Language of document : ECLI:EU:C:2022:298

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

26. April 2022(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Freizügigkeit – Verordnung (EU) 2016/399 – Schengener Grenzkodex – Art. 25 Abs. 4 – Vorübergehende Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen für eine Gesamthöchstdauer von sechs Monaten – Nationale Regelung, die mehrere aufeinanderfolgende Kontrollzeiträume vorsieht, die zu einer Überschreitung dieser Dauer führen – Unvereinbarkeit einer solchen Regelung mit Art. 25 Abs. 4 des Schengener Grenzkodex, wenn die aufeinanderfolgenden Zeiträume auf dieselbe Bedrohung oder dieselben Bedrohungen gestützt werden – Nationale Regelung, die unter Androhung einer Sanktion das Vorzeigen eines Reisepasses oder Personalausweises bei der Kontrolle an der Binnengrenze vorschreibt – Unvereinbarkeit einer solchen Verpflichtung mit Art. 25 Abs. 4 des Schengener Grenzkodex, wenn die Kontrolle selbst gegen diese Bestimmung verstößt“

In den verbundenen Rechtssachen C‑368/20 und C‑369/20

betreffend Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Landesverwaltungsgericht Steiermark (Österreich) mit Entscheidungen vom 23. Juli 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 5. August 2020, in den Verfahren

NW

gegen

Landespolizeidirektion Steiermark (C‑368/20),

Bezirkshauptmannschaft Leibnitz (C‑369/20)

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Kammerpräsidentin K. Jürimäe, der Kammerpräsidenten C. Lycourgos, E. Regan (Berichterstatter), S. Rodin, I. Jarukaitis und J. Passer, der Richter M. Ilešič, J.‑C. Bonichot, M. Safjan, F. Biltgen, P. G. Xuereb und N. Piçarra sowie der Richterin L. S. Rossi,

Generalanwalt: H. Saugmandsgaard Øe,

Kanzler: D. Dittert, Referatsleiter,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 15. Juni 2021,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von NW, vertreten durch Rechtsanwalt C. Tometten,

–        der österreichischen Regierung, vertreten durch A. Posch, M. Witzmann, J. Schmoll und M. Augustin als Bevollmächtigte,

–        der dänischen Regierung, zunächst vertreten durch M. Søndahl Wolff, J. Nymann-Lindegren und P. Brøchner Jespersen, dann durch M. Søndahl Wolff und V. Jørgensen als Bevollmächtigte,

–        der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und R. Kanitz als Bevollmächtigte,

–        der französischen Regierung, zunächst vertreten durch E. de Moustier, D. Dubois und T. Stéhelin, dann durch D. Dubois und T. Stéhelin als Bevollmächtigte,

–        der schwedischen Regierung, vertreten durch H. Shev, C. Meyer-Seitz, A. Runeskjöld, M. Salborn Hodgson, R. Shahsavan Eriksson und H. Eklinder als Bevollmächtigte,

–         der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Wils und J. Tomkin als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 6. Oktober 2021

folgendes

Urteil

1        Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung der Art. 22, 25 und 29 der Verordnung (EU) 2016/399 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über einen Unionskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) (ABl. 2016, L 77, S. 1, berichtigt in ABl. 2018, L 272, S. 69) in der durch die Verordnung (EU) 2016/1624 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. September 2016 (ABl. 2016, L 251, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Schengener Grenzkodex) sowie von Art. 21 Abs. 1 AEUV und Art. 45 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

2        Diese Ersuchen ergehen im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten zwischen NW und der Landespolizeidirektion Steiermark (Österreich) (C‑368/20) und der Bezirkshauptmannschaft Leibnitz (Österreich) (C‑369/20) über Grenzkontrollen, bei denen der Betroffene in dem einen Fall aufgefordert wurde, einen Reisepass oder einen Personalausweis vorzuzeigen, und in dem anderen, einen Reisepass vorzuzeigen.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

 Richtlinie 2004/38/EG

3        Art. 5 („Recht auf Einreise“) Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. 2004, L 158, S. 77, berichtigt in ABl. 2004, L 229, S. 35) bestimmt:

„Unbeschadet der für die Kontrollen von Reisedokumenten an den nationalen Grenzen geltenden Vorschriften gestatten die Mitgliedstaaten Unionsbürgern, die einen gültigen Personalausweis oder Reisepass mit sich führen, und ihren Familienangehörigen, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und die einen gültigen Reisepass mit sich führen, die Einreise.

…“

 Verordnung (EG) Nr. 562/2006

4        Art. 21 („Kontrollen innerhalb des Hoheitsgebiets“) der Verordnung (EG) Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) (ABl. 2006, L 105, S. 1) bestimmte:

„Die Abschaffung der Grenzkontrollen an den Binnengrenzen berührt nicht:

a)      die Ausübung der polizeilichen Befugnisse durch die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten nach Maßgabe des nationalen Rechts, sofern die Ausübung solcher Befugnisse nicht die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen hat; dies gilt auch in Grenzgebieten. …

…“

 Verordnung (EU) Nr. 1051/2013

5        Die Erwägungsgründe 1 und 2 der Verordnung (EU) Nr. 1051/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2013 zur Änderung der Verordnung Nr. 562/2006 zwecks Festlegung einer gemeinsamen Regelung für die vorübergehende Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen unter außergewöhnlichen Umständen (ABl. 2013, L 295, S. 1) lauteten:

„(1)      Der Aufbau eines Raums, in dem der freie Personenverkehr über die Binnengrenzen hinweg gewährleistet ist, ist eine der größten Errungenschaften der Union. In einem Raum ohne Kontrollen an den Binnengrenzen bedarf es einer gemeinsamen Antwort auf Situationen, die eine ernsthafte Bedrohung für die öffentliche Ordnung oder die innere Sicherheit dieses Raums, [von] Teilen dieses Raums oder eines oder mehrerer ihrer Mitgliedstaaten darstellen, indem die vorübergehende Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen unter außergewöhnlichen Umständen gestattet wird, ohne dass der Grundsatz des freien Personenverkehrs berührt wird. Angesichts der möglichen Auswirkungen derartiger nur als letztes Mittel anzuwendender Maßnahmen auf alle Personen, die innerhalb des Raums ohne Kontrollen an den Binnengrenzen über das Recht auf Freizügigkeit verfügen, müssen die Bedingungen und Verfahren für die Wiedereinführung solcher Maßnahmen festgelegt werden, um sicherzustellen, dass sie eine Ausnahme darstellen und dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt wird. Der Umfang und die Dauer der vorübergehenden Wiedereinführung solcher Maßnahmen sollten auf das zur Bewältigung einer ernsthaften Bedrohung für die öffentliche Ordnung oder die innere Sicherheit unbedingt erforderliche Mindestmaß begrenzt werden.

(2)      Der freie Personenverkehr innerhalb des Raums ohne Kontrollen an den Binnengrenzen ist eine zentrale Errungenschaft der Union. Da der freie Personenverkehr durch die vorübergehende Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen beeinträchtigt wird, sollten Entscheidungen über die Wiedereinführung solcher Kontrollen nach gemeinsam festgelegten Kriterien getroffen und der [Europäischen] Kommission ordnungsgemäß mitgeteilt oder von einem Organ der Union empfohlen werden. In jedem Fall sollte die Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen eine Ausnahme bleiben und nur als letztes Mittel in begrenztem Umfang und für einen befristeten Zeitraum auf der Grundlage bestimmter objektiver Kriterien und einer auf Unionsebene zu überwachenden Bewertung der Notwendigkeit einer derartigen Maßnahme eingesetzt werden. Erfordert eine ernsthafte Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit sofortiges Handeln, so sollten die Mitgliedstaaten die Möglichkeit zur Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen für einen Zeitraum von längstens zehn Tagen haben. Eine Verlängerung dieses Zeitraums sollte auf Unionsebene überwacht werden.“

 Schengener Grenzkodex

6        Die Verordnung Nr. 562/2006 und ihre späteren Änderungen wurden durch den Schengener Grenzkodex kodifiziert und ersetzt.

7        Der 21. Erwägungsgrund des Schengener Grenzkodex lautet:

„In einem Raum, in dem der freie Personenverkehr gewährleistet ist, sollte die Wiedereinführung von Grenzkontrollen an den Binnengrenzen eine Ausnahme bleiben. Grenzkontrollen oder entsprechende Formalitäten, die ausschließlich auf Grund des Überschreitens einer solchen Grenze erfolgen, sollten unterbleiben.“

8        Die Erwägungsgründe 22 und 23 dieses Kodex geben im Wesentlichen die Erwägungsgründe 1 und 2 der Verordnung Nr. 1051/2013 wieder.

9        In den Erwägungsgründen 27 und 34 des Schengener Grenzkodex heißt es:

„(27)      Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs … ist eine Abweichung vom grundlegenden Prinzip der Freizügigkeit eng auszulegen und setzt der Rückgriff auf den Begriff der öffentlichen Ordnung auf jeden Fall voraus, dass eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend schwere Gefährdung vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt.

(34)      Da das Ziel der Verordnung [Nr. 562/2006] und ihrer nachfolgenden Änderungen, nämlich die Festlegung eines Regelwerks für das Überschreiten der Grenzen durch Personen, von den Mitgliedstaaten nicht ausreichend verwirklicht werden konnte, sondern vielmehr auf Unionsebene besser verwirklicht werden konnte, konnte die Union im Einklang mit dem in Artikel 5 [EUV] verankerten Subsidiaritätsprinzip tätig werden. …“

10      Art. 1 („Gegenstand und Grundsätze“) des Schengener Grenzkodex bestimmt:

„Diese Verordnung sieht vor, dass keine Grenzkontrollen in Bezug auf Personen stattfinden, die die Binnengrenzen zwischen den Mitgliedstaaten der Union überschreiten.

…“

11      Art. 22 („Überschreiten der Binnengrenzen“) des Schengener Grenzkodex lautet:

„Die Binnengrenzen dürfen unabhängig von der Staatsangehörigkeit der betreffenden Personen an jeder Stelle ohne Personenkontrollen überschritten werden.“

12      In Art. 23 („Kontrollen innerhalb des Hoheitsgebiets“) des Schengener Grenzkodex heißt es:

„Das Ausbleiben der Grenzkontrollen an den Binnengrenzen berührt nicht:

c)       die den Mitgliedstaaten eingeräumte Möglichkeit, in ihren Rechtsvorschriften die Verpflichtung zum Besitz oder Mitführen von Urkunden und Bescheinigungen vorzusehen;

…“

13      Art. 25 („Allgemeiner Rahmen für die vorübergehende Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen“) des Schengener Grenzkodex sieht vor:

„(1)      Ist im Raum ohne Kontrollen an den Binnengrenzen die öffentliche Ordnung oder die innere Sicherheit in einem Mitgliedstaat ernsthaft bedroht, so ist diesem Mitgliedstaat unter außergewöhnlichen Umständen die Wiedereinführung von Kontrollen an allen oder bestimmten Abschnitten seiner Binnengrenzen für einen begrenzten Zeitraum von höchstens 30 Tagen oder für die vorhersehbare Dauer der ernsthaften Bedrohung, wenn ihre Dauer den Zeitraum von 30 Tagen überschreitet, gestattet. Die vorübergehende Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen darf in Umfang und Dauer nicht über das Maß hinausgehen, das zur Bewältigung der ernsthaften Bedrohung unbedingt erforderlich ist.

(2)      Kontrollen an den Binnengrenzen werden nur als letztes Mittel und im Einklang mit den Artikeln 27, 28 und 29 wiedereingeführt. Wird ein Beschluss zur Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen nach Artikel 27, 28 oder 29 in Betracht gezogen, so sind die in Artikel 26 beziehungsweise 30 genannten Kriterien in jedem einzelnen Fall zu Grunde zu legen.

(3)      Hält die ernsthafte Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit in dem betreffenden Mitgliedstaat über den in Absatz 1 des vorliegenden Artikels genannten Zeitraum hinaus an, so kann dieser Mitgliedstaat die Kontrollen an seinen Binnengrenzen unter Zugrundelegung der in Artikel 26 genannten Kriterien und gemäß Artikel 27 aus den in Absatz 1 des vorliegenden Artikels genannten Gründen und unter Berücksichtigung neuer Umstände für weitere Zeiträume von höchstens 30 Tagen verlängern.

(4)      Der Gesamtzeitraum, innerhalb dessen Kontrollen an den Binnengrenzen wiedereingeführt werden können, einschließlich etwaiger Verlängerungen nach Absatz 3 dieses Artikels, beträgt höchstens sechs Monate. Liegen außergewöhnliche Umstände im Sinne von Artikel 29 vor, so kann dieser Gesamtzeitraum gemäß Artikel 29 Absatz 1 auf eine Höchstdauer von zwei Jahren verlängert werden.“

14      Art. 26 („Kriterien für die vorübergehende Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen“) des Schengener Grenzkodex bestimmt:

„Beschließt ein Mitgliedstaat gemäß Artikel 25 oder Artikel 28 Absatz 1 als letztes Mittel die vorübergehende Wiedereinführung von Kontrollen an einer oder an mehreren seiner Binnengrenzen oder an bestimmten Abschnitten der Binnengrenzen oder eine Verlängerung dieser Wiedereinführung, so bewertet er, inwieweit mit einer derartigen Maßnahme der Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit voraussichtlich angemessen begegnet werden kann und ob die Verhältnismäßigkeit zwischen der Maßnahme und der Bedrohung gewahrt ist. Bei der Durchführung dieser Bewertungen trägt der Mitgliedstaat insbesondere folgenden Gesichtspunkten Rechnung:

a)      den voraussichtlichen Auswirkungen jeglicher Bedrohung seiner öffentlichen Ordnung oder seiner inneren Sicherheit, einschließlich als Folge von terroristischen Zwischenfällen oder Bedrohungen sowie durch organisierte Kriminalität;

b)      den voraussichtlichen Auswirkungen, die diese Maßnahme auf den freien Personenverkehr innerhalb des Raums ohne Kontrollen an den Binnengrenzen haben wird.“

15      In Art. 27 („Bei der vorübergehenden Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen anzuwendendes Verfahren nach Artikel 25“) des Schengener Grenzkodex heißt es:

„(1)      Beabsichtigt ein Mitgliedstaat die Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen nach Artikel 25, so teilt er dies den anderen Mitgliedstaaten und der Kommission spätestens vier Wochen vor der geplanten Wiedereinführung mit, oder innerhalb einer kürzeren Frist, wenn die Umstände, welche die Wiedereinführung der Kontrollen an den Binnengrenzen erfordern, weniger als vier Wochen vor der geplanten Wiedereinführung bekannt werden. Hierzu übermittelt der Mitgliedstaat folgende Angaben:

a)      die Gründe für die geplante Wiedereinführung, einschließlich sämtlicher sachdienlichen Daten zu den Ereignissen, die eine ernsthafte Bedrohung seiner öffentlichen Ordnung oder seiner inneren Sicherheit darstellen;

b)      den Umfang der geplanten Wiedereinführung mit Angabe des Abschnitts/der Abschnitte der Binnengrenzen, an dem/denen die Kontrollen wieder eingeführt werden sollen;

c)      die Bezeichnungen der zugelassenen Grenzübergangsstellen;

d)      den Zeitpunkt und die Dauer der beabsichtigten Wiedereinführung;

e)      gegebenenfalls die von den anderen Mitgliedstaaten zu treffenden Maßnahmen.

(4)      Im Anschluss an die Mitteilung durch den betreffenden Mitgliedstaat nach Absatz 1 und im Hinblick auf die Konsultationen gemäß Absatz 5 kann die Kommission oder jeder andere Mitgliedstaat unbeschadet des Artikels 72 AEUV eine Stellungnahme abgeben.

Hat die Kommission aufgrund der in der Mitteilung enthaltenen Informationen oder aufgrund anderer erhaltener Informationen Bedenken hinsichtlich der Notwendigkeit oder Verhältnismäßigkeit der geplanten Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen oder hält sie eine Konsultation zu bestimmten Aspekten der Mitteilung für zweckmäßig, so gibt sie eine dahingehende Stellungnahme ab.

(5)      Die in Absatz 1 genannten Angaben sowie jegliche Stellungnahme der Kommission oder eines Mitgliedstaats nach Absatz 4 sind Gegenstand einer Konsultation, gegebenenfalls einschließlich gemeinsamer Sitzungen zwischen dem Mitgliedstaat, der die Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen beabsichtigt, den anderen Mitgliedstaaten, insbesondere jenen, die von ... solchen Maßnahmen unmittelbar betroffen sind, und der Kommission; Ziel dieser Konsultationen ist es, gegebenenfalls eine Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten zu organisieren und zu prüfen, ob die Maßnahmen im Verhältnis zu den Ereignissen, die der Anlass für die Wiedereinführung der Grenzkontrollen sind, sowie zur Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit stehen.

…“

16      Art. 28 („Besonderes Verfahren für Fälle, die sofortiges Handeln erfordern“) des Schengener Grenzkodex sieht vor:

„(1)      Ist aufgrund einer ernsthaften Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit in einem Mitgliedstaat sofortiges Handeln erforderlich, so kann der betreffende Mitgliedstaat in Ausnahmefällen für einen begrenzten Zeitraum von höchstens zehn Tagen sofort wieder Kontrollen an den Binnengrenzen einführen.

(3)      Dauert die ernsthafte Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit über den in Absatz 1 dieses Artikels genannten Zeitraum an, so kann der Mitgliedstaat beschließen, die Kontrollen an den Binnengrenzen für verlängerbare Zeiträume von höchstens 20 Tagen zu verlängern. Der betreffende Mitgliedstaat berücksichtigt die in Artikel 26 genannten Kriterien, einschließlich einer aktualisierten Bewertung der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit der Maßnahme, sowie etwaig[e] neue Umstände.

(4)      Unbeschadet des Artikels 25 Absatz 4 beträgt der Gesamtzeitraum, innerhalb dessen Kontrollen an den Binnengrenzen wiedereingeführt werden können, ausgehend vom ursprünglichen Zeitraum nach Absatz 1 des vorliegenden Artikels und etwaiger Verlängerungen nach Absatz 3 des vorliegenden Artikels höchstens zwei Monate.

…“

17      Art. 29 („Besonderes Verfahren im Falle außergewöhnlicher Umstände, unter denen das Funktionieren des Raums ohne Kontrollen an den Binnengrenzen insgesamt gefährdet ist“) des Schengener Grenzkodex bestimmt:

„(1)      Im Falle außergewöhnlicher Umstände, unter denen aufgrund anhaltender schwerwiegender Mängel bei den Kontrollen an den Außengrenzen nach Artikel 21 dieser Verordnung oder aufgrund der Tatsache, dass ein Mitgliedstaat einem Beschluss des Rates [der Europäischen Union] nach Artikel 19 Absatz 1 der [Verordnung 2016/1624] nicht nachkommt, das Funktionieren des Raums ohne Kontrollen an den Binnengrenzen insgesamt gefährdet ist, und soweit diese Umstände eine ernsthafte Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit im Raum ohne Kontrollen an den Binnengrenzen oder in Teilen dieses Raums darstellen, können die Mitgliedstaaten Kontrollen an den Binnengrenzen gemäß Absatz 2 des vorliegenden Artikels für einen Zeitraum von höchstens sechs Monaten wieder einführen. Dieser Zeitraum kann höchstens dreimal um einen weiteren Zeitraum von höchstens sechs Monaten verlängert werden, wenn diese außergewöhnlichen Umstände bestehen bleiben.

(2)      Der Rat kann als letztes Mittel und als Maßnahme zum Schutz der gemeinsamen Interessen im Raum ohne Kontrollen an den Binnengrenzen und wenn alle anderen Maßnahmen, insbesondere diejenigen gemäß Artikel 21 Absatz 1 [der vorliegenden Verordnung], die festgestellte ernsthafte Bedrohung nicht wirksam verringern können, empfehlen, dass ein oder mehrere Mitgliedstaaten beschließen, an allen oder bestimmten Abschnitten ihrer Binnengrenzen Kontrollen wieder einzuführen. Die Empfehlung des Rates stützt sich auf einen Vorschlag der Kommission. Die Mitgliedstaaten können die Kommission ersuchen, dem Rat einen solchen Vorschlag für eine Empfehlung vorzulegen.

Die Empfehlung des Rates enthält zumindest die Angaben nach Artikel 27 Absatz 1 Buchstaben a bis e.

Der Rat kann unter den Bedingungen und Verfahren dieses Artikels eine Verlängerung empfehlen.

Bevor ein Mitgliedstaat nach diesem Absatz Kontrollen an allen oder bestimmten Abschnitten seiner Binnengrenzen wieder einführt, teilt er dies den anderen Mitgliedstaaten, dem Europäischen Parlament und der Kommission mit.

(4)      In hinreichend begründeten Fällen der Dringlichkeit im Zusammenhang mit Situationen, in denen die Umstände, die eine Verlängerung der Kontrollen an den Binnengrenzen im Einklang mit Absatz 2 erfordern, weniger als 10 Tage vor dem Ende des vorherigen Zeitraums der Wiedereinführung bekannt werden, kann die Kommission erforderliche Empfehlungen im Wege sofort geltender Durchführungsrechtsakte gemäß dem in Artikel 38 Absatz 3 genannten Verfahren erlassen. Innerhalb von 14 Tagen nach der Annahme solcher Empfehlungen legt die Kommission dem Rat einen Vorschlag für eine Empfehlung im Einklang mit Absatz 2 dieses Artikels vor.

(5)      Dieser Artikel lässt die Maßnahmen unberührt, die die Mitgliedstaaten im Falle einer ernsthaften Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit nach den Artikeln 25, 27 und 28 erlassen können.“

18      Wie sich aus seiner Überschrift ergibt, enthält Art. 30 des Schengener Grenzkodex die Kriterien für die vorübergehende Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen im Fall außergewöhnlicher Umstände im Sinne von Art. 29 dieses Kodex, unter denen das Funktionieren des Raums ohne Kontrollen an den Binnengrenzen insgesamt gefährdet ist.

 Österreichisches Recht

 Passgesetz

19      Das Bundesgesetz betreffend das Passwesen für österreichische Staatsbürger (Passgesetz 1992) (BGBl. Nr. 839/1992) in seiner auf die Ausgangsrechtsstreitigkeiten anwendbaren Fassung (im Folgenden: Passgesetz) sieht in § 2 Abs. 1 vor:

„Österreichische Staatsbürger … bedürfen zur Ausreise aus dem Bundesgebiet und zur Einreise in dieses eines gültigen Reisedokumentes (Reisepass oder Passersatz), soweit nicht etwas anderes durch zwischenstaatliche Vereinbarungen bestimmt wird oder internationalen Gepflogenheiten entspricht. …“

20      § 24 Abs. 1 dieses Gesetzes bestimmt:

„Wer

1.      rechtswidrig ein- oder ausreist (§ 2),

begeht, sofern die Tat nicht eine gerichtlich strafbare Handlung darstellt, eine Verwaltungsübertretung und ist mit einer Geldstrafe bis zu 2 180 Euro oder mit Freiheitsstrafe bis zu sechs Wochen zu bestrafen. Im Wiederholungsfall sind bei Vorliegen erschwerender Umstände Geldstrafe und Freiheitsstrafe nebeneinander zu verhängen.“

 Grenzkontrollgesetz

21      Das Bundesgesetz über die Durchführung von Personenkontrollen aus Anlass des Grenzübertritts (Grenzkontrollgesetz – GrekoG) (BGBl. Nr. 435/1996) in der auf die Ausgangsrechtsstreitigkeiten anwendbaren Fassung (im Folgenden: Grenzkontrollgesetz) sieht in § 10 („Grenzübertritt“) vor:

„(1)      Die Außengrenze darf, abgesehen von den Fällen, in denen anderes internationalen Gepflogenheiten oder zwischenstaatlichen Vereinbarungen entspricht, nur an Grenzübergangsstellen überschritten werden.

(2)      Die Binnengrenze darf an jeder Stelle überschritten werden. Wenn es zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit geboten erscheint, ist der Bundesminister für Inneres im Rahmen zwischenstaatlicher Vereinbarungen jedoch ermächtigt, durch Verordnung zu bestimmen, dass für einen bestimmten Zeitraum auch bestimmte Abschnitte der Binnengrenze nur an Grenzübergangsstellen überschritten werden dürfen.

…“

22      In § 11 („Grenzkontrollpflicht“) dieses Gesetzes heißt es:

„(1)      Der Grenzübertritt an Grenzübergangsstellen … verpflichte[t] den Betroffenen, sich der Grenzkontrolle zu stellen (Grenzkontrollpflicht).

(2)      Der Grenzübertritt an der Binnengrenze führt mit Ausnahme der Fälle des § 10 Abs. 2 und 3 nicht zur Grenzkontrollpflicht.

…“

23      § 12 („Durchführung der Grenzkontrolle“) Abs. 1 dieses Gesetzes sieht vor:

„Die Grenzkontrolle obliegt der Behörde. Sie ist Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes und der Landespolizeidirektion (§ 12b) vorbehalten, soweit sie durch die Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt zu besorgen ist. …“

24      § 12a („Befugnisse der Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes“) Abs. 1 dieses Gesetzes bestimmt:

„Die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sind ermächtigt, Personen einer Grenzkontrolle zu unterziehen, sofern Grund zur Annahme besteht, dass diese grenzkontrollpflichtig sind …“

 Verordnung Nr. 114/2019 über Grenzkontrollen

25      Die Verordnung des Bundesministers für Inneres über die vorübergehende Wiedereinführung von Grenzkontrollen an den Binnengrenzen vom 9. Mai 2019 (BGBl. II Nr. 114/2019) (im Folgenden: Verordnung Nr. 114/2019 über Grenzkontrollen) lautet:

„Auf Grund des § 10 Abs. 2 des [Grenzkontrollgesetzes] wird verordnet:

§ 1.      Zur Gewährleistung der öffentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit dürfen in der Zeit vom 13. Mai 2019, 00.00 Uhr, bis 13. November 2019, 24.00 Uhr, die Binnengrenzen zur Republik Slowenien und zu Ungarn im Verkehr zu Lande nur an Grenzübergangsstellen überschritten werden.

§ 2.      Diese Verordnung tritt mit Ablauf des 13. November 2019 außer Kraft.“

 Ausgangsverfahren, Vorlagefragen und Verfahren vor dem Gerichtshof

26      Wie sich aus den dem Gerichtshof vorliegenden Informationen ergibt, hat die Republik Österreich seit dem 16. September 2015 Kontrollen an ihren Grenzen zu Ungarn und der Republik Slowenien wiedereingeführt. In den ersten beiden Monaten wurden diese Kontrollen auf Art. 25 der Verordnung Nr. 562/2006 (jetzt Art. 28 des Schengener Grenzkodex) gestützt. Ab dem 16. November 2015 stützte sich die Republik Österreich auf die Art. 23 und 24 der Verordnung Nr. 562/2006 (jetzt Art. 25 und 27 des Schengener Grenzkodex). Ab dem 16. Mai 2016 stützte sich dieser Mitgliedstaat auf vier aufeinanderfolgende Empfehlungen des Rates nach Art. 29 des Schengener Grenzkodex, um diese Kontrollen für weitere 18 Monate durchzuführen. Die vierte dieser Empfehlungen lief am 10. November 2017 aus.

27      Am 12. Oktober 2017 teilte die Republik Österreich den anderen Mitgliedstaaten und mehreren Unionsorganen, darunter der Kommission, eine Wiedereinführung von Kontrollen an ihren Grenzen zu Ungarn und der Republik Slowenien für sechs Monate, für den Zeitraum vom 11. November 2017 bis zum 11. Mai 2018, mit. Diese Kontrollen wurden sodann für mehrere aufeinanderfolgende Zeiträume von sechs Monaten erneut wiedereingeführt, vom 11. Mai bis zum 11. November 2018, dann vom 12. November 2018 bis zum 12. Mai 2019 und vom 13. Mai bis zum 13. November 2019. Weitere Mitteilungen durch diesen Mitgliedstaat erfolgten, um die Kontrollen bis November 2021 wiedereinzuführen.

 Rechtssache C368/20

28      Am 16. November 2019 wurde NW, der Beschwerdeführer des Ausgangsverfahrens, gemäß § 12a Abs. 1 des Grenzkontrollgesetzes einer Grenzkontrolle unterzogen, als er im Begriff war, mit seinem Personenkraftwagen von Slowenien kommend am Grenzübergang Spielfeld (Österreich) nach Österreich einzureisen.

29      Das Grenzkontrollorgan forderte NW auf, sich mittels eines Reisepasses oder Personalausweises auszuweisen. NW fragte dieses Organ, ob es sich um eine Grenzkontrolle oder eine Identitätskontrolle handle. Nachdem er die Auskunft erhalten hatte, dass es sich hierbei um eine Grenzkontrolle handle, verlangte NW die Dienstnummer des Grenzkontrollorgans. Daraufhin wurde NW aufgefordert, zum Straßenrand zu fahren, und ein weiteres Grenzkontrollorgan wurde zur Amtshandlung hinzugezogen. Die Grenzkontrollorgane beendeten die Amtshandlung und teilten NW ihre Dienstnummern mit.

30      Am 19. Dezember 2019 erhob NW Beschwerde gegen die Ausübung unmittelbarer Befehls- und Zwangsgewalt durch die österreichischen Kontrollbehörden an das vorlegende Gericht, das Landesverwaltungsgericht Steiermark (Österreich). Er trägt vor, dass die Vornahme einer Grenzkontrolle nach § 12a Abs. 1 des Grenzkontrollgesetzes einen Akt unmittelbarer Befehls- und Zwangsgewalt darstelle.

31      Das vorlegende Gericht fragt sich, ob die Verordnung Nr. 114/2019 über Grenzkontrollen sowie § 24 Abs. 1 des Passgesetzes, das durch diese Verordnung durchgeführt wird, u. a. im Hinblick auf das in Art. 21 Abs. 1 AEUV und in Art. 45 Abs. 1 der Charta verankerte und durch die Bestimmungen der Richtlinie 2004/38 konkretisierte Freizügigkeitsrecht von Unionsbürgerinnen und Unionsbürgern mit dem Unionsrecht und insbesondere mit den Bestimmungen des Schengener Grenzkodex vereinbar sind.

32      Insbesondere weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Grenzkontrolle grundsätzlich eine nach Art. 22 des Schengener Grenzkodex verbotene Kontrolle sei. Dieser sehe jedoch zwei Ausnahmen von diesem Grundsatz vor. Zum einen sei es nach Art. 25 Abs. 1 dieses Kodex möglich, Kontrollen an den Binnengrenzen wiedereinzuführen, allerdings nur bei einer ernsthaften Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit. Zum anderen könnten die Grenzkontrollen an den Binnengrenzen auch nach Art. 29 Abs. 1 des Schengener Grenzkodex wiedereingeführt werden, allerdings unter der Voraussetzung, dass es anhaltende schwerwiegende Mängel bei den Kontrollen an den Außengrenzen gebe, wodurch das Funktionieren des Raums ohne Kontrollen an den Binnengrenzen und die öffentliche Ordnung oder die innere Sicherheit gefährdet seien.

33      Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass die Vorgehensweise der Republik Österreich, nacheinander verschiedene Ministerialverordnungen zu erlassen, die die Wiedereinführung der Kontrollen an den Binnengrenzen vorsähen, dazu geführt habe, dass diese Wiedereinführung über die in Art. 25 Abs. 4 des Schengener Grenzkodex vorgesehene Höchstdauer von sechs Monaten hinaus fortdauere. Das vorlegende Gericht fragt sich daher, ob diese Vorgehensweise mit dem Unionsrecht und insbesondere mit den Art. 25 und 29 des Schengener Grenzkodex vereinbar ist.

34      Das vorlegende Gericht ist insbesondere der Ansicht, dass sich die Republik Österreich zur Rechtfertigung der Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen zwar zunächst auf Art. 29 des Schengener Grenzkodex gestützt habe, sich jedoch in einem zweiten Schritt, da die Kommission dem Rat nach dem 11. November 2017 keinen weiteren Vorschlag für die Verlängerung der Kontrollen an den Binnengrenzen auf der Grundlage dieses Artikels übermittelt habe, ab diesem Zeitpunkt nur auf Art. 25 Abs. 1 des Schengener Grenzkodex habe stützen können.

35      Folglich fragt sich das vorlegende Gericht, ob es dem Mitgliedstaat, da der Wortlaut von Art. 25 Abs. 4 des Schengener Grenzkodex eine Überschreitung der zulässigen Höchstdauer der Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen ausschließt, freisteht, nacheinander und ohne Unterbrechung Ministerialverordnungen zu erlassen, die die Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen vorsehen, deren Kumulation diese Höchstdauer überschreitet.

36      Das vorlegende Gericht führt aus, dass die durch den Bundesminister für Inneres getätigten Notifikationen an die Kommission über die Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen sich nicht auf Art. 72 AEUV stützten, da in keiner Notifikation auf diese Norm Bezug genommen worden sei. Jedenfalls erscheine es zweifelhaft, ob eine Bezugnahme auf Art. 72 AEUV möglich sei, da die Derogationsbestimmungen des Kodex selbst Ausnahmen im Bereich der Kontrollen an den Binnengrenzen darstellten, die sich auf die öffentliche Ordnung und die innere Sicherheit bezögen und daher als leges speciales zu Art. 72 AEUV zu qualifizieren seien. Die zeitliche Beschränkung der Wiedereinführung von Grenzkontrollen, die durch den Schengener Grenzkodex normiert worden sei, wäre unterminiert, wenn sich ein Mitgliedstaat wiederholt bei Ablauf einer sekundärrechtlich explizit normierten Frist auf Art. 72 AEUV stützen könnte.

37      Unter diesen Umständen hat das Landesverwaltungsgericht Steiermark beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Steht das Unionsrecht innerstaatlichen Rechtsvorschriften entgegen, mit denen durch eine Aneinanderreihung von innerstaatlichen Verordnungen eine Kumulation von Verlängerungszeiträumen erzeugt wird und dadurch die Wiedereinführung von Grenzkontrollen über die zeitlichen Beschränkungen einer Zweijahresfrist gemäß den Art. 25 und 29 des Schengener Grenzkodex hinaus und ohne einen entsprechenden Durchführungsbeschluss des Rates nach Art. 29 dieses Kodex ermöglicht wird?

Für den Fall, dass Frage 1 verneint wird:

2.      Ist das in Art. 21 Abs. 1 AEUV und Art. 45 Abs. 1 der Charta festgelegte Freizügigkeitsrecht von Unionsbürgerinnen und Unionsbürgern, insbesondere im Licht des in Art. 22 des Schengener Grenzkodex niedergelegten Grundsatzes der Abwesenheit von Personenkontrollen an den Binnengrenzen, so auszulegen, dass dieses das Recht umfasst, an den Binnengrenzen keinen Personenkontrollen unterworfen zu werden, vorbehaltlich der in den Verträgen und insbesondere dem obigen Kodex genannten Bedingungen und Ausnahmen?

 Rechtssache C369/20

38      NW wollte bereits am 29. August 2019 über die Grenzübergangsstelle Spielfeld nach Österreich einreisen.

39      Im Zuge von stichprobenartigen Kontrollen wurde NW vom betreffenden Grenzkontrollorgan zum Vorzeigen seines Reisepasses aufgefordert. NW fragte daraufhin, ob es sich um eine Grenzkontrolle oder eine Identitätskontrolle handle. Nach Beantwortung durch das Grenzkontrollorgan, dass es sich um eine Grenzkontrolle handle, weigerte sich NW, seinen Reisepass vorzuzeigen, und wies sich mit seinem Führerschein aus, da er der Meinung war, dass die Grenzkontrollen zu diesem Zeitpunkt unionsrechtswidrig gewesen seien. Auch nach mehrmaliger Aufforderung des Grenzkontrollorgans, seinen Reisepass vorzuzeigen, und Inkenntnissetzung von NW, dass er gegen das Passgesetz verstoße, wies dieser keinen Reisepass vor. Daher beendete das Grenzkontrollorgan die Amtshandlung und teilte NW mit, dass eine Anzeige folgen werde.

40      Der NW zur Last gelegte Tatbestand wurde durch Polizeibeamte der Landespolizeidirektion Steiermark den österreichischen Behörden am 6. September 2019 zur Anzeige gebracht.

41      Mit Strafverfügung vom 9. September 2019 wurde NW die Übertretung von § 2 Abs. 1 des Passgesetzes angelastet. In dem am 23. September 2019 erhobenen Einspruch gegen die Strafverfügung gab NW an, dass die durchgeführte Grenzkontrolle rechtswidrig gewesen sei, da für diese Amtshandlung keine entsprechende Rechtsgrundlage nach Titel III des Schengener Grenzkodex bestehe, und dass diese Kontrolle sowie die Strafverfügung vom 9. September 2019 sein Recht auf Freizügigkeit nach Art. 21 Abs. 1 AEUV in Verbindung mit Art. 22 dieses Grenzkodex verletzt hätten.

42      Mit Straferkenntnis vom 7. November 2019 wurde NW zur Last gelegt, anlässlich einer Einreise in das Bundesgebiet Österreichs die österreichische Bundesgrenze überschritten zu haben, ohne ein gültiges Reisedokument mitzuführen. Aus diesem Grund wurde festgestellt, dass NW gegen § 2 Abs. 1 des Passgesetzes verstoßen habe, und über ihn wurde gemäß § 24 Abs. 1 des Passgesetzes eine Geldstrafe in Höhe von 36 Euro verhängt.

43      Gegen dieses Straferkenntnis erhob NW Beschwerde bei dem vorlegenden Gericht, das sich fragt, ob die Kontrolle von NW und die daraufhin über ihn verhängte Strafe mit dem Unionsrecht vereinbar sind.

44      Insbesondere fragt es sich über die in den Rn. 31 bis 35 des vorliegenden Urteils dargelegten Erwägungen hinaus zum einen, ob die Unionsbürger im Hinblick auf Art. 21 Abs. 1 AEUV und Art. 45 Abs. 1 der Charta das Recht haben, an den Binnengrenzen keinen Kontrollen unterworfen zu werden, wenn eine solche Kontrolle nicht die Voraussetzungen erfüllt und/oder nicht unter die Ausnahmen fällt, die in den Verträgen und insbesondere im Schengener Grenzkodex vorgesehen sind.

45      Zum anderen weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass die Mitgliedstaaten nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs im Urteil vom 21. September 1999, Wijsenbeek (C‑378/97, EU:C:1999:439, Rn. 43 und 44), das Recht behalten, einen Betroffenen im Rahmen einer Identitätskontrolle zur Vorlage eines gültigen Reisepasses oder Personalausweises zu verpflichten und Zuwiderhandlungen gegen diese Verpflichtung mit entsprechenden Sanktionen zu belegen. Allerdings seien nationale Vorschriften, wie § 24 des Passgesetzes, im Einklang mit dem Unionsrecht auszulegen. Insbesondere sei nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs im Urteil vom 10. April 2003, Steffensen (C‑276/01, EU:C:2003:228, Rn. 66 bis 71), darauf zu achten, dass die spezifische Anwendung einer nationalen Vorschrift mit den Grundrechten vereinbar sei.

46      So habe der Gerichtshof im Urteil vom 13. Dezember 2018, Touring Tours und Travel und Sociedad de Transportes (C‑412/17 und C‑474/17, EU:C:2018:1005), entschieden, dass, wenn eine Sanktion die Einhaltung einer Kontrollpflicht sicherstellen solle, die nicht im Einklang mit dem Unionsrecht stehe, die Sanktion ihrerseits mit dem Unionsrecht unvereinbar sei.

47      Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass im vorliegenden Fall die allgemeine Verpflichtung, ein gültiges Reisedokument mitzuführen, durch § 2 Abs. 1 des Passgesetzes normiert sei. Die spezielle Verpflichtung nach § 24 Abs. 1 des Passgesetzes bedeute, dass ein Reisepass nicht nur mitgeführt werden müsse, sondern aufgrund einer dem Unionsrecht entgegenstehenden Grenzkontrolle auch herzuzeigen sei. Das vorlegende Gericht hat aber Zweifel an der Vereinbarkeit einer solchen Verpflichtung mit Art. 21 Abs. 1 AEUV und Art. 45 Abs. 1 der Charta.

48      Unter diesen Umständen hat das Landesverwaltungsgericht Steiermark beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Steht das Unionsrecht innerstaatlichen Rechtsvorschriften entgegen, mit denen durch eine Aneinanderreihung von innerstaatlichen Verordnungen eine Kumulation von Verlängerungszeiträumen erzeugt wird und dadurch die Wiedereinführung von Grenzkontrollen über die zeitlichen Beschränkungen einer Zweijahresfrist gemäß den Art. 25 und 29 des Schengener Grenzkodex hinaus und ohne einen entsprechenden Durchführungsbeschluss des Rates nach Art. 29 dieses Kodex ermöglicht wird?

2.      Ist das in Art. 21 Abs. 1 AEUV und Art. 45 Abs. 1 der Charta festgelegte Freizügigkeitsrecht von Unionsbürgerinnen und Unionsbürgern, insbesondere im Licht des in Art. 22 des Schengener Grenzkodex niedergelegten Grundsatzes der Abwesenheit von Personenkontrollen an den Binnengrenzen, so auszulegen, dass dieses das Recht umfasst, an den Binnengrenzen keinen Personenkontrollen unterworfen zu werden, vorbehaltlich der in den Verträgen und insbesondere dem obigen Kodex genannten Bedingungen und Ausnahmen?

3.      Wenn Frage 2 bejaht wird:

Sind Art. 21 Abs. 1 AEUV und Art. 45 Abs. 1 der Charta im Licht der praktischen Wirksamkeit des Freizügigkeitsrechts dahin gehend auszulegen, dass diese der Anwendung einer nationalen Regelung entgegenstehen, die eine Person bei Androhung einer verwaltungsstrafrechtlichen Sanktion verpflichtet, bei der Einreise über die Binnengrenzen einen Reisepass oder einen Personalausweis vorzuzeigen, auch wenn die spezifische Kontrolle an den Binnengrenzen den Bestimmungen des Unionsrechts entgegensteht?

 Verfahren vor dem Gerichtshof

49      Mit Entscheidung des Präsidenten des Gerichtshofs vom 10. September 2020 sind die Rechtssachen C‑368/20 und C‑369/20 zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren und zu gemeinsamer Entscheidung verbunden worden.

 Zu den Vorlagefragen

 Zur ersten Frage in der Rechtssache C368/20 und zur ersten Frage in der Rechtssache C369/20

50      Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist es im Rahmen des durch Art. 267 AEUV eingeführten Verfahrens der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof Aufgabe des Gerichtshofs, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei diesem anhängigen Rechtsstreits sachdienliche Antwort zu geben. Hierzu hat der Gerichtshof die ihm vorgelegten Fragen gegebenenfalls umzuformulieren (Urteil vom 26. Oktober 2021, PL Holdings, C‑109/20, EU:C:2021:875, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).

51      Nach den dem Gerichtshof vorliegenden Angaben, wie sie in den Rn. 26 und 27 des vorliegenden Urteils dargelegt wurden, führte die Republik Österreich im Jahr 2015 Kontrollen an ihren Grenzen zu Ungarn und der Republik Slowenien wieder ein. Diese Kontrollen wurden mehrfach wiedereingeführt. Die letzte vom vorlegenden Gericht genannte Wiedereinführung ist die bis November 2021 dauernde. Wie aus diesen Angaben hervorgeht, stützte sich die Republik Österreich zur Rechtfertigung der Wiedereinführung dieser Kontrollen je nach dem betreffenden Zeitpunkt auf verschiedene Bestimmungen der Art. 25 bis 29 des Schengener Grenzkodex. Es steht fest, dass die letzte der vier Empfehlungen des Rates nach Art. 29 Abs. 2 des Schengener Grenzkodex, auf die sich dieser Mitgliedstaat zur Rechtfertigung der Wiedereinführung von Kontrollen stützte, am 10. November 2017 auslief. Danach erfolgte die Wiedereinführung der Kontrollen bis November 2021 offenbar auf der Grundlage der Art. 25 und 27 des Schengener Grenzkodex.

52      Somit wurden die beiden Kontrollmaßnahmen gegen NW vom 29. August bzw. 16. November 2019, deren Rechtmäßigkeit im Rahmen der Ausgangsverfahren in Abrede gestellt wird, nicht auf die vom Rat nach Art. 29 des Schengener Grenzkodex angenommenen Empfehlungen, sondern auf die Art. 25 und 27 dieses Kodex gestützt. Zu den Zeitpunkten, zu denen diese Kontrollmaßnahmen erfolgten, hatte die von der Republik Österreich auf die Art. 25 und 27 des Schengener Grenzkodex gestützte Wiedereinführung von Kontrollen an ihrer Grenze zur Republik Slowenien indessen die in Art. 25 Abs. 4 dieses Kodex für die Wiedereinführung von Kontrollen gemäß den Art. 25 und 27 vorgesehene Gesamthöchstdauer von sechs Monaten bereits überschritten.

53      Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit der ersten Frage in der Rechtssache C‑368/20 und der ersten Frage in der Rechtssache C‑369/20 wissen möchte, ob Art. 25 Abs. 4 des Schengener Grenzkodex dahin auszulegen ist, dass er einer vorübergehenden Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen auf der Grundlage der Art. 25 und 27 dieses Kodex entgegensteht, wenn diese Wiedereinführung, die sich aus der aufeinanderfolgenden Anwendung der in Art. 25 des Schengener Grenzkodex vorgesehenen Zeiträume ergibt, die in Art. 25 Abs. 4 festgelegte Gesamthöchstdauer von sechs Monaten überschreitet.

54      Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass Art. 25 des Schengener Grenzkodex, der sich mit den Art. 26 bis 35 in Titel III Kapitel II („Vorübergehende Wiedereinführung von Grenzkontrollen an den Binnengrenzen“) dieses Kodex befindet, den allgemeinen Rahmen für eine solche Wiedereinführung bei einer ernsthaften Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit in einem Mitgliedstaat vorsieht und u. a. Höchstzeiten festlegt, innerhalb deren solche Kontrollen wiedereingeführt werden können. Insbesondere ist einem Mitgliedstaat nach Art. 25 Abs. 1 des Schengener Grenzkodex unter außergewöhnlichen Umständen die Wiedereinführung solcher Kontrollen für einen begrenzten Zeitraum von höchstens 30 Tagen oder für die vorhersehbare Dauer dieser Bedrohung, wenn ihre Dauer den Zeitraum von 30 Tagen überschreitet, gestattet. In jedem Fall darf die Dauer der vorübergehenden Wiedereinführung dieser Kontrollen nicht über das Maß hinausgehen, das zur Bewältigung dieser Bedrohung unbedingt erforderlich ist. Nach Art. 25 Abs. 3 des Schengener Grenzkodex kann der Mitgliedstaat diese Kontrollen für weitere Zeiträume von höchstens 30 Tagen verlängern, wenn die betreffende Bedrohung anhält. Schließlich darf zwar nach Art. 25 Abs. 4 des Schengener Grenzkodex der Gesamtzeitraum der Wiedereinführung solcher Kontrollen – einschließlich etwaiger Verlängerungen nach Abs. 3 dieses Artikels – höchstens sechs Monate betragen, doch kann dieser Gesamtzeitraum auf zwei Jahre verlängert werden, wenn außergewöhnliche Umstände im Sinne von Art. 29 des Schengener Grenzkodex vorliegen.

55      NW und die Kommission tragen vor, die Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen nach den Art. 25 und 27 des Schengener Grenzkodex für einen Zeitraum, der über die in Art. 25 Abs. 4 dieses Kodex vorgesehene Höchstdauer von sechs Monaten hinausgehe, führe zwangsläufig zur Unvereinbarkeit dieser Kontrollen mit dem Unionsrecht. Nur eine ihrem Wesen nach neue ernsthafte Bedrohung könne eine erneute Anwendung von Art. 25 und folglich die erneute Anwendung der in dieser Bestimmung für Kontrollen an den Binnengrenzen vorgesehenen Zeiträume rechtfertigen. Die französische und die schwedische Regierung machen geltend, dass eine neue ernsthafte Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit zu einer erneuten Anwendung dieser Zeiträume führen könne, doch ist die französische Regierung, ebenso wie die österreichische und die dänische Regierung, auch der Ansicht, dass eine Neubewertung der früheren Bedrohung auch eine neue Anwendung der einschlägigen Vorschriften ermöglichen müsse. Schließlich trägt die deutsche Regierung vor, die Mitgliedstaaten müssten die Möglichkeit haben, unmittelbar unter Rückgriff auf Art. 72 AEUV von diesen Zeiträumen abzuweichen.

56      Nach ständiger Rechtsprechung sind bei der Auslegung einer unionsrechtlichen Vorschrift nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Kontext und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (Urteil vom 12. Mai 2021, Bundesrepublik Deutschland [Red Notice, Interpol], C‑505/19, EU:C:2021:376, Rn. 77 und die dort angeführte Rechtsprechung).

57      Was zunächst den Wortlaut von Art. 25 Abs. 4 des Schengener Grenzkodex betrifft, ist festzustellen, dass die Wendung „beträgt höchstens sechs Monate“ darauf hindeutet, dass jede Möglichkeit einer Überschreitung dieser Dauer ausgeschlossen ist.

58      Was sodann den Kontext betrifft, in den sich Art. 25 Abs. 4 des Schengener Grenzkodex einfügt, und zwar erstens hinsichtlich der übrigen Bestimmungen dieses Artikels, ist zum einen darauf hinzuweisen, dass Art. 25 des Schengener Grenzkodex die Höchstdauer sowohl für die ursprüngliche Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen als auch für jede Verlängerung dieser Kontrollen, einschließlich der für solche Kontrollen geltenden Gesamthöchstdauer, klar und präzise festlegt.

59      Aus dem ersten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1051/2013, mit der die später in Art. 25 Abs. 4 des Schengener Grenzkodex übernommene Regel über die Höchstdauer von sechs Monaten in die Verordnung Nr. 562/2006 eingefügt wurde, geht nämlich hervor, dass der Unionsgesetzgeber die Bedingungen und Verfahren für die vorübergehende Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen festlegen wollte, um sicherzustellen, dass diese Maßnahmen eine Ausnahme darstellen und dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt wird. Dieser erste Erwägungsgrund wird im 22. Erwägungsgrund des Schengener Grenzkodex übernommen.

60      Zum anderen ist darauf hinzuweisen, dass der betreffende Mitgliedstaat nach Art. 25 Abs. 3 des Schengener Grenzkodex diese Kontrollen aus den Gründen, die die ursprüngliche Wiedereinführung gerechtfertigt haben, und unter Berücksichtigung neuer Umstände für weitere Zeiträume von höchstens 30 Tagen verlängern kann, wenn die ursprüngliche ernsthafte Bedrohung über den in Art. 25 Abs. 1 dieses Grenzkodex genannten Zeitraum von 30 Tagen hinaus anhält.

61      Daraus folgt, dass aufgrund der ausdrücklichen Bezugnahme auf Art. 25 Abs. 3 des Schengener Grenzkodex in Abs. 4 dieses Artikels die aufeinanderfolgenden Verlängerungen der auf der Grundlage von Art. 25 Abs. 3 dieses Grenzkodex beschlossenen Kontrollen eine Gesamtdauer von sechs Monaten nicht überschreiten dürfen. Ebenso kann die ursprüngliche Höchstdauer von Kontrollen an den Binnengrenzen, wenn sie nach Maßgabe der vorhersehbaren Dauer der ernsthaften Bedrohung gemäß Art. 25 Abs. 1 des Schengener Grenzkodex bestimmt wird, zwar 30 Tage überschreiten, ohne jedoch sechs Monate überschreiten zu können; andernfalls wären die Verwendung des Wortbestandteils „Gesamt-“ in Art. 25 Abs. 4 und die in diesem Absatz vorgenommene Bezugnahme auf Abs. 3 sinnlos.

62      Insoweit ist klarzustellen, dass sich ein Mitgliedstaat zwar auf „neue Umstände“ im Sinne von Art. 25 Abs. 3 des Schengener Grenzkodex berufen kann, um die Verlängerung von Kontrollen an den Binnengrenzen für weitere Zeiträume von höchstens 30 Tagen zu rechtfertigen, dass diese Umstände jedoch in unmittelbarem Zusammenhang mit der Bedrohung stehen müssen, die ursprünglich die Wiedereinführung von Kontrollen gerechtfertigt hat, da die Verlängerung der Kontrollen nach dem Wortlaut dieser Bestimmung „aus den in Absatz 1 des [Art. 25 des Schengener Grenzkodex] genannten Gründen“ vorzunehmen ist.

63      Zweitens ist festzustellen, dass Art. 25 des Schengener Grenzkodex, soweit er die Möglichkeit der Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen der Union vorsieht, im Hinblick auf die allgemeine Systematik dieses Kodex eine Ausnahme von dem in Art. 22 dieses Kodex vorgesehenen Grundsatz darstellt, wonach die Binnengrenzen unabhängig von der Staatsangehörigkeit der betreffenden Personen an jeder Stelle ohne Personenkontrollen überschritten werden dürfen. Nach seinem Art. 1 sieht der Schengener Grenzkodex nämlich gerade vor, dass keine Grenzkontrollen in Bezug auf Personen stattfinden, die die Binnengrenzen zwischen den Mitgliedstaaten der Union überschreiten.

64      Wie der Gerichtshof entschieden hat und wie im 27. Erwägungsgrund des Schengener Grenzkodex ausgeführt wird, sind Ausnahmen und Abweichungen von der Freizügigkeit eng auszulegen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 3. Juni 1986, Kempf, 139/85, EU:C:1986:223, Rn. 13, und vom 10. Juli 2008, Jipa, C‑33/07, EU:C:2008:396, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).

65      Vor diesem Hintergrund heißt es in den Erwägungsgründen 21 bis 23 des Schengener Grenzkodex, dass in einem Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Personenverkehr gewährleistet ist und der eine der größten Errungenschaften der Union nach Art. 3 Abs. 2 EUV darstellt, die Wiedereinführung von Grenzkontrollen an den Binnengrenzen eine Ausnahme bleiben und nur als letztes Mittel eingesetzt werden sollte.

66      Der Umstand, dass Art. 25 des Schengener Grenzkodex somit eng auszulegen ist, spricht gegen eine Auslegung von Art. 25 Abs. 4 dieses Kodex, wonach das Anhalten der ursprünglich festgestellten Bedrohung, selbst wenn sie anhand neuer Umstände beurteilt wird oder die Notwendigkeit und die Verhältnismäßigkeit der zur Bewältigung dieser Bedrohung eingerichteten Kontrollen im Hinblick auf Art. 25 Abs. 1 a. E. des Schengener Grenzkodex neu bewertet werden, ausreicht, um die Wiedereinführung dieser Kontrollen über den in Art. 25 Abs. 4 des Schengener Grenzkodex vorgesehenen Zeitraum von höchstens sechs Monaten hinaus zu rechtfertigen. Eine solche Auslegung liefe nämlich darauf hinaus, in der Praxis die Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen wegen derselben Bedrohung für unbestimmte Zeit zu erlauben und damit den Grundsatz der Abwesenheit von Kontrollen an den Binnengrenzen, wie er in Art. 3 Abs. 2 EUV verankert ist und in Art. 67 Abs. 2 AEUV wiederholt wird, zu beeinträchtigen.

67      Drittens ist in Bezug auf die anderen Bestimmungen in Titel III Kapitel II des Schengener Grenzkodex zum einen festzustellen, dass für die vorübergehende Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen nach Art. 25 des Schengener Grenzkodex die Art der vorzunehmenden Bewertung und das zu befolgende Verfahren in dessen Art. 26 bis 28 detailliert geregelt sind.

68      Aus den Art. 26 und 27 des Schengener Grenzkodex geht u. a. hervor, dass sowohl die Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen nach Art. 25 dieses Kodex als auch jede Verlängerung dieser Kontrollen zum einen im Hinblick auf die festgestellte Bedrohung erforderlich und verhältnismäßig sein muss und zum anderen die im Schengener Grenzkodex ausdrücklich vorgesehenen detaillierten Kriterien und Verfahrensvorschriften beachten muss, was nahelegt, dass, wenn eine bloße Neubewertung im Hinblick auf diese Kriterien der Erforderlichkeit und der Verhältnismäßigkeit ausreichen würde, um die Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen nach diesem Art. 25 über einen Zeitraum von sechs Monaten hinaus zu rechtfertigen, der Unionsgesetzgeber dies ausdrücklich vorgesehen hätte.

69      Diese Auslegung des Schengener Grenzkodex wird auch durch seinen 23. Erwägungsgrund gestützt, wonach wegen des Umstands, dass der freie Personenverkehr durch die vorübergehende Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen beeinträchtigt wird, Entscheidungen über die Wiedereinführung solcher Kontrollen nach bestimmten, gemeinsam festgelegten objektiven Kriterien getroffen werden sollten. Die Verlängerung von nach Art. 25 des Schengener Grenzkodex wiedereingeführten Kontrollen an den Binnengrenzen über die in dessen Art. 25 Abs. 4 ausdrücklich vorgesehene Höchstdauer hinaus ist nämlich schwer mit der gemeinsamen Festlegung klarer und objektiver Kriterien für eine solche Wiedereinführung vereinbar.

70      Zum anderen würde eine Auslegung von Art. 25 des Schengener Grenzkodex dahin, dass ein Mitgliedstaat im Fall einer Bedrohung im Sinne von Art. 25 Abs. 1 dieses Kodex die in Abs. 4 dieses Artikels für Grenzkontrollen an den Binnengrenzen vorgesehene Gesamtdauer von sechs Monaten überschreiten könnte, der vom Unionsgesetzgeber getroffenen Unterscheidung zwischen den Kontrollen an den Binnengrenzen, die nach diesem Artikel wiedereingeführt werden, und solchen, die unter außergewöhnlichen Umständen, unter denen das Funktionieren des Raums ohne Kontrollen an den Binnengrenzen insgesamt gefährdet ist, im Sinne von Art. 29 des Schengener Grenzkodex wiedereingeführt werden, den Sinn nehmen, da für die letztgenannten Kontrollen ausdrücklich eine längere Höchstdauer von zwei Jahren vorgesehen ist. Nach einer solchen Auslegung könnten nämlich nach Art. 25 des Schengener Grenzkodex wiedereingeführte Kontrollen an den Binnengrenzen für einen unbegrenzten Zeitraum verlängert werden, der demnach zwei Jahre übersteigen könnte, obwohl die besonderen Umstände und Kriterien der Art. 29 und 30 dieses Kodex nicht vorlägen bzw. nicht erfüllt wären. Im Übrigen steht Art. 25 Abs. 4 letzter Satz des Schengener Grenzkodex einer solchen Auslegung entgegen, da er vorsieht, dass die Höchstdauer der Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen nach Art. 29 des Schengener Grenzkodex auf zwei Jahre verlängert werden kann und nicht nach Art. 25 des Schengener Grenzkodex.

71      Allerdings hindert die Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen für eine Höchstdauer von zwei Jahren nach Art. 29 des Schengener Grenzkodex den betreffenden Mitgliedstaat nicht daran, im Fall einer neuen ernsthaften Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit unmittelbar nach Ablauf dieser zwei Jahre Kontrollen nach Art. 25 des Schengener Grenzkodex für eine Höchstdauer von sechs Monaten wiedereinzuführen, sofern die in dieser Bestimmung vorgesehenen Voraussetzungen erfüllt sind. Wie sich nämlich aus Art. 29 Abs. 5 des Schengener Grenzkodex ergibt, lässt dessen Art. 29 die Maßnahmen unberührt, die die Mitgliedstaaten im Fall einer ernsthaften Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit nach den Art. 25, 27 und 28 erlassen können.

72      Was schließlich das mit Art. 25 Abs. 4 des Schengener Grenzkodex und diesem Grenzkodex selbst verfolgte Ziel betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass sich dieser Kodex in den allgemeineren Rahmen des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts einfügt, in dem in Verbindung mit geeigneten Maßnahmen in Bezug insbesondere auf die Kontrollen an den Außengrenzen nach Art. 3 Abs. 2 EUV und Art. 67 Abs. 2 AEUV der freie Personenverkehr gewährleistet ist (vgl. entsprechend Urteil vom 5. Februar 2020, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Anmustern von Seeleuten im Hafen von Rotterdam], C‑341/18, EU:C:2020:76, Rn. 55 und die dort angeführte Rechtsprechung). Mit diesem Rahmen soll ein angemessenes Gleichgewicht gewahrt werden zwischen der Freizügigkeit einerseits und der Notwendigkeit, die öffentliche Ordnung und die innere Sicherheit des Gebiets sicherzustellen, in dem sich die betreffenden Personen bewegen, andererseits.

73      Zunächst verpflichtet nämlich Art. 26 des Schengener Grenzkodex den Mitgliedstaat, der nach Art. 25 dieses Kodex Kontrollen an den Binnengrenzen wiedereinführen möchte, im Rahmen seiner Bewertung, ob die Verhältnismäßigkeit zwischen diesen Kontrollen und der festgestellten Bedrohung gewahrt ist, insbesondere den voraussichtlichen Auswirkungen jeglicher Bedrohung seiner öffentlichen Ordnung oder seiner inneren Sicherheit und den voraussichtlichen Auswirkungen solcher Kontrollen auf den freien Personenverkehr innerhalb des Raums ohne Kontrollen an den Binnengrenzen Rechnung zu tragen.

74      Dann wird im 22. Erwägungsgrund des Schengener Grenzkodex hervorgehoben, dass der Aufbau eines Raums, in dem der freie Personenverkehr ohne Kontrollen an den Binnengrenzen gewährleistet ist, eine der größten Errungenschaften der Union ist und dass es in diesem Raum einer gemeinsamen Antwort auf Situationen bedarf, die eine ernsthafte Bedrohung für die öffentliche Ordnung oder die innere Sicherheit darstellen, indem die vorübergehende Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen unter außergewöhnlichen Umständen gestattet wird, ohne dass der Grundsatz des freien Personenverkehrs berührt wird. In diesem Erwägungsgrund wird auch erläutert, dass die Festlegung der Bedingungen und Verfahren für die Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen sicherstellen soll, dass diese eine Ausnahme darstellen und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt wird, wodurch gewährleistet wird, dass die Dauer der vorübergehenden Wiedereinführung solcher Kontrollen auf das zur Bewältigung einer ernsthaften Bedrohung für die öffentliche Ordnung oder die innere Sicherheit unbedingt erforderliche Mindestmaß beschränkt wird.

75      Schließlich ergibt sich aus dem zweiten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1051/2013, dass die Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen u. a. für einen befristeten Zeitraum auf der Grundlage bestimmter objektiver Kriterien erfolgen sollte. Dieselben Erwägungen finden sich nunmehr im 23. Erwägungsgrund des Schengener Grenzkodex.

76      Das Ziel, das mit der in Art. 25 Abs. 4 des Schengener Grenzkodex vorgesehenen Regel betreffend die Höchstdauer von sechs Monaten verfolgt wird, ist somit als Fortführung dieses allgemeinen Ziels anzusehen, das darin besteht, den Grundsatz des freien Personenverkehrs mit dem Interesse der Mitgliedstaaten an der Gewährleistung der Sicherheit ihres Hoheitsgebiets in Einklang zu bringen.

77      Demnach trifft es zwar zu, dass eine ernsthafte Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit eines Mitgliedstaats im Raum ohne Kontrollen an den Binnengrenzen nicht zwangsläufig zeitlich begrenzt ist, doch hat der Unionsgesetzgeber offensichtlich einen Zeitraum von sechs Monaten für ausreichend gehalten, damit der betreffende Mitgliedstaat gegebenenfalls in Zusammenarbeit mit anderen Mitgliedstaaten Maßnahmen erlässt, mit denen einer solchen Bedrohung begegnet werden kann, und dabei nach Ablauf dieses Zeitraums von sechs Monaten der freie Personenverkehr gewahrt bleibt.

78      In Anbetracht der Erwägungen in den Rn. 57 bis 77 des vorliegenden Urteils ist davon auszugehen, dass der in Art. 25 Abs. 4 des Schengener Grenzkodex für die Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen vorgesehene Gesamtzeitraum von höchstens sechs Monaten zwingend ist, so dass seine Überschreitung zwangsläufig dazu führt, dass alle nach Ablauf dieses Zeitraums gemäß den Art. 25 und 27 dieses Kodex wiedereingeführten Kontrollen an den Binnengrenzen mit dem Schengener Grenzkodex unvereinbar sind.

79      Aus diesen Erwägungen ergibt sich auch, dass ein solcher Zeitraum nur dann erneut angewandt werden kann, wenn der betreffende Mitgliedstaat nachweisen kann, dass eine neue ernsthafte Bedrohung für seine öffentliche Ordnung oder seine innere Sicherheit vorliegt. In diesem Fall kann davon ausgegangen werden, dass neue Zeiträume von bestimmter Dauer im Sinne von Art. 25 des Schengener Grenzkodex zu laufen beginnen, sofern dieser Mitgliedstaat alle in den Art. 26 bis 28 dieses Kodex vorgesehenen Kriterien und Verfahrensvorschriften beachtet.

80      Was die Voraussetzungen angeht, unter denen davon ausgegangen werden kann, dass eine bestimmte Bedrohung im Vergleich zu einer Bedrohung, die zuvor die Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen auf der Grundlage von Art. 25 des Schengener Grenzkodex gerechtfertigt hat, neu ist, ist darauf hinzuweisen, dass in Art. 27 Abs. 1 des Schengener Grenzkodex für den Fall, dass der betreffende Mitgliedstaat den anderen Mitgliedstaaten und der Kommission seine Absicht mitteilt, Kontrollen an den Binnengrenzen wiedereinzuführen, u. a. Bezug genommen wird auf „die Umstände, welche die Wiedereinführung der Kontrollen an den Binnengrenzen erfordern“, und „[Ereignisse], die eine ernsthafte Bedrohung“ der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit dieses Mitgliedstaats darstellen. Art. 27 Abs. 5 des Schengener Grenzkodex nimmt ebenso auf die „[Ereignisse], die der Anlass für die Wiedereinführung der Grenzkontrollen sind“, Bezug.

81      Daher ist stets im Hinblick auf diese Umstände und Ereignisse zu beurteilen, ob nach Ablauf des in Art. 25 Abs. 4 des Schengener Grenzkodex vorgesehenen Höchstzeitraums von sechs Monaten die Bedrohung, der sich dieser Mitgliedstaat ausgesetzt sieht, gleich bleibt oder ob es sich um eine neue Bedrohung handelt, die es dem Mitgliedstaat ermöglicht, unmittelbar nach Ablauf dieses Zeitraums von sechs Monaten die Kontrollen an den Binnengrenzen so fortzusetzen, dass dieser neuen Bedrohung begegnet wird. Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass, wie die Kommission im Wesentlichen geltend macht, das Auftreten einer neuen Bedrohung, die sich von der ursprünglich festgestellten unterscheidet, eine erneute Anwendung der in Art. 25 dieses Kodex für die Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen vorgesehenen Zeiträume rechtfertigen kann, sofern die übrigen maßgeblichen Voraussetzungen erfüllt sind.

82      Im vorliegenden Fall scheint die Republik Österreich – wie die Kommission geltend macht, was aber vom vorlegenden Gericht zu prüfen sein wird – seit dem 10. November 2017, dem Tag des Ablaufs der letzten der vier auf der Grundlage von Art. 29 des Schengener Grenzkodex angenommenen Empfehlungen des Rates, nicht nachgewiesen zu haben, dass eine neue Bedrohung nach Art. 25 des Schengener Grenzkodex vorliegt, die es gerechtfertigt hätte, die in diesem Artikel vorgesehenen Fristen erneut in Gang zu setzen, und die es somit ermöglicht hätte, davon auszugehen, dass die beiden Kontrollmaßnahmen gegenüber NW vom 29. August 2019 bzw. vom 16. November 2019 innerhalb der in Art. 25 Abs. 4 dieses Kodex vorgesehenen Gesamthöchstdauer von sechs Monaten durchgeführt wurden.

83      Diese Erwägungen werden durch das Vorbringen der deutschen Regierung nicht in Frage gestellt, wonach sich die Mitgliedstaaten, wenn außergewöhnliche Umstände dies rechtfertigten, auf Art. 72 AEUV berufen könnten, um von den Bestimmungen des Schengener Grenzkodex abzuweichen, die eine Gesamthöchstdauer für die Wiedereinführung von vorübergehenden Kontrollen an den Binnengrenzen festlegten.

84      Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist es zwar allein Sache der Mitgliedstaaten, ihre wesentlichen Sicherheitsinteressen festzulegen und die geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, um ihre innere und äußere Sicherheit zu gewährleisten, doch kann die bloße Tatsache, dass eine nationale Maßnahme, wie eine Entscheidung über Kontrollen an den Binnengrenzen, zum Schutz der nationalen Sicherheit getroffen wurde, nicht dazu führen, dass das Unionsrecht unanwendbar ist und die Mitgliedstaaten von der erforderlichen Beachtung dieses Rechts entbunden werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Juli 2021, Ministrstvo za obrambo, C‑742/19, EU:C:2021:597, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung). Das Gleiche muss für nationale Maßnahmen gelten, die zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung eines Mitgliedstaats erlassen werden.

85      Was konkret Art. 72 AEUV betrifft, sieht diese Bestimmung zwar vor, dass Titel V des AEU-Vertrags die Wahrnehmung der Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit nicht berührt.

86      Der AEU-Vertrag sieht jedoch, wie der Gerichtshof entschieden hat, ausdrückliche Abweichungen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit nur in seinen Art. 36, 45, 52, 65, 72, 346 und 347 vor, die ganz bestimmte außergewöhnliche Fälle betreffen. Die in Art. 72 AEUV vorgesehene Ausnahme ist eng auszulegen, wie es ständiger Rechtsprechung entspricht. Daraus folgt, dass Art. 72 AEUV nicht dahin ausgelegt werden kann, dass er die Mitgliedstaaten ermächtigt, durch bloße Berufung auf ihre Zuständigkeiten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit von den Bestimmungen des Unionsrechts abzuweichen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Dezember 2020, Kommission/Ungarn [Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen], C‑808/18, EU:C:2020:1029, Rn. 214 und 215 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

87      Was den Schengener Grenzkodex betrifft, ergibt sich aus den Erwägungen in den Rn. 72 bis 77 des vorliegenden Urteils, dass die Entscheidung, die in Art. 25 Abs. 4 dieses Kodex niedergelegte Gesamthöchstdauer von sechs Monaten vorzusehen, die bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände im Sinne von Art. 29 dieses Kodex auf eine Höchstdauer von zwei Jahren verlängert werden kann, Teil des umfassenden Rahmens ist, den der Unionsgesetzgeber in Ausübung der ihm durch Art. 3 Abs. 2 und 6 EUV in Verbindung mit Art. 5 Abs. 1 und 2 EUV sowie Art. 4 Abs. 2 Buchst. j und Art. 77 Abs. 2 Buchst. b und e AEUV übertragenen Zuständigkeiten in Bezug auf die Modalitäten für die Ausübung der Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit festgelegt hat.

88      Mit diesem Rahmen soll gerade ein angemessenes Gleichgewicht, wie es in Art. 3 Abs. 2 EUV in Aussicht genommen wird, zwischen einerseits dem Ziel der Union, einen Raum ohne Binnengrenzen zu schaffen, in dem der freie Personenverkehr gewährleistet ist, und andererseits geeigneten Maßnahmen in Bezug auf die Kontrollen an den Außengrenzen, das Asyl, die Einwanderung sowie die Verhütung und Bekämpfung der Kriminalität sichergestellt werden.

89      In Anbetracht der grundlegenden Bedeutung, die dem freien Personenverkehr unter den in Art. 3 EUV genannten Zielen der Union zukommt, und der Erwägungen in den Rn. 58 bis 77 des vorliegenden Urteils zur detaillierten Art und Weise, in der der Unionsgesetzgeber die Möglichkeit der Mitgliedstaaten, in diese Freiheit durch die vorübergehende Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen einzugreifen, eingegrenzt hat und die von dem Willen zeugt, die verschiedenen in Rede stehenden Interessen gegeneinander abzuwägen, ist folglich davon auszugehen, dass der Unionsgesetzgeber der Ausübung der Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten im Bereich der öffentlichen Ordnung und der inneren Sicherheit gebührend Rechnung getragen hat, indem er die in Art. 25 Abs. 4 des Schengener Grenzkodex niedergelegte Regel über die Gesamthöchstdauer von sechs Monaten vorgesehen hat.

90      Daraus folgt, dass Art. 72 AEUV es einem Mitgliedstaat nicht erlaubt, für einen Zeitraum, der über die in Art. 25 Abs. 4 des Schengener Grenzkodex ausdrücklich vorgesehene Höchstdauer von sechs Monaten hinausgeht, vorübergehende Kontrollen an den Binnengrenzen, die auf die Art. 25 und 27 des Schengener Grenzkodex gestützt sind, wiedereinzuführen, um einer ernsthaften Bedrohung seiner öffentlichen Ordnung oder seiner inneren Sicherheit zu begegnen.

91      Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass die Kommission nach Art. 27 Abs. 4 des Schengener Grenzkodex, wenn sie aufgrund der in der Mitteilung, die sie von einem Mitgliedstaat erhalten hat, enthaltenen Informationen Bedenken hinsichtlich der Notwendigkeit oder Verhältnismäßigkeit der geplanten Wiedereinführung hat, eine dahin gehende Stellungnahme abzugeben hat. In den vorliegenden Rechtssachen hat die Kommission jedoch, wie sie selbst in der mündlichen Verhandlung ausdrücklich eingeräumt hat, im Anschluss an die Mitteilungen, die sie von der Republik Österreich in Bezug auf die von diesem Mitgliedstaat seit dem 10. November 2017 wiedereingeführten Kontrollen an den Binnengrenzen erhalten hat, keine derartige Stellungnahme abgegeben, obwohl sie der Ansicht ist, dass diese Kontrollen ab diesem Zeitpunkt mit den Bestimmungen des Schengener Grenzkodex und folglich mit dem Unionsrecht unvereinbar gewesen seien.

92      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass es für die Sicherstellung des ordnungsgemäßen Funktionierens der durch den Schengener Grenzkodex eingeführten Regeln wesentlich ist, dass sowohl die Kommission als auch die Mitgliedstaaten die ihnen durch diesen Kodex übertragenen Befugnisse, insbesondere in Bezug auf den Austausch von Informationen und Stellungnahmen, die Konsultationen und gegebenenfalls die Zusammenarbeit, die in Art. 27 des Schengener Grenzkodex ausdrücklich vorgesehen sind, ausüben, wenn ein Mitgliedstaat Kontrollen an den Binnengrenzen wiedereinführen möchte.

93      Allerdings hat der Umstand, dass die Kommission im Anschluss an eine Mitteilung eines Mitgliedstaats nach Art. 27 Abs. 1 des Schengener Grenzkodex in einem konkreten Fall keine Stellungnahme abgibt, aus der hervorgeht, dass sie die angemeldete Kontrolle für mit diesem Kodex unvereinbar hält, als solcher keine Auswirkung auf die Auslegung der Bestimmungen des Schengener Grenzkodex durch den Gerichtshof.

94      Nach alledem ist auf die erste Frage in der Rechtssache C‑368/20 und die erste Frage in der Rechtssache C‑369/20 zu antworten, dass Art. 25 Abs. 4 des Schengener Grenzkodex dahin auszulegen ist, dass er einer vorübergehenden Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen durch einen Mitgliedstaat auf der Grundlage der Art. 25 und 27 des Schengener Grenzkodex entgegensteht, wenn deren Dauer die in Art. 25 Abs. 4 dieses Kodex festgelegte Gesamthöchstdauer von sechs Monaten überschreitet und keine neue Bedrohung vorliegt, die eine erneute Anwendung der in diesem Art. 25 vorgesehenen Zeiträume rechtfertigen würde.

 Zur zweiten Frage in der Rechtssache C368/20 und zur zweiten Frage in der Rechtssache C369/20

95      In Anbetracht der Antwort auf die erste Frage in den vorliegenden Rechtssachen sind weder die zweite Frage in der Rechtssache C‑368/20 noch die zweite Frage in der Rechtssache C‑369/20 zu beantworten.

 Zur dritten Frage in der Rechtssache C369/20

96      Mit der dritten Frage in der Rechtssache C‑369/20 möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 25 Abs. 4 des Schengener Grenzkodex einer nationalen Regelung entgegensteht, mit der ein Mitgliedstaat eine Person bei Androhung einer Sanktion dazu verpflichtet, bei der Einreise in das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats über eine Binnengrenze einen Reisepass oder einen Personalausweis vorzuzeigen, wenn die Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen, in deren Rahmen diese Verpflichtung auferlegt wird, gegen diese Bestimmung verstößt.

97      Insoweit genügt der Hinweis, dass, wie der Gerichtshof entschieden hat, eine Sanktionsregelung nicht mit den Bestimmungen des Schengener Grenzkodex vereinbar ist, wenn sie auferlegt wird, um die Einhaltung einer Pflicht zur Duldung einer Kontrolle sicherzustellen, die ihrerseits nicht im Einklang mit diesen Bestimmungen steht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Dezember 2018, Touring Tours und Travel und Sociedad de Transportes, C‑412/17 und C‑474/17, EU:C:2018:1005, Rn. 72).

98      Folglich ist auf die dritte Frage in der Rechtssache C‑369/20 zu antworten, dass Art. 25 Abs. 4 des Schengener Grenzkodex dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, mit der ein Mitgliedstaat eine Person bei Androhung einer Sanktion dazu verpflichtet, bei der Einreise in das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats über eine Binnengrenze einen Reisepass oder einen Personalausweis vorzuzeigen, wenn die Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen, in deren Rahmen diese Verpflichtung auferlegt wird, gegen diese Bestimmung verstößt.

 Kosten

99      Für die Beteiligten der Ausgangsverfahren ist das Verfahren Teil der bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahren; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

1.      Art. 25 Abs. 4 der Verordnung (EU) 2016/399 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über einen Unionskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) in der durch die Verordnung (EU) 2016/1624 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. September 2016 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass er einer vorübergehenden Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen durch einen Mitgliedstaat auf der Grundlage der Art. 25 und 27 des Schengener Grenzkodex entgegensteht, wenn deren Dauer die in Art. 25 Abs. 4 dieses Kodex festgelegte Gesamthöchstdauer von sechs Monaten überschreitet und keine neue Bedrohung vorliegt, die eine erneute Anwendung der in diesem Art. 25 vorgesehenen Zeiträume rechtfertigen würde.

2.      Art. 25 Abs. 4 der Verordnung 2016/399 in der durch die Verordnung 2016/1624 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, mit der ein Mitgliedstaat eine Person bei Androhung einer Sanktion dazu verpflichtet, bei der Einreise in das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats über eine Binnengrenze einen Reisepass oder einen Personalausweis vorzuzeigen, wenn die Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen, in deren Rahmen diese Verpflichtung auferlegt wird, gegen diese Bestimmung verstößt.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Deutsch.