Ginge es nach dem Grundgesetz und nach den internen Sicherheitseinschätzungen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bamf), müssten die meisten Menschen, die aus Afghanistan nach Deutschland fliehen, hier bleiben dürfen. Doch es geht bei den Asylentscheidungen nicht nach den Buchstaben des Gesetzes. "Eigentlich geben uns das Grundgesetz und das Asylrecht vor, wer bleiben darf und wer nicht. Dass jetzt so viele Afghanen abgelehnt werden, ist politisch so gewollt." Das sagt ein langjähriger Mitarbeiter des Bamf, der in der Behörde an verschiedenen Stellen eingesetzt war und um seine Zukunft fürchtet, wenn bekannt wird, wie er heißt. Sein Vorwurf: Wider besseres Wissen werden Menschen in ein lebensgefährliches Land zurückgeschickt, weil die Bundesregierung es so fordert. 

Ein Indiz hierfür liefert der jährliche Geschäftsbericht der Asylbehörde. Der weist für jedes Herkunftsland eine sogenannte Gesamtschutzquote aus. Nimmt man nur die offizielle Zahl, gibt es kaum einen Unterschied. Nach dieser bekamen im vergangenen Jahr 47,8 Prozent aller afghanischen Flüchtlinge einen Asylstatus und im ersten Halbjahr 2016 immerhin noch 44,6 Prozent. 

Doch sind in diesen Zahlen auch all die Fälle enthalten, die das Bamf gar nicht inhaltlich prüft, sondern sofort weiterleitet. Denn wer die EU in einem anderen Land als Deutschland zuerst betrat, gilt als sogenannter Dublin-Fall. Deren Anträge werden vom Bamf nicht bearbeitet, sondern an das entsprechende Land geschickt. Rechnet man diese sogenannten formellen Entscheidungen aus der Schutzquote heraus, ergibt sich ein völlig anderes Bild: Während 2015 noch 78 Prozent der Asylbewerber einen positiven Bescheid aus dem Bamf bekamen, waren es 2016 nur noch 52 Prozent. Seit Anfang 2016 bekommt also nur noch höchstens jeder zweite afghanische Asylbewerber, dessen Antrag inhaltlich bearbeitet wurde, Schutz in Deutschland.

Das bedeutet unter anderem, dass ungefähr 12.000 Menschen, die bereits in Deutschland sind, wieder nach Afghanistan abgeschoben werden sollen.

Offiziell wird das damit begründet, dass die Sicherheitslage in Afghanistan sich verbessert habe. Doch interne Dokumente und Aussagen von Mitarbeitern, die ZEIT ONLINE vorliegen, belegen, dass das nicht stimmt. Vielmehr sinkt die Quote deshalb, weil die Politik gezielt Druck auf das Amt ausübt, Asylanträge von Afghanen abschlägig zu bescheiden. 

Afghanistan ist in den vergangenen zwei Jahren nicht sicherer geworden, im Gegenteil. Die UN-Mission für Afghanistan verzeichnete im ersten Halbjahr 2016 den höchsten Stand ziviler Opfer des bewaffneten Konflikts seit 2009: Infolge des Bürgerkrieges starben demnach 1.601 Menschen, 3.565 wurden verletzt. Bereits im Jahr 2015 hatte sich laut Amnesty International die Sicherheitslage "massiv verschlechtert"

Zahl der zivilen Opfer steigt

Im Bamf ist das kein Geheimnis. Die internen Herkunftsländerleitsätze (HKL), in denen die Behörde die Lage in den Ländern der Flüchtlinge beurteilt, zeichnen ein düsteres Bild für Afghanistan. Darin heißt es: "In allen Teilen Afghanistans herrscht ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt in Form von Bürgerkriegsauseinandersetzungen und Guerillakämpfen zwischen afghanischen Sicherheitskräften und den Taliban sowie anderen oppositionellen Kräften." Menschenrechtsverletzungen seien weit verbreitet und würden kaum verfolgt. Die Versorgung mit Lebensmitteln sei schwierig. Grundsätzlich hätten zwar die meisten Menschen Zugang zu Nahrung. Doch immerhin die Hälfte aller Kinder in Afghanistan seien "durch Mangelernährung langfristig geschädigt". 

Attentate, Bombenanschläge und Gewalt sind im ganzen Land an der Tagesordnung. Das weiß auch das Bamf. "Seit der zweiten Jahreshälfte 2012 steigt die Zahl der zivilen Opfer an", ein Ende des Anstiegs sei nicht in Sicht, heißt es in den internen Leitlinien. Besonders gefährdet sind demnach Frauen. Zwangsheirat, häusliche Gewalt, Vergewaltigungen, Ehrenmorde – die Liste der Gefahren, die der weiblichen Hälfte der Bevölkerung neben dem Krieg droht, ist lang. Aussicht auf Schutz haben die Opfer kaum. Es gebe nur wenige Frauenhäuser und praktisch keine Hilfe von der Regierung oder von der Gesellschaft. 

Die Bamf-Analyse zeigt eine rudimentäre Gesellschaft, die nach Jahrzehnten des Krieges kaum noch Bindungen und Schutz bieten kann. Kinder, Homosexuelle, Kritiker von regionalen Machthabern – niemand von ihnen kann auf Hilfe hoffen. Auch medizinische Versorgung gibt es kaum, da alles fehle, was es dazu braucht. 

Einen sachlichen Grund kann es deshalb kaum geben, warum seit 2016 weniger Menschen aus Afghanistan in Deutschland Schutz gewährt wird, obwohl gleichzeitig die Zahl der afghanischen Asylbewerber steigt. Aber es gibt einen politischen Grund.

Anstieg der Flüchtlingszahl soll "Einhalt" geboten werden

Thomas de Maizière hat ihn formuliert, aus Angst vor der Flüchtlingsdebatte hierzulande. Im Oktober 2015, zum Höhepunkt der Flüchtlingskrise in Deutschland, sagte er: Afghanistan stehe inzwischen bei der Zahl der Flüchtlinge auf Platz zwei der Liste der Herkunftsländer. Das sei inakzeptabel. "Wir sind uns einig mit der afghanischen Regierung, das wollen wir nicht." 

Beim Innenministertreffen der EU am 9. November wiederholte der Innenminister seine Aussage: "Unsere (...) Sorge ist im Moment in Europa die große Zahl der Flüchtlinge aus Afghanistan. Wir wollen, dass in Afghanistan das Signal ankommt: 'Bleibt dort! Wir führen euch aus Europa (...) direkt nach Afghanistan zurück!'" Sein Ziel sei es, dem Anstieg der Flüchtlingszahl aus Afghanistan "Einhalt" zu gebieten, wie es das Innenministerium auf seiner Website formuliert.