenden Wohnraums sind nicht erfüllt, ohne dass eine Ausnahme von diesen Erfordernissen angenommen werden kann.

Gemäß § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG setzt die Erteilung eines Aufenthaltstitels in der Regel voraus, dass der Lebensunterhalt gesichert ist. Dies ist nach § 2 Abs. 3 Satz 1 AufenthG der Fall, wenn ihn der Ausländer ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel bestreiten kann. Die Kläger verfügen - auch unter Berücksichtigung der Ausbildungsvergütung des Klägers zu 5. und des Einkommens des ältesten Bruders der Kläger zu 3. und 4. - unstreitig nicht über die erforderlichen Mittel zur Lebensunterhaltssicherung.

Es liegt auch kein atypischer Fall vor, der eine Ausnahme von der Regelvoraussetzung der Sicherung des Lebensunterhalts gebietet. Das Vorliegen einer Ausnahme unterliegt nicht dem Einschätzungsspielraum der Behörde, sondern ist gerichtlich in vollem Umfang überprüfbar (BVerwG, Urteil vom 13 Juni 2013 - BVerwG 10 C 16/12 -, juris Rn. 16). Sowohl verfassungs-, unions- oder völkerrechtliche Gewährleistungen als auch atypische Umstände des Einzelfalls, die so bedeutsam sind, dass sie das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regelung beseitigen, können eine Ausnahme vom Regelfall rechtfertigen.

Die in Art. 6 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 des Grundgesetzes (GG) enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, nach welcher der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, verpflichtet die Behörden und die Gerichte, bei der Entscheidung über ein Aufenthaltsbegehren die familiären Bindungen des Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, zu berücksichtigen (BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 1987 - 2 BvR 1226/83, 2 BvR 101/84, 2 BvR 313/84 -, juris Rn. 116 ff.). Steht einem Nachzugsbegehren - wie hier - der Schutz der öffentlichen Kassen entgegen, bedarf es im Rahmen des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG einer Abwägung dieses öffentlichen Interesses mit den gegenläufigen privaten Belangen der Familie. Die Entscheidung muss insbesondere den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und des Übermaßverbots entsprechen. Dabei sind alle relevanten Umstände des Einzelfalls einzustellen. Besteht zwischen Eltern und minderjährigen Kindern eine Eltern-Kind-Beziehung oder ist deren Aufnahme beabsichtigt, ist insbesondere zu ermitteln, welche Folgen die Verweigerung eines Aufenthaltsrechts für die Ausübung der Elternverantwortung und für das Wohl der minderjährigen Kinder hätte. Bei der Gewichtung der betroffenen Belange ist auch zu berücksichtigen, ob eine familiäre Lebensgemeinschaft nur im Bundesgebiet verwirklicht werden kann. Ist einem Mitglied der aus Eltern und ihren minderjährigen Kindern gebildeten Kernfamilie ein Aufenthalt im Ausland zur Fortführung der Lebensgemeinschaft nicht möglich oder zumutbar, kommt dem Interesse der Familie, die Lebensgemeinschaft gerade im Bundesgebiet zu führen, besonderes Gewicht zu. In diesem Fall bedarf es für aufenthaltsrechtliche Entscheidungen, die dies verhindern, entsprechend gewichtiger gegenläufiger öffentlicher Belange (BVerwG, Urteil vom 13. Juni 2013 a.a.O. Rn. 21).

Ob bei in Anwendung dieses Maßstabes die Verweigerung eines Visums an die Kläger zu 3. und 4. unverhältnismäßig ist, hängt somit vor allem davon ab, welche Folgen diese Entscheidung für das Wohl der zur Kernfamilie gehörenden Kinder hat und ob die Familie darauf verwiesen werden kann, die angestrebte familiäre Lebensgemeinschaft in Syrien zu führen, oder ob dem Hindernisse oder sonstige erhebliche Belange der Familie entgegenstehen (BVerwG, Urteil vom 13 Juni 2013 a.a.O. Rn. 25). Auch der Zweck der den Eltern erteilten Aufenthaltserlaubnis und ihrem weiteren, einen Kindernachzug vermittelnden (sicheren) Bleiberecht im Bundesgebiet ist zu berücksichtigen (OVG Berlin-Brandenburg, Beschlüsse vom 22. Dezember 2016 - OVG 3 S 98.16 -, juris Rn. 4; und vom 28. September 2016 - OVG 3 S 55.16 -, juris Rn. 3). Einen weitergehenden Schutz der Familie verlangen auch nicht Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), Art. 7 und 24 der GR-Charta (BVerwG, Urteil vom 13. Juni 2013 a.a.O. Rn. 22-24 m.w.N.).

Gemessen daran fällt die Abwägung des öffentlichen Interesses mit den gegenläufigen privaten Belangen der Kläger zu 3. und 4. zu ihren Ungunsten aus. Eine Ausnahme von der Regelerteilungsvoraussetzung der Unterhaltssicherung ist nicht gerechtfertigt. Der Kernfamilie bestehend aus den Klägern zu 1. bis 4. kann zugemutet werden, die familiäre Lebensgemeinschaft wie bisher in Syrien fortzusetzen.

Zwar ist nach den bisherigen Ausführungen nicht davon auszugehen, dass das Bleiberecht der Kläger zu 1. und 2. nach erfolgter Einreise in das Bundesgebiet zeitlich eng begrenzt wäre (vgl. dazu OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 19. Dezember 2018 a.a.O. Rn. 14). Auch wäre dieser Umstand bei einem Verbleib der Kläger zu 3. und 4. im Herkunftsland und der damit verbundenen Trennung von ihren Eltern angesichts ihres geringen Alters von besonderem Gewicht. Zu berücksichtigen ist aber, dass sich die Kläger zu 1. und 2. nach wie vor in Syrien aufhalten. In Anbetracht dessen ist es den Kläger zu 1. bis 4. zuzumuten, ihre familiäre Lebensgemeinschaft in Damaskus fortzusetzen. Die Lebensumstände des Klägers zu 5. sind nicht dergestalt, dass er zwingend auf eine Betreuung der Kläger zu 1. und 2. angewiesen wäre, die nur in der Bundesrepublik erfolgen kann und die es gebieten, dass auch die Kläger zu 3. und 4. ihren Lebensmittelpunkt gemeinsam mit ihren Eltern in das Bundesgebiet verlagern. Der Kläger zu 5. ist volljährig. Er lebt in einer eigenen Wohnung in der Nähe seiner Brüder und absolviert eine Ausbildung. Eine aktuelle Erkrankung besteht nicht. Die in der mündlichen Verhandlung überreichte Überweisung für ein MRT dient ersichtlich allein einer Nachkontrolle im Hinblick auf die im vergangenen Jahr erforderlichen operativen Eingriffe. Dem verständlichen Wunsch des Klägers zu 5. nach einer familiären Begegnungsgemeinschaft mit seinen Eltern und jüngeren Geschwistern kann etwa durch Besuchsaufenthalte im Libanon, wo auch sein Schwager lebt, Rechnung getragen werden. Vor diesem Hintergrund steht ein etwaiger Betreuungsbedarf des Klägers zu 5. in keinem Verhältnis zu dem der Kläger zu 3. und 4. Diese sind angesichts ihres geringen Alters von sechs und zwei Jahren in besonderem Maße auf die Fürsorge der Kläger zu 1. und 2. angewiesen (vgl. insoweit zur Berücksichtigung des Alters des Kindes: BVerwG, Urteil vom 13. Juni 2013 a.a.O. Rn. 32).

Einem Nachzugsanspruch der Kläger zu 3. und 4. nach § 32 AufenthG steht darüber hinaus entgegen, dass ihnen kein ausreichender Wohnraum zur Verfügung steht (§ 29 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG). Der Wohnraum ist nach § 2 Abs. 4 AufenthG als ausreichend anzusehen, wenn er für die Unterbringung Wohnungssuchender in einer öffentlich geförderten Sozialmietwohnung genügen würde, das heißt, wenn er nach der Anzahl der Räume und Wohnfläche dem Wohnraum entspricht, welcher der Familie nach den wohnungsrechtlichen Vorschriften der Länder überlassen werden dürfte (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 25. März 2010 - OVG 3 B 9.08 -, juris Rn. 27). Da im Bundesland Sachsen keine wohnungsaufsichtsrechtlichen Bestimmungen zur Mindestgröße bestehen, ist auf die Verwaltungsvorschrift zu § 2 Abs. 4 AufenthG zurückzugreifen. Diese bestimmt unter Punkt 2.4.2, dass ausreichender Wohnraum - unbeschadet landesrechtlicher Regelungen - stets vorhanden ist, wenn für jedes Familienmitglied über sechs Jahre zwölf Quadratmeter und für jedes Familienmitglied unter sechs Jahre zehn Quadratmeter Wohnfläche zur Verfügung stehen und Nebenräume (Küche, Bad, WC) in angemessenem Umfang mitbenutzt werden können. Die Frage, ob diese Nebenräume in die Berechnung der Wohnfläche mit einzubeziehen sind, bedarf im vorliegenden Fall keiner Entscheidung. Denn selbst wenn man die Wohnung des Klägers zu 5. mit einer Gesamtfläche von 47 qm in die Berechnung einstellt, ist sie nicht geeignet, den Flächenbedarf der fünfköpfigen Familie von rechnerisch 58 qm zu decken. Dies gilt selbst dann, wenn man entsprechend der Verwaltungsvorschrift eine 10%ige Unterschreitung des Wertes als unschädlich ansieht. Der Einwand der Kläger, nach Erteilung der begehrten Visa werde es mit finanzieller Unterstützung der drei weiteren volljährigen Söhne der Kläger zu 1. und 2. möglich sein, eine ausreichend große Wohnung anzumieten, führt zu keiner anderen Bewertung. Das Erfordernis ausreichenden Wohnraums muss als Erteilungsvoraussetzung zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung erfüllt sein (OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 31. Juli 2015 - OVG 7 B 39.14 -, juris Rn. 17).

Über § 29 Abs. 2 AufenthG hinausgehende Ausnahmen von dem Erfordernis ausreichenden Wohnraums aus Härtefallgründen sieht das Gesetz nicht vor. Nach dieser Vorschrift ist von dem Erfordernis ausreichenden Wohnraums gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG für den Nachzug des Ehegatten und des minderjährigen Kindes zu einem Ausländer abzusehen, wenn - neben weiteren Voraussetzungen - der Ausländer im Besitz eines der dort genannten Aufenthaltstitel ist. Als Eltern können die Kläger zu 1. und 2. eine Aufenthaltserlaubnis nach § 36 Abs.1 AufenthG, aber keinen der in § 29 Abs. 2 AufenthG aufgeführten Aufenthaltstitel beanspruchen. Auf eine etwaige Flüchtlingsanerkennung der Kläger zu 1. und 2., die mit einer - insoweit privilegierenden - Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 AufenthG verbunden wäre, können sich die Kläger zu 3. und 4. jedenfalls derzeit nicht berufen. Ein hypothetischer Antrag kann grundsätzlich keine Rechtsposition vermitteln, auf die sich der Betroffene zu seinen Gunsten berufen könnte (OVG Berlin-Brandenburg, Beschlüsse vom 22. Dezember 2016 a.a.O. Rn. 7 und vom 12. Juli 2017 a.a.O. Rn. 5).

Angesichts des insoweit klar eingegrenzten Anwendungsbereichs des § 29 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2 AufenthG kann von der Voraussetzung des ausreichenden Wohnraums auch nicht mit Blick auf Art. 8 EMRK im Wege einer konventionskonformen Auslegung abgesehen werden (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 12. Juli 2017 - OVG 3 S 47.17/ OVG 3 M 83.17 -, juris, Rn. 5 m.w.N.). Es begegnet auch keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, dass das Aufenthaltsgesetz für den Familiennachzug in vorliegender Konstellation nicht die Möglichkeit eröffnet, im Ausnahmefall von dem Erfordernis ausreichenden Wohnraums abzusehen (vgl. ausführlich OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 5. Dezember 2018 a.a.O. und Beschluss vom 12. Juli 2017 - OVG 3 S 47.17/OVG 3 M 83.17 -, juris). Anderes folgt aus dem Urteil des EuGH vom 12. April 2018 schon deshalb nicht, weil sich die dortigen Erwägungen ausschließlich auf den Elternnachzug gemäß Art. 10 Abs. 3 Buchst. a) der Familienzusammenführungsrichtlinie beziehen, nicht aber auf den Kinder- oder Geschwisternachzug.

2. Es besteht auch kein Anspruch auf Familiennachzug zum Kläger zu 5. nach § 36 Abs. 2 AufenthG. Nach dieser Vorschrift kann sonstigen Familienangehörigen eines Ausländers eine Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug erteilt werden, wenn dies zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte erforderlich ist. Der Familiennachzug gemäß § 36 Abs. 2 AufenthG ist auf Fälle einer außergewöhnlichen Härte, das heißt auf seltene Ausnahmefälle beschränkt, in denen die Verweigerung des Aufenthaltsrechts und damit der Familieneinheit im Lichte des Art. 6 Abs. 1 und 2 GG, Art. 8 EMRK grundlegenden Gerechtigkeitsvorstellungen widerspräche, also schlechthin unvertretbar wäre. Eine außergewöhnliche Härte in diesem Sinne setzt grundsätzlich voraus, dass der schutzbedürftige Familienangehörige ein eigenständiges Leben nicht führen kann, sondern auf die Gewährung familiärer Lebenshilfe dringend angewiesen ist, und dass diese Hilfe in zumutbarer Weise nur in Deutschland erbracht werden kann. Ob dies der Fall ist, kann nur unter Berücksichtigung aller im Einzelfall relevanten, auf die Notwendigkeit der Herstellung oder Erhaltung der Familiengemeinschaft bezogenen konkreten Umstände beantwortet werden (BVerwG, Urteil vom 30. Juli 2013 - BVerwG 1 C 15/12 -, juris Rn. 11 ff.; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 27. Februar 2014 - OVG 2 B 12.12 -, juris Rn. 32). Für die Berücksichtigung nicht familienbezogener, die allgemeine Lage im Herkunftsstaat betreffender Gesichtspunkte im Rahmen des Tatbestandsmerkmals der außergewöhnlichen Härte ist grundsätzlich kein Raum (OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 27. Februar 2017 - OVG 3 S 9.17 -, juris Rn. 5). Die Frage der Sicherheitslage insbesondere im Wohnbezirk B... der Kläger zu 1. und 4. ist daher nicht in den Blick zu nehmen. Das Erfordernis des Familiennachzugs muss durch nicht vorhersehbare Umstände begründet worden sein (VG Berlin, Beschluss vom 20. Januar 2017 - VG 12 L 18.17 V -, juris Rn. 9). In Anwendung dieses Maßstabes ist nicht dargelegt worden, dass eine Versagung des Nachzugs der Kläger zu 3. und 4. für sie eine außergewöhnliche Härte darstellen würde. Eine außergewöhnliche Härte wird nicht durch den potentiellen Nachzug beider Eltern, der Kläger zu 1. und 2., in die Bundesrepublik Deutschland und den dadurch entstehenden Betreuungsbedarf für die Kläger zu 3. und 4. in Syrien begründet. Denn dieser Betreuungsbedarf wäre vorhersehbar. Des Weiteren kann ihnen die benötigte Fürsorge auch wie bisher durch die Kläger zu 1. und 2. im Heimatland gewährt werden. Gründe für die Annahme einer außergewöhnlichen Härte in der Person des Klägers zu 5., die einen Nachzug seiner minderjährigen Geschwister gebieten, sind weder vorgetragen, noch sonst ersichtlich. Gleiches gilt im Hinblick darauf, ob die Kläger zu 3. und 4. auf die spezifische familiäre Lebenshilfe ihres Bruders im Bundesgebiet zwingend angewiesen sind. Dessen ungeachtet fehlt es auch insoweit an den Erteilungsvoraussetzungen der Lebensunterhaltssicherung und des ausreichenden Wohnraumes nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG.

3. Die Kläger zu 3. und 4. können ihren Anspruch auch nicht auf § 22 Satz 1 AufenthG stützen. Nach dieser Vorschrift kann einem Ausländer für die Aufnahme aus dem Ausland aus völkerrechtlichen oder dringenden humanitären Gründen eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden. Es handelt sich dabei um keine allgemeine Härtefallregelung, welche Ausländern, die die Voraussetzungen für die Einreise nach anderen Vorschriften nicht erfüllen, die Einreise nach Deutschland ermöglichen kann. Dringende humanitäre Gründe können vielmehr nur in besonders gelagerten Ausnahmefällen angeführt werden. Sie liegen nur dann vor, wenn sich der Ausländer auf Grund besonderer Umstände in einer auf seine Person bezogenen Sondersituation befindet, sich diese Sondersituation deutlich von der Lage vergleichbarer Ausländer unterscheidet, der Ausländer spezifisch auf die Hilfe der Bundesrepublik Deutschland angewiesen ist oder eine besondere Beziehung des Ausländers zur Bundesrepublik Deutschland besteht und die Umstände so gestaltet sind, dass eine baldige Ausreise und Aufnahme unerlässlich sind. Die Aufnahme des Ausländers muss im konkreten Einzelfall ein unabweisbares Gebot der Menschlichkeit sein (OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 8. Januar 2018 - OVG 3 S 109.17 -, juris Rn. 4 m.w.N.). Ein solches Einzelschicksal haben die Kläger weder hinreichend dargetan, noch sind solche Umstände sonst ersichtlich. Die Situation der Kläger zu 3. und 4. unterscheidet sich vielmehr nicht maßgeblich von der Situation anderer Familien, die durch die Ausreise eines Teils der Familie und dessen Aufnahme in die Bundesrepublik Deutschland getrennt sind (vgl. dazu BVerfG, Beschluss vom 11. Oktober 2017 - 2 BvR 1758/17 - a.a.O. Rn. 13).

Sind danach bereits die Tatbestandsvoraussetzungen der hier allein in Betracht kommenden Rechtsgrundlagen nicht erfüllt, scheidet auch ein Anspruch auf Neubescheidung der Visumsanträge der Kläger zu 3. und 4. aus (vgl. § 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO).

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 2 und 3, 155 Abs. 2, 162 Abs. 3 VwGO. Im Hinblick darauf, dass die Kläger mit ihrem Klagebegehren unterschiedlichen Erfolg haben bzw. der Kläger zu 5. seine Klage zurückgenommen hat, bestimmt die Kostentragung sich in Anwendung der sogenannten Baumbach‘schen Formel. Es entspricht der Billigkeit, dass die Beigeladene ihre außergerichtlichen Kosten selbst trägt, da sie keinen Antrag gestellt und sich damit auch keinem Kostenrisiko ausgesetzt hat. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit sowie über die Abwendungsbefugnis beruhen auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 Satz 1 und 2, 709 Satz 2 ZPO. Die Zulassung der Berufung und der Sprungrevision erfolgt gemäß § 124a Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 124 Abs. 2 Nr. 3 und Nr. 4VwGO und § 134 Abs. 2 Satz 1 i. V. m. § 132 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 VwGO wegen grundsätzlicher Bedeutung und die Kammer mit diesem Urteil von einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts abweicht.

BESCHLUSS

Der Wert des Streitgegenstandes wird gemäß §§ 39 ff., 52 f. des Gerichtskostengesetzes auf bis zu 20.000,- Euro festgesetzt.

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