Zurück in keine Heimat – Seite 1

Es könnte das vorerst letzte Fest sein, dass die Familie Al-Ata gemeinsam feiert. Die Wohnung ist zum islamischen Fastenmonat Ramadan geschmückt, an einer der Wände hängt ein gerahmtes Bild der Kaaba, des heiligen Schreins in Mekka. Draußen vor dem Fenster fällt Schneeregen. Mitte April.

"Wir werden nie zu einem Regime zurückkehren, das meinen Vater, meine zwei Cousins und viele Familienmitglieder umgebracht hat. Baschar al-Assad hat keinen Krieg gewonnen, und er hat auf keinen Fall Sicherheit gebracht", sagt Mohammed Ahmed al-Ata, der in der syrischen Hauptstadt Damaskus zur Welt kam. Er ist 18 Jahre alt.

Die Al-Atas haben es bis hierher geschafft, bis in diese kleine Wohnung in der dänischen Stadt Vejle, gut zwei Autostunden von Kopenhagen entfernt. Um Mohammed herum sitzen auf bunten Matratzen seine Mutter, der ältere Bruder und die beiden jüngeren Schwestern. Am 25. März haben sie einen Brief bekommen, der die Familie darüber informiert, dass die Aufenthaltsgenehmigung der Mutter und die der beiden Mädchen nicht verlängert wurde. Die drei müssen nach Syrien zurück, so steht es in dem Brief. In die alte Heimat.

"Ich habe keine Erinnerung an Syrien. Wir haben keinen einzigen Freund dort", sagt die zehnjährige Sahed, in fließendem Dänisch. "Ich habe alle meine Freunde hier in Vejle", sagt ihre zwölfjährige Schwester Tasnim.

Nach Einschätzungen der dänischen Behörden droht den beiden Brüdern der Zwangsdienst in der syrischen Armee, sollten sie je zurückkehren. Deshalb dürfen sie bleiben. Für Mutter Sabrie mit ihren Töchtern, deren Mann mutmaßlich im Jahr 2012 von einem Scharfschützen des Assad-Regimes getötet wurde, gilt das nicht. Seit 2016 lebt die Familie gemeinsam in Dänemark. Nun, fünf Jahre später, droht ihr die Trennung.

Dänemarks Regierung bricht mit einem europäischen Konsens: Wer wie die Al-Atas vor dem Assad-Regime, vor Fassbomben, russischen Kampfjets und der Terrororganisation "Islamischer Staat" (IS) aus Syrien in die EU geflüchtet war, war zumindest vor Abschiebung sicher. Denn die Kämpfe gehen weiter. Und Sicherheit für Rückkehrer gibt es nicht. Europa war sich in dieser Frage lange einig.

Quelle: Eurostat Media Support © ZEIT-Grafik

Nun geht ausgerechnet Dänemark einen anderen Weg, ein Land, das über Jahrzehnte für seine liberale Einwanderungspolitik bekannt war. Die regierenden Sozialdemokraten verschärfen seit Jahren den Kurs in der Migrationsfrage. Und sind damit bei Wahlen enorm erfolgreich. Was bislang kaum bekannt ist: Dänemark ist nicht das einzige Land, das Abschiebungen nach Syrien vorbereitet. Die deutsche Bundesregierung arbeitet an ähnlichen Plänen.

Die Familie Al-Ata kommt aus Daraja, einem Vorort der syrischen Hauptstadt. Der dänische Rat für Flüchtlingsfragen hat die Region rund um Damaskus im Februar als "sicher" eingestuft. Sicher genug, um Menschen dorthin zurückzuschicken. Seit einiger Zeit gebe es rund um die Hauptstadt keine Kampfhandlungen mehr, Zivilisten erführen kaum mehr willkürliche Gewalt. So argumentiert der Rat, der zwar als unabhängige Behörde gilt, aber dem Ausländer- und Integrationsministerium in Kopenhagen untersteht. Bis Ende des Jahres könnten 500 syrische Flüchtlinge in Dänemark von der neuen Regelung betroffen sein.

Die Situation in Syrien ist nach wie vor lebensgefährlich

Obwohl die Ausländerbehörde die Aufenthaltsgenehmigung von Sabrie und ihren beiden Töchtern nicht verlängert hat, können sie derzeit nicht einfach in ein Flugzeug nach Syrien gesetzt werden, wie es etwa bei abgelehnten Asylbewerbern aus Afghanistan und dem Irak geschieht. Denn obwohl die dänische Regierung das Umland von Damaskus als sicher einschätzt, will sie nicht im Alleingang und ohne ihre EU-Partner diplomatische Beziehungen zum Assad-Regime aufnehmen. Ohne einen Ansprechpartner in Syrien kann es jedoch keine Abschiebungen geben.

Daher liegt die Zukunft für Teile der Al-Ata-Familie wohl in einem Abschiebezentrum, weit entfernt von ihrem Zuhause in Vejle. Mutter und Töchter dürften das Zentrum über Nacht nicht verlassen, die Mädchen nicht mehr zur Schule gehen. Und das auf unbestimmte Zeit. "Trotzdem ist es besser, dass sie hier in Sicherheit sind, da können wir sie wenigstens besuchen. Falls unsere Mutter zurückgeschickt werden sollte, riskiert sie, verhaftet und gefoltert zu werden", sagt Mohammed al-Ata.

Was er und seine Familie gerade erleben, hat seinen Ursprung in einem "Paradigmenwechsel", den die dänischen Sozialdemokraten im Jahr 2019 gemeinsam mit mehreren rechten Parteien im Parlament beschlossen haben. Durch ihren harten Kurs in der Einwanderungspolitik haben die Sozialdemokraten unter Ministerpräsidentin Mette Frederiksen dazu beigetragen, die Anzahl der Mandate der rechten Dänischen Volkspartei bei den letzten Parlamentswahlen zu halbieren. Die Kombination aus Abschottung und klassischer Sozialpolitik gilt bei den dänischen Sozialdemokraten als neue Erfolgsformel. Die neuen Abschiebepläne sind der nächste Schritt.

Heute leben etwa 44.000 Syrer in Dänemark. In Deutschland hingegen haben in den vergangenen Jahren 654.000 Menschen aus Syrien einen Asylantrag gestellt. Und ihn in der Regel bewilligt bekommen. Die Anerkennungsquoten lagen häufig weit über 90 Prozent, denn allen Beteiligten war klar: Der Bürgerkrieg ist ein veritabler Fluchtgrund, und die Situation in Syrien ist nach wie vor lebensgefährlich.

Recherchen der ZEIT zeigen nun jedoch, dass auch die deutsche Bundesregierung daran arbeitet, syrische Flüchtlinge in ihre Heimat abzuschieben. Dabei soll es zuerst um verurteilte Straftäter und islamistische Gefährder gehen. In Berliner Regierungskreisen ist schon länger von einem "Denkverbot" die Rede, das es zuvor zu überwinden gelte: ebenjenem gesellschaftlichen Konsens, dem zufolge Abschiebungen nach Syrien kategorisch abzulehnen sind. Derzeit halten sich laut Schätzungen mehrere Tausend "vollziehbar ausreisepflichtige" Syrer in Deutschland auf.

Es ist der Fall von Abdulla H., der die aktuelle Debatte angestoßen hat. Der junge Syrer hatte am 4. Oktober 2020 ein schwules Pärchen in Dresden mit einem Messer angegriffen, einen der beiden Männer tötete er, der andere wurde schwer verletzt. Abdulla war den Behörden schon vorher als Anhänger des "Islamischen Staates" bekannt. Ein Terroranschlag. Der (nicht zum ersten Mal) die Fragen aufwarf: Warum ist jemand wie Abdulla H. überhaupt noch hier? Hat ein mutmaßlicher Terrorist wie H. nicht das Recht auf Asyl in Deutschland verwirkt?

In der Folge des Anschlags von Dresden ließ die Innenministerkonferenz (IMK) im Dezember 2020 den Abschiebestopp für syrische Flüchtlinge auslaufen. Theoretisch sind Abschiebungen seitdem möglich. Politisch jedoch gab es dafür bislang kaum Rückhalt.

Denn die Lage in Syrien ist nach wie vor desolat. Der ZEIT liegt dazu ein 37 Seiten langer vertraulicher Bericht des Auswärtigen Amtes vor. Das Papier ist datiert auf Dezember 2020, es soll den Innenbehörden der Länder als Entscheidungshilfe in Abschiebefragen dienen. An einer Stelle heißt es, die "Bedrohung persönlicher Sicherheit bleibt das größte Rückkehrhindernis", sie sei "grundsätzlich nicht auf einzelne Landesteile beschränkt". Damit wäre eine Abschiebung nach Syrien kaum mit den Genfer Flüchtlingskonventionen zu vereinbaren: Niemand darf in ein Land abgeschoben werden, in dem ihm aufgrund von Ethnie, Geschlecht, Religion oder politischer Orientierung Gefahr droht.

"Sie waschen Assad und seine Gräueltaten rein"

Das Bild, das der Bericht zeichnet, ist erschütternd. In allen Landesteilen Syriens – egal wer dort gerade herrsche – seien schwere Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung. In den Gegenden, die das Assad-Regime kontrolliert, komme es zu willkürlichen Verhaftungen, Tötungen und Zwangsrekrutierungen. Wer auch nur für oppositionell gehalten wird, für den sei das Risiko hoch, gefoltert zu werden oder ganz zu verschwinden. Der Schutz vor staatlicher Gewalt und Willkür sei "deutlich verringert". Das Regime führe einen verbrecherischen Krieg gegen die Zivilbevölkerung, der IS konsolidiere sich. Eine politische Lösung sei "nicht absehbar".

Trotzdem machen vor allem Landesinnenminister der CDU Bundesinnenminister Horst Seehofer und seinen Leuten Druck, endlich Vorschläge zu präsentieren, wie straffällig gewordene Syrer außer Landes gebracht werden könnten. Sie haben, anders als das Auswärtige Amt, nicht zuerst die Situation in Syrien im Blick, sondern die Sicherheitslage im eigenen Land. Und wohl auch die Wahlen im Herbst. Zur nächsten IMK im kommenden Juni sollen nun konkrete Ideen vorgestellt werden.

Auf Anfrage der ZEIT antwortet das Bundesinnenministerium zwar noch unbestimmt: "Nach dem Auslaufen des Abschiebestopps durch die IMK wird derzeit geprüft, wie sich Straftäter und islamistische Gefährder mit syrischem Pass abschieben lassen. (...) Auf diese Weise wollen die Beamten von einem generellen Abschiebestopp hin zu einer Überprüfung jedes Einzelfalls bei Straftätern und Gefährdern." Zahlreiche Gespräche mit Beamten auf Länder- und Bundesebene ergeben jedoch ein detaillierteres Bild. Zwar entsteht auf diese Weise nur ein Zwischenstand der Beratungen. Aber er belegt, dass die Abschiebepläne der Bundesregierung weiter gediehen sind als bisher bekannt.

Im Ausschlussverfahren haben die zuständigen Beamten in den vergangenen Monaten die einzelnen Regionen innerhalb Syriens daraufhin geprüft, ob eine Abschiebung dorthin möglich ist. Sie mussten sich eingestehen, dass kaum ein Teil des Landes infrage kommt. Im Südwesten rund um Damaskus herrscht Assad, und mit ihm will wie die dänische auch die deutsche Regierung nicht kooperieren. Die Region Idlib im Nordwesten ist noch immer unter der Kontrolle islamistischer Terrormilizen, die als Partner nicht infrage kommen. Im Norden kontrolliert die Türkei einen 30 Kilometer breiten Streifen an der Grenze zum eigenen Staatsgebiet – doch der politische Preis für eine Einigung mit Ankara über Abschiebungen in diesen Teil Syriens ist den Deutschen zu hoch. Die einzige, allerdings sehr kleine Personengruppe, derer man sich fast ohne Probleme entledigen könnte: in Deutschland enttarnte Schergen des Assad-Regimes, die in entsprechenden Regionen wohl nichts zu befürchten hätten.

Für alle anderen Gruppen – und um die geht es in erster Linie – bliebe nur der Nordosten an der Grenze zum Irak. Dort haben die syrischen Kurden die Kontrolle, auch wenn der Einfluss des Assad-Regimes zuletzt wuchs. Anfang des Jahres sondierten die Deutschen mithilfe von Verbindungsbeamten des Bundeskriminalamts in Istanbul die Lage in den Kurdengebieten. Sie kamen zu dem vorläufigen Ergebnis, dass Abschiebungen hierher möglich sein könnten. Ebenso ist aus einem CDU-geführten Landesinnenministerium zu hören, dass derzeit auch die kurdischen Gebiete im Nordirak und in der Türkei für die Abschiebung von Syrern in Betracht gezogen werden.

Da islamistische Gefährder wie der Dresdner Attentäter Abdulla H. in Deutschland häufig bereits im Gefängnis sitzen, erwägen die Beamten, Straftätern mit syrischem Pass eine Verkürzung der Haft hierzulande anzubieten, wenn sie sich im Gegenzug freiwillig dazu bereiterklären, das Land zu verlassen. Die rechtlichen Möglichkeiten dafür bietet die Strafprozessordnung. In den vergangenen Monaten gab es jedoch unterschiedliche Aussagen über das mögliche Zielland einer solchen Aktion: Die Gefährder müssten demnach nicht unbedingt nach Syrien ausreisen, wo ihnen unter dem Assad-Regime Folter und die Todesstrafe drohen. Stattdessen kämen auch Drittstaaten wie die Türkei infrage; vorausgesetzt, die dortigen Behörden erklärten sich mit einem solchen Deal einverstanden.

Der Grünen-Außenpolitiker Omid Nouripour ist empört über die Pläne der Bundesregierung: "Seit drei Jahren werben Assad und seine russischen Unterstützer damit, dass das Land wieder sicher sei, weil das Regime gewonnen habe. Wenn die Innenministerien genauso argumentieren, waschen sie Assad und seine Gräueltaten rein."

Noch ist nicht klar, welche konkreten Ideen das Bundesinnenministerium den Ländern im Juni vorlegen wird. Doch schon jetzt zeichnet sich ab, dass Dänemark nicht allein dasteht: Auch für Deutschland sind Abschiebungen nach Syrien kein Tabu mehr.