Sechs Jahre Alarm Phone: Die Kämpfe auf dem Mittelmeer gehen weiter

Photo: Chris Grodotzki/sea-watch.org

Am 11. Oktober 2020 wird das Alarm Phone sechs Jahre alt. Unser Netzwerk aus über 200 Aktivist*innen, die auf beiden Seiten des Mittelmeeres verteilt sind, hat in allen drei Regionen insgesamt über 3000 Booten in Seenot geholfen. Seit Oktober 2014 halten wir das Projekt am Laufen, 24 Stunden, 7 Tage die Woche – ohne Pause. Die fortwährende Gewalt des Grenzregimes, aber vor allem die beständigen Kämpfe der Menschen on the move haben dazu geführt, dass wir Tag und Nacht wachsam sein müssen, immer bereit, solidarisch mit denen zu sein, die das Meer überqueren wollen.

Wir haben Tausende von Anrufen und Nachrichten erhalten, vor allem von Menschen in Seenot, aber auch von ihren Freund*innen, Partner*innen und Verwandten. Im Laufe der Jahre wurden wir so zu Zeug*innen eines gewalttätigen Backlashes nach dem historischen Zusammenbruch des europäischen Grenzregimes im Jahr 2015. Wir haben massenhaft Menschenrechtsverletzungen dokumentiert, Angriffe auf Boatpeople von denen, die offiziell vor Ort waren, um zu retten. Wir haben Push-backs durch Geisterschiffe oder Handelsschiffe dokumentiert sowie das Zurückschaffen von Tausenden von Menschen an die Orte, von denen sie zu fliehen versuchten. Wir haben Nachrichten von denjenigen erhalten, die in unmenschlichen Gefangenenlagern inhaftiert sind und ihre Freiheit und Würde fordern. Wir mussten den Stimmen in Todesangst zuhören, kurz bevor sie vom Meer zum Schweigen gebracht wurden, und den Stimmen derjenigen, die das Meer in einen Friedhof verwandeln.

Viele dieser Stimmen und Geschichten des Leidens bleiben uns in Erinnerung und sie verfolgen uns manchmal sogar. Dennoch setzen wir unseren Kampf fort, gemeinsam. Wir kämpfen weiter, weil wir nicht akzeptieren, dass eines der am besten überwachten Meere dieser Welt so viele Leben kostet und Menschen gewaltsam verschwinden. Wir machen weiter, weil es für die Menschen immer noch keine Alternativen zu den oft seeuntüchtigen Booten gibt, um Sicherheit und Freiheit zu finden. Wir machen weiter, weil die europäischen Mitgliedstaaten und Institutionen alles tun, was sie können, um Migration und Solidarität zu kriminalisieren. Weil sie versuchen, das Mittelmeer in eine Todeszone zu verwandeln, um diejenigen abzuschrecken, die das Mittelmeer weiterhin überqueren müssen oder wollen.

Wie würde das Mittelmeer heute aussehen ohne die Kämpfe der Migration und Solidarität, die sich in den letzten Jahren ereignet haben? Wie würde es ohne die hartnäckigen Wanderbewegungen von Menschen aussehen, die durch ihren Willen zur Flucht neue Korridore eröffnet haben? Ohne die Kreativität und Ausdauer der zivilen Rettungsflotte, die trotz aller Versuche, sie zu blockieren und zu kriminalisieren, immer wieder auf das Meer zurückkehrt? Ohne die “Augen des Mittelmeers” – die Flugzeuge, die sich dagegen wehren, festgesetzt zu werden und in die Lüfte abheben, um gefährdete Boote aufzuspüren und die Abschreckungsmaßnahmen der EU-Staaten beobachten? Wie würde das Meer heute aussehen ohne das Alarm Phone, das Teil der bestehenden Underground Railroad für Migrant*innen geworden ist?

‘Hallo mein Freund’ – so antworten wir oft am Telefon denen, die zu ertrinken drohen. In den letzten sechs Jahren haben wir viele Freund*innen gewonnen, aber auch verloren. Wir versprechen, dass wir Tag und Nacht am Telefon bleiben werden, um ihnen zuzuhören, wo immer sie auch sind.

Unser Kampf auf dem Mittelmeer ist ein Kampf gegen gewalttätige Grenzen, für die Bewegungsfreiheit, für Gleichberechtigung und globale Gerechtigkeit. Mit jeder Telefonschicht stehlen wir aus der Festung einen Stein und bauen daraus statt dessen eine Brücke.

Alarm Phone, 11. Oktober 2020