SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
COLLINS
vom 16. Dezember 2021(1)
Rechtssache C‑279/20
Bundesrepublik Deutschland (Nachzug eines volljährig gewordenen Kindes)
gegen
XC,
Beteiligter:
Landkreis Cloppenburg
(Vorabentscheidungsersuchen des Bundesverwaltungsgerichts [Deutschland])
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Recht auf Familienzusammenführung – Richtlinie 2003/86/EG – Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c – Recht eines Flüchtlings auf Familienzusammenführung mit seinen minderjährigen Kindern – Kind, das unter 18 Jahre alt war, als der Elternteil einen Asylantrag stellte, aber über 18 Jahre alt, als dem Elternteil Asyl gewährt und ein befristeter Aufenthaltstitel als Flüchtling erteilt wurde – Für die Beurteilung der Minderjährigkeit der betroffenen Person maßgeblicher Zeitpunkt – Art. 16 Abs. 1 Buchst. b – Sanktionen und Rechtsmittel – Begriff der tatsächlichen ‚familiären Bindungen‘“
I. Einleitung
1. Auf welchen Zeitpunkt ist bei der Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung, das in der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung vorgesehen ist, für die Beurteilung der Minderjährigkeit des Kindes eines Flüchtlings abzustellen?(2) Welche Anforderungen können gestellt werden, um tatsächliche familiäre Bindungen im Sinne von Art. 16 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie festzustellen, wenn ein in einem Drittstaat lebendes Kind, das als Minderjähriger den Nachzug zu seinem Zusammenführenden beantragt hat, volljährig geworden ist? Mit seinem Vorabentscheidungsersuchen vom 23. April 2020, das am 26. Juni 2020 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen ist, ersucht das Bundesverwaltungsgericht (Deutschland) um die Beantwortung dieser Fragen.
II. Rechtlicher Rahmen
A. Unionsrecht
Richtlinie 2003/86
2. Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2003/86 bestimmt:
„Diese Richtlinie findet keine Anwendung, wenn
a) der Zusammenführende um die Anerkennung als Flüchtling nachsucht und über seinen Antrag noch nicht abschließend entschieden wurde;
…“
3. Art. 4 der Richtlinie 2003/86 bestimmt:
„(1) Vorbehaltlich der in Kapitel IV sowie in Artikel 16 genannten Bedingungen gestatten die Mitgliedstaaten gemäß dieser Richtlinie folgenden Familienangehörigen die Einreise und den Aufenthalt:
…
c) den minderjährigen Kindern, einschließlich der adoptierten Kinder des Zusammenführenden, wenn der Zusammenführende das Sorgerecht besitzt und für den Unterhalt der Kinder aufkommt. Die Mitgliedstaaten können die Zusammenführung in Bezug auf Kinder gestatten, für die ein geteiltes Sorgerecht besteht, sofern der andere Elternteil seine Zustimmung erteilt;
…“
4. Art. 16 der Richtlinie 2003/86 bestimmt:
„(1) Die Mitgliedstaaten können einen Antrag auf Einreise und Aufenthalt zum Zwecke der Familienzusammenführung ablehnen oder gegebenenfalls den Aufenthaltstitel eines Familienangehörigen entziehen oder seine Verlängerung verweigern, wenn einer der folgenden Fälle vorliegt:
…
b) Zwischen dem Zusammenführenden und dem (den) Familienangehörige(n) bestehen keine tatsächlichen ehelichen oder familiären Bindungen, oder sie bestehen nicht mehr.
…“
B. Deutsches Recht
5. Nach Angaben des vorlegenden Gerichts werden die Voraussetzungen für das Recht auf Familienzusammenführung nach deutschem Recht im Rahmen eines von dem Familienangehörigen bei der Auslandsvertretung des Drittstaats, in dem er sich aufhält, zu stellenden Antrags auf Erteilung eines nationalen Visums zum Zweck der Familienzusammenführung überprüft.
6. § 6 („Visum“) des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet vom 25. Februar 2008(3), zuletzt geändert durch Art. 4b des Gesetzes vom 17. Februar 2020(4) (im Folgenden: AufenthG), bestimmt:
„…
(3) Für längerfristige Aufenthalte ist ein Visum für das Bundesgebiet (nationales Visum) erforderlich, das vor der Einreise erteilt wird. Die Erteilung richtet sich nach den für die Aufenthaltserlaubnis, die Blaue Karte EU, die ICT‑Karte, die Niederlassungserlaubnis und die Erlaubnis zum Daueraufenthalt – EU geltenden Vorschriften. …“
7. § 32 („Kindernachzug“) AufenthG bestimmt:
„(1) Dem minderjährigen ledigen Kind eines Ausländers ist eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wenn beide Eltern oder der allein personensorgeberechtigte Elternteil einen der folgenden Aufenthaltstitel besitzt:
…
2. Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Absatz 1 oder Absatz 2 Satz 1 erste Alternative,
…“
8. § 25 („Aufenthalt aus humanitären Gründen“) AufenthG bestimmt:
„…
(2) Einem Ausländer ist eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wenn das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die Flüchtlingseigenschaft im Sinne des § 3 Absatz 1 des Asylgesetzes oder subsidiären Schutz im Sinne des § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes zuerkannt hat. …“
III. Sachverhalt des Ausgangsverfahrens und Vorlagefragen
9. XC (im Folgenden auch: Klägerin) ist eine am 1. Januar 1999 geborene syrische Staatsangehörige. Sie lebt seit mehreren Jahren in der Türkei.
10. Ihre Mutter ist verstorben. Ihr Vater reiste 2015 nach Deutschland ein und stellte im April 2016 förmlich Asylantrag. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge erkannte ihm im Juli 2017 die Flüchtlingseigenschaft zu. Im September 2017 erteilte der Landkreis Cloppenburg dem Vater der Klägerin eine für drei Jahre gültige Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 AufenthG.
11. Am 10. August 2017 beantragte die Klägerin beim Generalkonsulat der Bundesrepublik Deutschland in Istanbul (Türkei) (im Folgenden: Generalkonsulat) die Erteilung eines nationalen Visums zum Zweck des Familiennachzugs zu ihrem in Deutschland lebenden Vater. Das Generalkonsulat lehnte den Antrag zuletzt mit Remonstrationsbescheid vom 11. Dezember 2017 ab. Die Voraussetzungen des § 32 AufenthG waren nach Ansicht des Generalkonsulats nicht erfüllt, weil die Klägerin erwachsen war. Zudem habe ihr Vater vor dem Eintreten ihrer Volljährigkeit noch nicht über die Aufenthaltserlaubnis als Flüchtling verfügt. Zwar sei ein Familiennachzug volljährig gewordener Kinder nach der Ermessensvorschrift des § 36 Abs. 2 AufenthG möglich, wenn eine außergewöhnliche Härte gegeben sei. Eine solche liege hier jedoch nicht vor, weil nicht erkennbar sei, dass die Klägerin in der Türkei kein eigenständiges Leben führen könne.
12. Mit Urteil vom 12. März 2019 verpflichtete das Verwaltungsgericht die Bundesrepublik Deutschland (im Folgenden: Beklagte), der Klägerin ein Visum zum Zweck des Familiennachzugs zu erteilen.
13. Nach Ansicht des Verwaltungsgerichts ist die Klägerin bei unionsrechtskonformer Auslegung als minderjährig im Sinne des § 32 Abs. 1 AufenthG anzusehen. Maßgeblich für die Beurteilung der Minderjährigkeit sei der Zeitpunkt der Asylantragstellung ihres Vaters und nicht der Zeitpunkt, zu dem sie das Visum zum Familiennachzug beantragt habe. Das Urteil des Gerichtshofs vom 12. April 2018, A und S(5), sei auf die vorliegende umgekehrte Sachverhaltskonstellation – nämlich den Nachzug eines Kindes zu einem als Flüchtling anerkannten Elternteil – übertragbar. Im Licht dieser Entscheidung legte das Verwaltungsgericht Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2003/86 dahin aus, dass ein Kind des Zusammenführenden als minderjährig anzusehen sei, wenn es bei der Stellung des Asylantrags durch den Zusammenführenden minderjährig gewesen sei. Zudem sei die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ein deklaratorischer Akt. Die praktische Wirksamkeit des Rechts auf Familienzusammenführung würde in Frage gestellt und die Grundsätze der Rechtssicherheit und Gleichbehandlung wären verletzt, wenn es bei Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2003/86 für die Beurteilung der Minderjährigkeit auf den Zeitpunkt der Stellung des Visumantrags ankäme. Die Klägerin habe ihren Visumantrag auch innerhalb der vom Gerichtshof in seinem Urteil A und S geforderten Frist von drei Monaten ab Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft des Zusammenführenden gestellt.
14. Mit ihrer Revision zum vorlegenden Gericht rügt die Beklagte, dass das Verwaltungsgericht hinsichtlich des Zeitpunkts, auf den für die Feststellung der Minderjährigkeit im Sinne von § 32 Abs. 1 AufenthG abzustellen sei, eine fehlerhafte Auslegung vorgenommen habe. Nach nationaler Rechtsprechung sei dafür auf den Zeitpunkt der Beantragung des Visums zum Zweck der Familienzusammenführung abzustellen. Das Urteil A und S des Gerichtshofs betreffe einen anderen Sachverhalt und eine andere Rechtsgrundlage in der Richtlinie 2003/86. Die im Urteil A und S angestellten Überlegungen zur Auslegung von Art. 2 Buchst. f der Richtlinie 2003/86 seien auf die Auslegung von Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. b der Richtlinie nicht anwendbar, zumal diese Vorschrift ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweise.
15. Nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts (Deutschland) hat die Klägerin nach nationalem Recht keinen Rechtsanspruch auf Erteilung eines Visums zum Familiennachzug zu ihrem Vater(6). Um ein solches Visum zu erhalten, müsse sie dartun, dass sie sich unmittelbar auf Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86 berufen könne. Das vorlegende Gericht fragt deshalb, ob Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2003/86 im Licht des Urteils A und S auszulegen sei, das auf Art. 2 Buchst. f in Verbindung mit Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 gestützt worden sei. Insbesondere möchte es wissen, ob im Licht dieses Urteils für die Zwecke des Familiennachzugs zu einem anerkannten Flüchtling die Voraussetzung „minderjähriges Kind“ erfüllt sei, sofern das Kind in dem Zeitpunkt, in dem der Flüchtling internationalen Schutz beantragt habe, minderjährig gewesen sei. Dem Bundesverwaltungsgericht ist unklar, ob im Urteil A und S der besondere Schutz unbegleiteter Minderjähriger(7) entscheidend gewesen sei oder aber die Vorzugsbehandlung, die die Richtlinie 2003/86 nach ihrem achten Erwägungsgrund allen Flüchtlingen zuteilwerden lasse, und ob somit die Ausführungen in diesem Urteil auf den Nachzug von Kindern zu einem erwachsenen Flüchtling anwendbar seien.
16. Mit seiner zweiten Frage ersucht das vorlegende Gericht um Klärung, was tatsächliche familiäre Bindungen im Sinne von Art. 16 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2003/86 ausmache. Das rein formale Ehe- oder Familienband reiche möglicherweise für sich genommen nicht aus, einen Anspruch auf Familienzusammenführung zu begründen, da der Nachzugsantrag darauf gerichtet sein müsse, in dem Mitgliedstaat, in dem der Zusammenführende sich aufhalte, ein tatsächliches Ehe- bzw., wie in diesem Fall, Familienleben aufzunehmen. Insbesondere werde um Präzisierung ersucht, mit welcher Intensität die Absicht, tatsächliche familiäre Bindungen aufzunehmen, vor der erstmaligen Entscheidung über die Familienzusammenführung zu überprüfen sei und ob es dafür eine Rolle spiele, dass das Kind im Zeitpunkt dieser Entscheidung bereits volljährig sei. Beim Familiennachzug minderjähriger Kinder zu einem zusammenführenden Elternteil sei in der Regel ohne weitere Angaben oder Ermittlungen davon auszugehen, dass der Nachzug der (Wieder‑)Aufnahme eines tatsächlichen Familienlebens im Mitgliedstaat diene. Es stelle sich jedoch die Frage, ob eine solche „Automatik“ gegebenenfalls auch für Kinder gelte, die bei der Entscheidung über den Antrag auf Familienzusammenführung bereits volljährig seien, aber – wegen der Vorverlagerung des für die Minderjährigkeit maßgeblichen Zeitpunkts – gleichwohl noch von Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. b bis d der Richtlinie 2003/86 erfasst seien.
17. Unter diesen Umständen hat das Bundesverwaltungsgericht beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86 dahin auszulegen, dass ein Kind des Zusammenführenden, der als Flüchtling anerkannt worden ist, auch dann minderjährig im Sinne dieser Vorschrift ist, wenn es im Zeitpunkt der Asylantragstellung des Zusammenführenden minderjährig war, aber schon vor dessen Anerkennung als Flüchtling und Stellung des Antrags auf Familienzusammenführung volljährig geworden ist?
2. Bei Bejahung der Frage 1:
Welche Anforderungen sind an die tatsächlichen familiären Bindungen im Sinne des Art. 16 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2003/86 in einem solchen Fall zu stellen?
a) Reicht dafür das rechtliche Eltern-Kind-Verhältnis aus oder ist auch ein tatsächliches Familienleben erforderlich?
b) Falls es auch eines tatsächlichen Familienlebens bedarf: Welche Intensität ist dafür erforderlich? Genügen dazu etwa gelegentliche oder regelmäßige Besuchskontakte, bedarf es des Zusammenlebens in einem gemeinsamen Haushalt oder ist darüber hinaus eine Beistandsgemeinschaft erforderlich, deren Mitglieder aufeinander angewiesen sind?
c) Erfordert der Nachzug des zwischenzeitlich volljährig gewordenen Kindes, das sich noch im Drittstaat befindet und einen Antrag auf Familienzusammenführung zu einem als Flüchtling anerkannten Elternteil gestellt hat, die Prognose, dass das Familienleben nach der Einreise in der gemäß Frage 2 b) geforderten Weise im Mitgliedstaat (wieder) aufgenommen wird?
IV. Verfahren vor dem Gerichtshof
18. Die italienische Regierung und die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen vorgelegt.
19. Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 3. August 2020 ist das vorlegende Gericht gefragt worden, ob es im Licht des Urteils vom 16. Juli 2020, État belge (Familienzusammenführung – Minderjähriges Kind)(8), an seinem Vorabentscheidungsersuchen festzuhalten wünsche. Mit Beschluss vom 8. September 2020 hat das vorlegende Gericht bestätigt, dass es an seinem Vorabentscheidungsersuchen festzuhalten wünsche, da das vorgenannte Urteil die im vorliegenden Fall aufgeworfenen Fragen nicht hinreichend beantwortet habe.
20. Nach dem Urteil État belge sei Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86 dahin auszulegen, dass der Zeitpunkt, auf den abzustellen sei, um zu bestimmen, ob ein unverheirateter Drittstaatsangehöriger oder Flüchtling ein minderjähriges Kind sei, derjenige Zeitpunkt sei, zu dem der Antrag auf Einreise und Aufenthalt zum Zweck der Familienzusammenführung für minderjährige Kinder gestellt werde, und nicht derjenige Zeitpunkt, zu dem durch die zuständigen Behörden des Mitgliedstaats über den Antrag entschieden werde. Dem Urteil sei jedoch nicht zu entnehmen, ob der Gerichtshof überhaupt die Frage erwogen habe, ob auf einen noch früheren Zeitpunkt, nämlich denjenigen der Asylantragstellung, abzustellen sein könnte, da diese Frage nicht entscheidungserheblich gewesen sei. In seinem früheren Urteil A und S habe der Gerichtshof für die Familienzusammenführung auf den frühen Zeitpunkt der Asylantragstellung des unbegleiteten Minderjährigen abgestellt und nicht auf den Zeitpunkt der Stellung des Antrags auf Einreise und Aufenthalt. Das Bundesverwaltungsgericht vertrat weiter die Auffassung, dass seine zweite Vorlagefrage durch das Urteil État belge nicht beantwortet werde.
21. Der Gerichtshof hat die deutsche Regierung gemäß Art. 61 Abs. 1 seiner Verfahrensordnung mit Beschluss vom 11. Mai 2021 aufgefordert, schriftlich dazu Stellung zu nehmen, welche Bedeutung das Urteil A und S im Hinblick auf die Beantwortung der ersten Vorlagefrage hat. Die Antwort der deutschen Regierung ist am 21. Juni 2021 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen.
22. Die deutsche Regierung führt aus, dass es für die Frage der Minderjährigkeit nach gefestigter Rechtsprechung des vorlegenden Gerichts maßgeblich auf den Zeitpunkt der Stellung des Visumantrags ankomme. Die vom Gerichtshof im Urteil État belge gewählte Lösung entspreche also der im deutschen Recht vorgesehenen. Zudem müsse die Minderjährigkeit in dem Zeitpunkt vorliegen, in dem der Elternteil die zum Nachzug berechtigende Aufenthaltserlaubnis erhalte. Allerdings habe der Gerichtshof in seinem Urteil A und S entschieden, dass für die Frage der Minderjährigkeit der Zeitpunkt der Asylantragstellung maßgeblich sei und dass der Eintritt der Volljährigkeit der Kinder zu einem späteren Zeitpunkt – auch vor der Visumsbeantragung – grundsätzlich unschädlich sei. Die Bundesregierung teile hierbei die Auffassung des vorlegenden Gerichts, dass die Beantwortung der ersten Frage angesichts der Urteile A und S und État belge unklar sei.
V. Prüfung der Vorlagefragen
A. Erste Frage
23. Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86(9) dahin auszulegen ist, dass für die Beurteilung, ob das Kind eines als Flüchtling anerkannten Zusammenführenden ein „minderjähriges Kind“ im Sinne dieser Vorschrift ist, derjenige Zeitpunkt maßgeblich ist, zu dem der Zusammenführende(10) einen Asylantrag gestellt hat(11), unabhängig davon, ob das Kind vor Anerkennung des Zusammenführenden als Flüchtling und vor Stellung des Antrags auf Familienzusammenführung volljährig geworden ist.
1. Vorbemerkungen
24. Nach Art. 1 der Richtlinie 2003/86 ist das Ziel dieser Richtlinie die Festlegung der Bedingungen für die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung durch Drittstaatsangehörige, die sich rechtmäßig im Gebiet der Mitgliedstaaten aufhalten.
25. Aus dem zweiten Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/86 geht hervor, dass Maßnahmen zur Familienzusammenführung in Übereinstimmung mit der Verpflichtung zum Schutz der Familie und zur Achtung des Familienlebens getroffen werden sollten, die in zahlreichen Instrumenten des Völkerrechts verankert ist. Zudem sind die Bestimmungen der Richtlinie 2003/86 nach ständiger Rechtsprechung im Licht des Art. 7 und des Art. 24 Abs. 2 und 3 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) auszulegen und anzuwenden. Dies ergibt sich auch aus dem Wortlaut des zweiten Erwägungsgrundes und des Art. 5 Abs. 5 dieser Richtlinie, wonach die Mitgliedstaaten Anträge auf Familienzusammenführung unter Berücksichtigung des Wohles der betroffenen Kinder und in dem Bestreben, das Familienleben zu fördern, prüfen müssen. Der Gerichtshof hat betont, dass sich aus Art. 24 Abs. 2 der Charta die Anforderung ergibt, dass bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen, insbesondere bei den Maßnahmen, die die Mitgliedstaaten bei der Anwendung der Richtlinie 2003/86 treffen, das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein muss(12).
26. Ebenfalls nach ständiger Rechtsprechung erlegt Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2003/86 den Mitgliedstaaten präzise positive Verpflichtungen auf, denen klar definierte subjektive Rechte entsprechen, da er den Mitgliedstaaten in den in der Richtlinie festgelegten Fällen vorschreibt, den Nachzug bestimmter Mitglieder der Familie des Zusammenführenden zu genehmigen, ohne dass sie dabei von ihrem Ermessensspielraum Gebrauch machen könnten(13).
27. So sieht Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86, um den es im vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen geht, u. a. vor, dass die Mitgliedstaaten den minderjährigen Kindern des Zusammenführenden die Einreise und den Aufenthalt gestatten müssen, wenn der Zusammenführende das Sorgerecht besitzt und für den Unterhalt der Kinder aufkommt, vorbehaltlich von Kapitel IV der Richtlinie 2003/86, das eine Reihe von Voraussetzungen für die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung enthält(14), und vorbehaltlich von Art. 16 der Richtlinie. Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 2003/86 bestimmt, dass die minderjährigen Kinder weder das nach den Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats geltende Volljährigkeitsalter erreicht haben noch verheiratet sein dürfen.
28. Im Urteil État belge hat der Gerichtshof ausgeführt, dass Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 2003/86 weder den Zeitpunkt angibt, auf den für die Beurteilung der Voraussetzung der Minderjährigkeit abzustellen ist, noch diesbezüglich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist. Da Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86 deshalb in der gesamten Europäischen Union eine autonome und einheitliche Auslegung erhalten muss, ist den Mitgliedstaaten hinsichtlich der Festlegung des Zeitpunkts, auf den im Rahmen dieser Bestimmung für die Beurteilung des Alters des Antragstellers abzustellen ist, kein Spielraum eingeräumt(15).
29. Aus dem Vorabentscheidungsersuchen wird deutlich, dass es nach deutschem Recht zwar nicht erforderlich ist, dass das Kind zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag auf Familienzusammenführung minderjährig ist, dass das Kind aber in dem Zeitpunkt, in dem das Visum zum Zweck der Familienzusammenführung beantragt wird, und in dem Zeitpunkt, in dem dem Elternteil der Aufenthaltstitel erteilt wird, aus dem sich das Recht auf Familienzusammenführung ergibt, minderjährig sein muss.
30. Nach deutschem Recht musste XC also am 10. August 2017, als sie beim Generalkonsulat ein Visum beantragte, und im September 2017, als ihrem Vater seine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 AufenthG erteilt wurde, minderjährig sein. Da XC am 1. Januar 1999 geboren wurde, war sie zu keinem dieser Zeitpunkte minderjährig. Sie war jedoch minderjährig, als ihr Vater im April 2016 einen förmlichen Asylantrag stellte. Im Verfahren vor dem vorlegenden Gericht hat XC nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn sie sich dahin gehend auf Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86 berufen kann, dass für die Beurteilung ihrer Minderjährigkeit auf den Zeitpunkt abzustellen ist, zu dem ihr Vater den Asylantrag stellte.
31. Somit stellt sich im vorliegenden Verfahren die Frage, auf welchen Zeitpunkt nach Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86 für die Beurteilung der Minderjährigkeit des Kindes eines später als Flüchtling anerkannten Asylsuchenden abzustellen ist.
32. Zur Beantwortung dieser Frage müssen wir die einschlägigen Ausführungen in den Urteilen A und S und État belge untersuchen, auf die das vorlegende Gericht umfangreich Bezug nimmt. Aus den beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen und Antworten auf Fragen ist zu erkennen, dass die genannten Entscheidungen bestenfalls so wahrgenommen werden, dass sie wegen unterschiedlicher Sachverhalte und/oder Rechtsvorschriften zu unterschiedlichen rechtlichen Ergebnissen führen, schlimmstenfalls als widersprüchlich.
2. Das Urteil A und S
33. Die Tochter von A und S reiste als unbegleitete Minderjährige in die Niederlande ein, wo sie einen Asylantrag stellte. Als ihr ein Aufenthaltstitel für Asylberechtigte erteilt wurde, war sie bereits volljährig geworden. Innerhalb von zwei Monaten nach ihrer Anerkennung als Asylberechtigte stellte sie einen Antrag auf Erteilung eines vorläufigen Aufenthaltstitels für ihre Eltern und ihre drei minderjährigen Geschwister im Rahmen der Familienzusammenführung. Diesen Antrag auf Familienzusammenführung lehnte die niederländische Behörde mit der Begründung ab, sie sei zum Zeitpunkt der Antragstellung volljährig gewesen.
34. In diesem Fall ersuchte das vorlegende Gericht um Auslegung des Art. 2 Buchst. f der Richtlinie 2003/86(16), in dem der in Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie verwendete Begriff „unbegleiteter Minderjähriger“ definiert ist. Nach Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 müssen die Mitgliedstaaten, wenn es sich bei einem Flüchtling um einen unbegleiteten Minderjährigen handelt, ungeachtet der in Art. 4 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie genannten Bedingungen die Einreise und den Aufenthalt seiner Verwandten in gerader aufsteigender Linie ersten Grades zum Zweck der Familienzusammenführung gestatten. Der Gerichtshof wurde im Wesentlichen gefragt, ob Art. 2 Buchst. f der Richtlinie 2003/86 dahin auszulegen ist, dass ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser, der zum Zeitpunkt seiner Einreise in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats und der Stellung seines Asylantrags in diesem Staat unter 18 Jahre alt war, aber während des Asylverfahrens volljährig wird und später rückwirkend zum Zeitpunkt der Antragstellung Asyl erhält, als Minderjähriger im Sinne dieser Bestimmung anzusehen ist.
35. Dies hat der Gerichtshof bejaht.
36. Der Gerichtshof hat darauf hingewiesen, dass weder Art. 2 Buchst. f noch Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 auf das Recht der Mitgliedstaaten verweisen, so dass sie in der gesamten Union eine autonome und einheitliche Auslegung erhalten müssen, und ausgeführt, dass Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 den Mitgliedstaaten eine präzise positive Verpflichtung auferlegt, der ein klar definiertes Recht gegenübersteht. Danach sind sie in dem darin genannten Fall verpflichtet, die Familienzusammenführung der Verwandten in gerader aufsteigender Linie ersten Grades des Zusammenführenden zu gestatten, ohne dass sie in der Sache über einen Wertungsspielraum verfügen(17). Weiter hat der Gerichtshof angemerkt, dass mit der Richtlinie 2003/86 nicht nur allgemein das Ziel verfolgt wird, die Familienzusammenführung zu begünstigen und Drittstaatsangehörigen, insbesondere Minderjährigen, Schutz zu gewähren, sondern dass durch Art. 10 Abs. 3 Buchst. a im Speziellen ein stärkerer Schutz der Flüchtlinge, die unbegleitete Minderjährige sind, gewährleistet werden soll(18). Die Richtlinie 2003/86 regelt zwar nicht ausdrücklich, zu welchem Zeitpunkt ein Flüchtling minderjährig sein muss, um das Recht auf Familienzusammenführung aus Art. 10 Abs. 3 Buchst. a in Anspruch nehmen zu können; aus der Zielsetzung dieser Bestimmung und aus dem Fehlen jedes Verweises auf das nationale Recht zu dieser Frage ergibt sich jedoch, so der Gerichtshof, dass diese nicht dem Ermessen der Mitgliedstaaten überlassen bleiben kann(19).
37. Der Gerichtshof hat anerkannt, dass die Möglichkeit für einen Asylbewerber, einen Antrag auf Familienzusammenführung auf der Grundlage der Richtlinie 2003/86 zu stellen, gemäß deren Art. 3 Abs. 2 Buchst. a an die Bedingung geknüpft ist, dass über seinen Asylantrag bereits endgültig positiv entschieden wurde(20), und darauf hingewiesen, dass die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ein deklaratorischer Akt ist(21) und daher jeder Drittstaatsangehörige oder Staatenlose, der einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat und die materiellen Voraussetzungen von Kapitel III der Richtlinie 2011/95 erfüllt, ein subjektives Recht auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft hat, und zwar noch bevor hierzu eine förmliche Entscheidung ergangen ist. Folglich, so der Gerichtshof, würde die praktische Wirksamkeit von Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 in Frage gestellt, wenn das Recht auf Familienzusammenführung aus dieser Bestimmung davon abhinge, zu welchem Zeitpunkt die zuständige nationale Behörde förmlich über die Anerkennung des Betroffenen als Flüchtling entscheidet, und damit von der mehr oder weniger schnellen Bearbeitung des Antrags auf internationalen Schutz durch diese Behörde. Dies liefe nicht nur dem Ziel dieser Richtlinie, die Familienzusammenführung zu begünstigen und dabei Flüchtlinge, insbesondere unbegleitete Minderjährige, besonders zu schützen, sondern auch den Grundsätzen der Gleichbehandlung und der Rechtssicherheit zuwider(22).
38. Knüpft man dagegen bei der Anwendung von Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 für die Beurteilung des Alters eines Flüchtlings (in diesem Fall der Tochter von A und S) an den Zeitpunkt an, zu dem dieser den Antrag auf internationalen Schutz stellt, ermöglicht dies, so der Gerichtshof, Gleichbehandlung und Vorhersehbarkeit für alle Antragsteller zu gewährleisten, die sich zeitlich in der gleichen Lage befinden, indem sichergestellt wird, dass der Erfolg des Antrags auf Familienzusammenführung in erster Linie von Umständen abhängt, die in der Sphäre der Antragsteller liegen, nicht aber von Umständen, die in der Behördensphäre liegen, wie etwa die Bearbeitungsdauer des Antrags auf internationalen Schutz oder des Antrags auf Familienzusammenführung(23). Der Gerichtshof hat entschieden, dass der auf der Grundlage von Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie eingereichte Antrag auf Familienzusammenführung in einer solchen Situation daher grundsätzlich innerhalb von drei Monaten ab dem Tag zu stellen ist, an dem der Minderjährige als Flüchtling anerkannt worden ist(24).
3. Das Urteil État belge
39. In Rn. 47 des Urteils État belge, in dem es um die Minderjährigkeit der Kinder eines Flüchtlings ging, hat der Gerichtshof u. a. Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86 ausgelegt, die Bestimmung, auf die sich die erste Frage des vorlegenden Gerichts bezieht.
40. In dieser Rechtssache hat der Gerichtshof entschieden, dass der Zeitpunkt, auf den abzustellen ist, um zu bestimmen, ob ein unverheirateter Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser ein minderjähriges Kind ist, derjenige Zeitpunkt ist, zu dem der Antrag auf Einreise und Aufenthalt zum Zweck der Familienzusammenführung für minderjährige Kinder gestellt wird, und nicht derjenige Zeitpunkt, zu dem über den Antrag entschieden wird. Der Gerichtshof hat festgestellt, dass es weder mit den Zielen der Richtlinie 2003/86 noch mit den sich aus Art. 7 und Art. 24 Abs. 2 der Charta ergebenden Anforderungen vereinbar wäre, wenn für die Beurteilung des Alters des Antragstellers für die Anwendung von Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86 auf den Zeitpunkt abzustellen wäre, zu dem die zuständige Behörde des Mitgliedstaats über den Antrag auf Einreise und Aufenthalt im Hoheitsgebiet dieses Staates zum Zweck der Familienzusammenführung entscheidet. Die zuständigen nationalen Behörden und Gerichte hätten dann nämlich keine Veranlassung, die Anträge Minderjähriger mit der erforderlichen Dringlichkeit zu bearbeiten, um ihrer Schutzbedürftigkeit Rechnung zu tragen, und könnten somit die Rechte dieser Minderjährigen auf Familienzusammenführung gefährden(25).
41. Folglich hat der Gerichtshof nicht hingenommen, dass das Recht minderjähriger Kinder von Drittstaatsangehörigen oder Flüchtlingen auf Familienzusammenführung wegen der Zeit, die zwischen der Stellung des Antrags auf Familienzusammenführung und der Entscheidung der zuständigen nationalen Behörden oder Gerichte über den Antrag verstreicht, entfallen oder ausgehöhlt werden könnte(26).
4. Prüfung und Anwendung der Rechtsprechung auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens
42. Aus den Urteilen in den Rechtssachen A und S und État belge geht klar hervor, dass der Gerichtshof in konsistenter Weise sichergestellt hat, dass das Recht auf Familienzusammenführung, wenn es um minderjährige Kinder geht, nicht durch den Zeitaufwand für Entscheidungen über Anträge auf internationalen Schutz oder Familienzusammenführung ausgehöhlt werden kann. Im Urteil A und S hat der Gerichtshof zudem den deklaratorischen Charakter der Entscheidung über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft hervorgehoben und, ungeachtet des Wortlauts von Art. 3 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2003/86, sichergestellt, dass das Recht von später als Flüchtlinge anerkannten Asylsuchenden auf Familienzusammenführung geachtet wird.
43. In den in Rede stehenden Urteilen wird jedoch auf zwei verschiedene Zeitpunkte für die Beurteilung der Minderjährigkeit abgestellt. Im Urteil A und S wird für die Beurteilung der Minderjährigkeit auf den Zeitpunkt abgestellt, in dem der Zusammenführende Asyl beantragt, wohingegen im Urteil État belge der Zeitpunkt des Antrags auf Familienzusammenführung als angemessen erachtet wird.
44. Die italienische Regierung versucht in ihren schriftlichen Erklärungen, eine Unterscheidung zwischen dem Sachverhalt des Urteils A und S und dem des Ausgangsverfahrens vorzunehmen. Dabei misst sie dem Umstand, dass der damalige Fall eine Geflüchtete betraf, die eine unbegleitete Minderjährige war, sowie der in Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 vorgesehenen Vorzugsbehandlung dieses Personenkreises erhebliche Bedeutung zu. Deshalb sei das Urteil A und S – anders als das Urteil État belge – nicht auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens übertragbar. Das vorlegende Gericht und die deutsche Regierung vertreten einen nuancierteren Ansatz und ersuchen den Gerichtshof um Klärung dieser Frage.
45. Die Kommission dagegen meint, der vom Gerichtshof im Urteil A und S vertretene Ansatz sei auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbar, denn auch das Kind eines Asylbewerbers könne erst dann einen Antrag auf Familienzusammenführung auf der Grundlage von Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86 stellen, wenn über den Asylantrag des Asylbewerbers bereits endgültig positiv entschieden worden sei(27). In einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens wäre es unangemessen, auf den Zeitpunkt der Stellung des Antrags auf Familienzusammenführung abzustellen, da das weder mit den Zielen der Richtlinie 2003/86 noch mit den sich aus Art. 7 und Art. 24 Abs. 2 der Charta ergebenden Anforderungen bzw. den Grundsätzen der Gleichbehandlung und Rechtssicherheit vereinbar wäre.
46. Ich stimme der Kommission zu.
47. Erstens würden meines Erachtens – angesichts dessen, dass die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ein deklaratorischer Akt ist und der Flüchtling ein subjektives Recht darauf hat, mit Wirkung ab dem Zeitpunkt der Antragstellung als Flüchtling anerkannt zu werden – die Wirksamkeit des Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86, die Ziele der Richtlinie 2003/86, die Anforderungen der Art. 7 und Art. 24 Abs. 2 der Charta und die Grundsätze der Gleichbehandlung und der Rechtssicherheit untergraben, wenn die Beurteilung der Minderjährigkeit und des Rechts auf Familienzusammenführung gemäß Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86 u. a. davon abhängig gemacht würde, zu welchem Zeitpunkt die zuständige nationale Behörde dem Zusammenführenden die Flüchtlingseigenschaft zuerkennt.
48. Zweitens sind die Ausführungen der italienischen Regierung zu den günstigen Bedingungen, die nach Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 in der vom Gerichtshof im Urteil A und S vorgenommenen Auslegung für unbegleitete Minderjährige gelten(28), durchaus zutreffend; sie verkennen jedoch, dass diese Richtlinie für andere Flüchtlinge günstigere Bedingungen für die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung vorsieht, um deren Schutzbedürftigkeit Rechnung zu tragen.
49. So ist ein ganzes Kapitel der Richtlinie 2003/86, nämlich das mit „Familienzusammenführung von Flüchtlingen“ überschriebene Kapitel V, diesem Zweck gewidmet(29). Um die Familienzusammenführung von Flüchtlingen zu ermöglichen, enthalten die Bestimmungen in Kapitel V der Richtlinie 2003/86 eine Reihe wichtiger Ausnahmen von bestimmten, an sich geltenden Anforderungen. Es sei hinzugefügt, dass sich auch Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 in Kapitel V befindet.
50. Die in Kapitel V der Richtlinie 2003/86 vorgesehenen günstigeren Bedingungen gelten insbesondere für die in Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2003/86 aufgeführten Familienangehörigen und damit u. a. für die minderjährigen Kinder von Flüchtlingen(30). So bestimmt z. B. Art. 12 Abs. 1 der Richtlinie 2003/86, dass die Mitgliedstaaten vom Flüchtling und seinen Familienangehörigen, wenn es um Anträge für den Ehegatten des Flüchtlings oder minderjährige Kinder im Sinne von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie geht, keinen Nachweis dafür verlangen dürfen, dass der Flüchtling die in Art. 7 Abs. 1 genannten Bedingungen im Hinblick auf Wohnraum, Krankenversicherung sowie feste und regelmäßige Einkünfte erfüllt(31). Außerdem bestimmt Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2003/86, dass die Mitgliedstaaten abweichend von Art. 8 von einem Flüchtling nicht verlangen können, dass er sich während eines bestimmten Zeitraums in ihrem Hoheitsgebiet aufgehalten hat, bevor seine Familienangehörigen ihm nachreisen.
51. Aus der Richtlinie 2003/86, insbesondere aus deren Kapitel V, ist somit keine Grundlage dafür ersichtlich, die Anwendung der Begründung im Urteil A und S auf unbegleitete minderjährige Flüchtlinge zu beschränken.
52. Drittens ist ungeachtet dessen, dass das Urteil État belge bei der Auslegung und Anwendung der Richtlinie 2003/86 verfahrensmäßige Gleichbehandlung und Fairness fordert, um die Achtung des Familienlebens gemäß Art. 7 der Charta und die Rechte des Kindes gemäß Art. 24 Abs. 2 der Charta zu gewährleisten, die in dem betreffenden Fall gefundene Lösung im Licht des Sachverhalts, mit dem das damalige vorlegende Gericht befasst war, und der Begründung zu lesen, auf der die Lösung beruhte.
53. Diesbezüglich möchte ich hervorheben, dass im Urteil État belge lediglich festgestellt wird, dass der Vater der betroffenen minderjährigen Kinder Flüchtling war. Das Urteil enthält keine Angaben dazu, wann er den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gestellt hatte oder wann diese ihm zuerkannt worden war. Außerdem treffen die Gründe und der Tenor des Urteils gleichermaßen auf Kinder von Drittstaatsangehörigen und von Flüchtlingen zu. Das Urteil des Gerichtshofs enthält also weder eine Auslegung irgendeiner der zahlreichen Bestimmungen der Richtlinie 2003/86, die günstigere Bedingungen für Flüchtlinge vorsehen, noch ist es auf eine solche Bestimmung gestützt. Das Urteil befasst sich auch nicht mit der besonderen Situation bzw. dem „rechtlichen Schwebezustand“, in dem sich Flüchtlinge, die vom Recht auf Familienzusammenführung Gebrauch machen wollen, befinden(32), solange die Entscheidung über ihren Asylantrag noch aussteht.
54. Daraus folgt, dass gemäß Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86 für die Beurteilung, ob das Kind eines Flüchtlings ein Minderjähriger im Sinne dieser Bestimmung ist, der Zeitpunkt maßgeblich ist, zu dem der Asylantrag des Zusammenführenden gestellt wurde(33).
55. Bei Anwendung dieses Ansatzes auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens hätten XC und ihr Vater im April 2016, als er Asyl beantragte, im Hinblick auf ihr damaliges Alter und den deklaratorischen Charakter der Zuerkennung seiner Flüchtlingseigenschaft Anspruch auf Familienzusammenführung gemäß Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86 gehabt. Im Licht des Urteils A und S wäre es rechtswidrig, für die Beurteilung ihrer Minderjährigkeit auf den Zeitpunkt abzustellen, zu dem ihrem Vater die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde, und nicht auf den Zeitpunkt, zu dem die Flüchtlingseigenschaft entstand. Wäre es anders, könnte das Recht auf Familienzusammenführung von zufälligen und nicht vorhersehbaren Umständen abhängig gemacht werden, die in vollem Umfang den zuständigen nationalen Behörden und Gerichten des betreffenden Mitgliedstaats zuzurechnen wären und zu großen Unterschieden bei der Bearbeitung von Anträgen auf Familienzusammenführung zwischen den Mitgliedstaaten und innerhalb ein und desselben Mitgliedstaats führen(34). Ein solcher Ansatz liefe Art. 7 und Art. 24 Abs. 2 der Charta zuwider.
56. Anzumerken ist auch, dass XC den Antrag auf Familiennachzug zu ihrem Vater einen Monat, nachdem diesem die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden war, und somit frühzeitig innerhalb der vom Gerichtshof in Rn. 61 des Urteils A und S vorgesehenen Dreimonatsfrist gestellt hat.
57. Nach alledem ist die erste Frage meines Erachtens dahin zu beantworten, dass Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86 dahin auszulegen ist, dass das Kind eines Zusammenführenden, der als Flüchtling anerkannt worden ist, minderjährig im Sinne dieser Vorschrift ist, wenn es zum Zeitpunkt der Asylantragstellung des Zusammenführenden minderjährig war, aber vor dessen Anerkennung als Flüchtling volljährig geworden ist, sofern der Antrag auf Familienzusammenführung innerhalb von drei Monaten nach Anerkennung des Zusammenführenden als Flüchtling gestellt wurde.
B. Zweite Frage
58. Mit seiner zweiten Frage begehrt das vorlegende Gericht Auskunft über die Auslegung des Begriffs der „tatsächlichen … familiären Bindungen“ im Sinne von Art. 16 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2003/86.
59. Die Richtlinie 2003/86 enthält keine Definition dieses Begriffs. Art. 16 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2003/86 verweist hinsichtlich der Bedeutung und des Anwendungsbereichs auch nicht auf das Recht der Mitgliedstaaten. Wegen der Notwendigkeit einer einheitlichen Anwendung des Unionsrechts und des Gleichbehandlungsgrundsatzes muss Art. 16 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2003/86 in der gesamten Union eine autonome und einheitliche Auslegung erhalten. Diese Auslegung muss unter Berücksichtigung des Kontexts der Vorschrift und des mit der betreffenden Regelung verfolgten Ziels gefunden werden(35).
60. Die Mitgliedstaaten können(36) strengere Voraussetzungen als nur das Bestehen eines Eltern-Kind-Verhältnisses aufstellen. Andernfalls wäre Art. 16 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2003/86 überflüssig, weil die Bestimmungen in Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie genügen würden, in denen es um die „minderjährigen Kinder“ des Zusammenführenden geht. Da in Art. 16 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2003/86 von tatsächlichen ehelichen oder familiären Bindungen die Rede ist, ist der Anwendungsbereich dieser Bestimmung auch nicht auf das Problem der Scheinehen beschränkt, das in Art. 16 Abs. 2 und 4 der Richtlinie 2003/86 spezifisch geregelt ist(37).
61. In Analogie zu Art. 16 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2003/86 ergibt sich, dass Mitgliedstaaten einen Antrag auf Familienzusammenführung gemäß Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86 ablehnen können, wenn dieser „nur zu dem Zweck“ gestellt wird, dem betreffenden Kind die Einreise oder den Aufenthalt im Mitgliedstaat zu ermöglichen, ohne jede Absicht, tatsächliche familiäre Bindungen einzugehen(38). Art. 16 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2003/86 zielt meines Erachtens somit darauf ab, zu verhindern, dass in Missbrauchs- oder Täuschungsfällen Rechte aufgrund der Richtlinie gewährt werden(39).
62. Gemäß Art. 17 der Richtlinie 2003/86 muss ein Mitgliedstaat, wenn er einen Antrag auf Familienzusammenführung ablehnt, eine individualisierte Prüfung der Situation der betreffenden Familienangehörigen vornehmen und dabei alle in diesem Zusammenhang möglicherweise zu berücksichtigenden Interessen ausgewogen, angemessen und sachgerecht bewerten. Der zweite Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/86 stellt klar, dass Maßnahmen zur Familienzusammenführung, einschließlich der in Art. 16 der Richtlinie vorgesehenen, mit den Grundrechten in Einklang stehen müssen, insbesondere mit dem durch Art. 7 sowie Art. 24 Abs. 2 und 3 der Charta garantierten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens(40). Außerdem sieht Art. 18 der Richtlinie 2003/86 vor, dass der Zusammenführende und/oder seine Familienangehörigen im Fall der Ablehnung des Antrags auf Familienzusammenführung Rechtsbehelfe einlegen können.
63. Abgesehen davon, dass gemäß dem achten Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/86 der Lage von Flüchtlingen – und somit dem Umstand, dass XC und ihr Vater über einen erheblichen Zeitraum daran gehindert waren, ein „normales“ Familienleben zu führen – besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte, meine ich, dass es unangemessen und überzogen(41) wäre, wenn die betroffenen Personen in einem gemeinsamen Haushalt oder unter demselben Dach zusammenleben müssten, um Anspruch auf Familienzusammenführung zu haben. Unter Umständen kann auch nicht verlangt werden, dass sie einander finanziell unterstützen, da es ihnen möglicherweise an den materiellen Voraussetzungen dafür fehlt. Auch wenn die Familienzusammenführung „eine notwendige Voraussetzung dafür ist, dass ein Familienleben möglich ist“(42), schreibt die Richtlinie 2003/86 keinerlei Modell oder Norm dafür vor, wie das Familienleben gestaltet sein sollte; es genügt, dass es „tatsächlich“ besteht. Meines Erachtens ist es notwendig, eine übermäßig subjektive Beurteilung dessen, was „tatsächliche“ familiäre Bindungen oder ein „normales“ Familienleben ausmacht, zu vermeiden und sich stattdessen auf den Zweck des Art. 16 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2003/86 zu konzentrieren, um zu verhindern, dass die Richtlinie zu Erleichterung von Missbrauch oder Täuschung genutzt wird.
64. Jedenfalls ist es für junge Erwachsene völlig „normal“, von ihren Eltern und sonstigen Familienangehörigen getrennt zu wohnen. Da XC und ihr Vater getrennt gelebt haben, meine ich, dass insoweit gelegentliche Besuche und regelmäßige Kontakte jeglicher Art(43) ausreichen können, um ihnen die (Wieder‑)herstellung oder (Wieder‑)aufnahme ihrer familiären Bindungen zu ermöglichen. Diese Besuche oder Kontakte müssen von solcher Intensität sein, dass sie „zur Schaffung soziokultureller Stabilität [beitragen], die die Integration Drittstaatsangehöriger in dem Mitgliedstaat erleichtert“(44).
65. Nach alledem ist die zweite Frage meines Erachtens dahin zu beantworten, dass ein rechtliches Eltern-Kind-Verhältnis allein nicht ausreicht, um tatsächliche familiäre Bindungen im Sinne von Art. 16 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2003/86 zu begründen. Wird die Familienzusammenführung bezüglich eines minderjährigen Kindes beantragt, das in der Zwischenzeit volljährig geworden ist, sind der Zusammenführende und sein Kind nicht verpflichtet, in einem gemeinsamen Haushalt oder unter demselben Dach zusammenzuleben. Es genügen gelegentliche Besuche und regelmäßige Kontakte jeglicher Art, die ihnen die (Wieder‑)herstellung oder (Wieder‑)aufnahme ihrer familiären Bindungen ermöglichen.
VI. Ergebnis
66. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die Vorlagefragen des Bundesverwaltungsgerichts (Deutschland) wie folgt zu beantworten:
1. Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung ist dahin auszulegen, dass das Kind eines Zusammenführenden, der als Flüchtling anerkannt worden ist, minderjährig im Sinne dieser Vorschrift ist, wenn es zum Zeitpunkt der Asylantragstellung des Zusammenführenden minderjährig war, aber vor dessen Anerkennung als Flüchtling volljährig geworden ist, sofern der Antrag auf Familienzusammenführung innerhalb von drei Monaten nach Anerkennung des Zusammenführenden als Flüchtling gestellt wurde.
2. Ein rechtliches Eltern-Kind-Verhältnis allein reicht nicht aus, um tatsächliche familiäre Bindungen im Sinne von Art. 16 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2003/86 zu begründen. Wird die Familienzusammenführung bezüglich eines minderjährigen Kindes beantragt, das in der Zwischenzeit volljährig geworden ist, sind der Zusammenführende und sein Kind nicht verpflichtet, in einem gemeinsamen Haushalt oder unter demselben Dach zusammenzuleben. Es genügen gelegentliche Besuche und regelmäßige Kontakte jeglicher Art, die ihnen die (Wieder‑)herstellung oder (Wieder‑)aufnahme ihrer familiären Bindungen ermöglichen.