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Seit Monaten versuchen Menschen, über Belarus in die EU zu gelangen. Allein im September hat der polnische Grenzschutz nach eigenen Angaben mehr als 9.000 Personen am illegalen Eintritt in die EU gehindert. Der belarussische Autokrat Alexander Lukaschenko will so offenbar die EU unter Druck setzen. Die polnische Regierung hat den Ausnahmezustand ausgerufen und das Grenzgebiet zu Belarus zur Sperrzone erklärt, zu der weder Medienvertreterinnen noch Hilfsorganisationen Zugang haben. An der Grenze sitzen noch immer zahlreiche Geflüchtete fest – Polen lässt sie nicht rein, Belarus nicht zurück. Mindestens fünf Menschen sind bereits ums Leben gekommen, einige Medien berichten von sechs Toten.

ZEIT ONLINE: Frau Kommissarin Johansson, Polen hindert Geflüchtete offenbar an der Einreise über die Grenze zu Belarus und verwehrt ihnen trotz einer Aufforderung des Europäischen Gerichtshofs humanitäre Hilfe. Mehrere Menschen sind bereits im Grenzgebiet gestorben – eine Katastrophe mit Ansage. Warum hat die EU das zugelassen? 

EU-Kommissarin Ylva Johansson © Frederick Florin/​AFP/​Getty Images

Ylva Johansson: Rufen wir uns erst einmal in Erinnerung, was hier vor sich geht. Wir haben es mit einem verzweifelten Lukaschenko-Regime zu tun, das durch die EU-Sanktionen schwer unter Druck ist und das nun Menschen in einer völlig inakzeptablen Weise ausnutzt. Die Belarussen behandeln die Migranten zunächst wohlwollend, drängen sie dann aber an die EU-Grenze und lassen sie nicht mehr zurück. Wir als EU müssen in diesem Fall hart bleiben und unsere Grenzen schützen. Aber gleichzeitig müssen wir natürlich die Grundrechte einhalten und uns bewusst sein, dass wir es mit Menschen zu tun haben.

ZEIT ONLINE: Polen scheint mit dem zweiten Punkt nicht unbedingt einverstanden zu sein, wenn man sich den Umgang mit den Geflüchteten ansieht. Worum geht es der EU also wirklich? Um ein starkes Signal an Lukaschenko oder darum, humanitäre Werte hochzuhalten?

Johansson: Natürlich war es ein schrecklicher Moment, als an unseren Grenzen tatsächlich Menschen gestorben sind. Deshalb bin ich nach Warschau gereist und habe lange mit dem polnischen Innenminister Mariusz Kamiński gesprochen. Es war ein offenes, ehrliches und sehr interessantes Gespräch. Er hat mich über den aktuellen Stand der Dinge in Kenntnis gesetzt und mir mitgeteilt, was bisher darüber bekannt ist, wie diese Menschen ihr Leben verloren haben. Und er hat versichert, dass es eine gründliche Untersuchung geben wird.

ZEIT ONLINE: Aber Polen verstößt gegen EU- und Völkerrecht. Menschen werden aktiv daran gehindert, Asyl zu beantragen, und offenbar auch über die Grenze nach Belarus zurückgedrängt. 

Johansson: Ich habe die Befürchtung geäußert, dass die polnischen Streitkräfte an Push-Backs beteiligt waren. Der Minister hat das bestritten.

ZEIT ONLINE: Amnesty International hat Belege dafür gesammelt, dass es solche Push-Backs gegeben hat.

Johansson: Meine Botschaft an Polen ist: Es ist sehr schwierig zu klären, ob Polen sich an geltendes EU-Recht hält, solange es keine Transparenz gibt. Deshalb setze ich auf Dialog. Ich habe dem Minister gesagt, dass wir Polen beim Schutz der Grenzen unterstützen werden, aber dafür brauchen wir einen besseren Einblick. Es ist wichtig, dass die Medien und Nichtregierungsorganisationen Zugang zum Grenzgebiet haben, damit wir wissen, wie dieser Grenzschutz tatsächlich aussieht.

ZEIT ONLINE: Die EU hat also keine genaue Kenntnis, was  dort passiert? 

Johansson: Nein. Ich habe vorgeschlagen, dass Polen Verbindungsbeamte der EU an den Grenzen zulässt. Das wäre sowohl für mehr Transparenz wichtig, als auch um zu zeigen, dass es sich um eine europäische Außengrenze handelt.

ZEIT ONLINE: Und die polnischen Behörden haben zugestimmt? 

Johansson: Ich hoffe, dass sie es in Betracht ziehen werden. Es wäre ein guter Weg, um zu zeigen, dass dies nicht nur eine Grenze Polens ist, sondern auch eine Außengrenze der EU. Wir haben vereinbart, dass ich in dieser Woche eine Delegation nach Polen schicke, um den Dialog über diese Fragen fortzusetzen.

ZEIT ONLINE: Es klingt, als sei die EU gegenüber Polen ziemlich machtlos. Nach dem Treffen haben Sie getwittert: "Polen als starkes EU-Mitglied kann zeigen, dass die Fähigkeit, die Grenze zu schützen, mit der Fähigkeit, die EU-Grundrechte zu respektieren, Hand in Hand gehen kann." Warum "kann zeigen" und nicht "muss zeigen" oder zumindest "sollte zeigen"?  

Johansson: Eins nach dem anderen. Natürlich sollte Polen zeigen, dass wir die EU sind, aber lassen Sie uns nicht vergessen, dass Lukaschenko der eigentlich Verantwortliche ist. Er ist derjenige, der die Menschen in diese schwierige und gefährliche Lage gebracht hat. Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass er hier der Böse ist. Aber wir sind nicht Belarus. Wir sind die Europäische Union. Wir müssen uns an Werte und Konventionen halten. Deshalb müssen wir auch hohe Bedingungen an den Schutz unserer Außengrenzen stellen. Und das war auch meine Botschaft, als ich mich mit dem Innenminister getroffen habe. 

ZEIT ONLINE: Warum haben Sie die polnische Regierung nicht öffentlich dafür kritisiert, dass sie Geflüchtete als Terroristen kriminalisiert und sogar gefälschtes Videomaterial verbreitet hat, in dem einer von ihnen beschuldigt wird, Sex mit einem Tier gehabt zu haben?

Johansson: Diese Art von Sprache wurde während meines Gesprächs mit dem polnischen Innenminister nicht gebraucht. 

ZEIT ONLINE: Sie haben das auch nicht hinter verschlossenen Türen mit ihm besprochen? 

Johansson: Nein. Wir hatten eine Menge anderer Themen zu besprechen.

ZEIT ONLINE: Die EU vertritt den Standpunkt, dass nur schutzbedürftige Geflüchtete die Grenze überschreiten dürfen. Wie wollen Sie sicherstellen, dass keiner von ihnen abgewiesen wird? In Polen funktioniert es ja offenbar nicht.

Johansson: Das sind Dinge, über die mein Team diese Woche mit den polnischen Behörden sprechen wird. Es ist wichtig, den Menschen zu zeigen, dass wir nicht nur unsere Grenzen schützen, sondern auch unsere Werte. 

ZEIT ONLINE: Es gäbe doch auch andere Möglichkeiten für die EU, den Druck auf Belarus zu erhöhen, zum Beispiel durch weitere Sanktionen?

Johansson: In der vergangenen Woche haben wir Sanktionen vorgeschlagen, die von der Kommission angenommen wurden und nun dem Europäischen Rat vorliegen. Es gibt natürlich noch weitere Maßnahmen, die wir diskutieren müssen. Aber ist auch wichtig, zu erkennen, dass unsere präventive Arbeit erfolgreich war. Die Zusammenarbeit mit dem Irak beispielsweise, um Flüge nach Belarus auszusetzen und leere Flugzeuge zu schicken, um ihre Staatsangehörigen zurück nach Hause zu bringen. Es ist wichtig, mit Drittländern zusammenzuarbeiten, um zu verhindern, dass Menschen in diese Falle gelockt werden.