13.07.2021

Zum Ende der Legis­la­tur­pe­ri­ode zieht PRO ASYL eine kri­ti­sche Bilanz zum Fami­li­en­nach­zug für Geflüch­te­te und wirft der schwarz-roten Koali­ti­on vor, das Zusam­men­kom­men von getrenn­ten Flücht­lings­fa­mi­li­en sys­te­ma­tisch zu ver­hin­dern und Müt­ter, Väter und Kin­der in schier end­lo­se War­te­schlei­fen zu ver­ban­nen. Aber: Das Grund­recht auf Fami­lie gilt für alle, das War­ten muss ein Ende haben.

Zum Ende der schwarz-roten Regie­rung müs­sen wir fest­stel­len, dass das SPD-geführ­te  Aus­wär­ti­ge Amt  jede erdenk­li­che Hür­de errich­tet, um Flücht­lings­fa­mi­li­en zu tren­nen. Das gilt für Flücht­lin­ge, die nach der Gen­fer Flücht­lings­kon­ven­ti­on aner­kannt wur­den, eben­so wie für sub­si­di­är Geschütz­te: Visums­ver­fah­ren ver­zö­gern sich auf­grund büro­kra­ti­scher Hür­den oder kaum zu erfül­len­der Voraussetzungen.
Und so war­ten wei­ter­hin Tau­sen­de von Men­schen aus Syri­en, Afgha­ni­stan, Eri­trea  und ande­ren Län­dern, die in Deutsch­land Schutz gefun­den haben,  dar­auf, dass ihre Fami­li­en­mit­glie­der die gefähr­li­chen Hei­mat­län­der oder Flücht­lings­la­ger ver­las­sen und nach Deutsch­land kom­men kön­nen. Die­ses jah­re­lan­ge War­ten pran­gert PRO ASYL an: „Das War­ten muss ein Ende haben. Fami­li­en gehö­ren zusam­men“, so Gün­ter Burk­hardt, Geschäfts­füh­rer von PRO ASYL.

Es fehlt der poli­ti­sche Wille

Auf Betrei­ben der CDU/CSU war der Fami­li­en­nach­zug  zu sub­si­di­är Geschüt­zen im Jahr 2016 zunächst ganz aus­ge­setzt und dann ab dem 1. August 2018 auf maxi­mal 1.000 Men­schen begrenzt wor­den. Doch selbst die­ses gerin­ge Kon­tin­gent wur­de in den ver­gan­ge­nen drei Jah­ren von den deut­schen Behör­den nicht aus­ge­schöpft: Von August 2018 bis April 2021 sind zusam­men rund  20.600 Visa für sub­si­di­är Schutz­be­rech­tig­te erteilt wor­den. In die­sen 33 Mona­ten hät­ten es 33.000 Visa sein kön­nen, die Quo­te wur­de also nur zu rund 62 Pro­zent erfüllt.

„Die Bun­des­re­gie­rung hat mit den gesetz­lich ein­ge­zo­ge­nen Hür­den zum Fami­li­en­nach­zug aus einem Grund­recht für alle einen Gna­den­akt für weni­ge gemacht“, kri­ti­siert Gün­ter Burk­hardt. „Es fehlt der poli­ti­sche Wil­le, das Grund­recht auf Fami­lie für alle zu realisieren.“

For­de­rung: digi­ta­le Antrag­stel­lung der Visaanträge

Men­schen aus Syri­en, Eri­trea und Afgha­ni­stan müs­sen oft in den deut­schen Ver­tre­tun­gen der Nach­bar­län­der die Visa für den Fami­li­en­nach­zug stel­len und sich auf lan­ge, gefähr­li­che Rei­sen bege­ben. Doch allein der aller­ers­te Schritt im Ver­fah­ren, einen Ter­min zur Bean­tra­gung eines Visums zu bekom­men, dau­ert oft über ein Jahr. Im Febru­ar 2020 (neue­re Zah­len lie­gen nicht vor) zum Bei­spiel betrug die War­te­zeit für einen Ter­min zur Bean­tra­gung eines Visums in Addis Abe­ba, Durch­gangs­ort vie­ler Eri­tre­er, 13 Mona­te. Für  Neu Delhi (afgha­ni­sche Staats­an­ge­hö­ri­ge) und Islam­abad (paki­sta­ni­sche und afgha­ni­sche Staats­an­ge­hö­ri­ge) gab die Bun­des­re­gie­rung für den Stich­tag Anfang April 2021 „über ein Jahr“ an. Seit Juni 2017 ist die Bot­schaft in Kabul geschlossen.

Die stän­di­gen Ver­zö­ge­run­gen sind nicht nur der Coro­na-Epi­de­mie geschul­det, son­dern vor allem auch der ver­al­te­ten Vor­ge­hens­wei­se des Aus­wär­ti­gen Amts. „Das Aus­wär­ti­ge Amt wei­gert sich, ein effi­zi­en­tes Ver­fah­ren für die Bean­tra­gung und Bear­bei­tung der Visa zu ent­wi­ckeln“, sagt Gün­ter Burk­hardt und for­dert: „Das Aus­wär­ti­ge Amt muss eine digi­ta­le Antrag­stel­lung der Visums­an­trä­ge ermög­li­chen und das Ver­fah­ren zum Fami­li­en­nach­zug nach Deutsch­land verlagern.“

Lee­re Wor­te der Parteien

Dass es auch anders geht mit dem Fami­li­en­nach­zug zeigt der Umgang mit den Fami­li­en von zuge­wan­der­ten Fach­kräf­ten in Deutsch­land:  Fach­kräf­te müs­sen laut Para­graf 31a Auf­ent­halts­ver­ord­nung inner­halb von drei Wochen nach Vor­la­ge der Vor­ab­zu­stim­mung der Aus­län­der­be­hör­de von der Aus­land­ver­tre­tung einen Ter­min für den Antrag auf ein Visum  bekom­men, über den dann inner­halb von drei Wochen ent­schie­den wer­den muss.

Inter­es­sant ist auch ein Blick auf die Wahl­pro­gram­me der Regie­rungs­par­tei­en. Die SPD for­dert zwar das Grund­recht auf Fami­lie ein. Ihr Außen­mi­nis­ter hat jedoch alles getan, um die Antrag­stel­lung zu ver­hin­dern. Die CDU bezeich­net sich in ihrem Wahl­pro­gramm als fami­li­en­freund­li­che Par­tei: „Fami­li­en­freund­lich­keit ist Mar­ken­zei­chen einer jeden uni­ons­ge­führ­ten Bun­des­re­gie­rung.“ Doch für Fami­li­en von Geflüch­te­ten scheint das nicht zu gel­ten. „Das Grund­recht auf Fami­lie gilt für alle, nicht nur für deut­sche Fami­li­en“, betont hin­ge­gen Gün­ter Burkhardt.

Lebens­ge­fahr in Afghanistan

Zudem ver­hin­dert das Aus­wär­ti­ge Amt even­tu­el­le Kla­gen gegen Visa-Ent­schei­dun­gen, indem es in etwa nur so vie­le Ter­mi­ne ver­ge­ben lässt, wie Visa­plät­ze zur Ver­fü­gung ste­hen: Denn ohne abge­lehn­te Anträ­ge gibt es auch kaum nega­ti­ven Ent­schei­dun­gen, gegen die geklagt wer­den könnte.

In die­sen Zei­ten beson­ders schlimm sind die mas­si­ven Ver­zö­ge­run­gen beim Fami­li­en­nach­zug  in Afgha­ni­stan: Die west­li­chen Trup­pen zie­hen ab, die Tali­ban rücken vor, das Leben für die Zivil­be­völ­ke­rung wird zuneh­mend lebens­ge­fähr­lich – erst recht für Fami­li­en, von denen bekannt ist, dass der Vater „im Wes­ten“ lebt. Das gilt zum Bei­spiel für die Fami­lie eines afgha­ni­schen Jour­na­lis­ten, der vor mehr als zwei Jah­ren floh, nach­dem er  von den Tali­ban wie­der­holt mit dem Tod bedroht wor­den war. Sei­ne Angst um sei­ne im Ver­bor­ge­nen leben­de Fami­lie wird in die­sen Wochen immer größer.

For­de­run­gen von PRO ASYL

Sub­si­di­är Geschütz­te – also zum Bei­spiel Syrer, die vor Krieg, Ter­ror und Fol­ter flie­hen – müs­sen mit GFK-Flücht­lin­gen (jenen, die aus poli­ti­schen oder reli­giö­sen Grün­den ver­folgt wer­den) recht­lich gleich­ge­stellt wer­den. Die Kon­tin­gen­tie­rung muss abge­schafft werden.

Zudem müs­sen die der­zeit gel­ten­den Geset­ze umge­setzt und Ver­fah­ren dür­fen nicht län­ger ver­zö­gert wer­den. Dafür müss­te das Aus­wär­ti­ge Amt eine digi­ta­le Antrag­stel­lung der Visums­an­trä­ge ermög­li­chen und das Ver­fah­ren zum Fami­li­en­nach­zug stär­ker nach Deutsch­land ver­la­gern. Anstatt bei den unter­be­setz­ten Aus­lands­ver­tre­tun­gen könn­ten Anträ­ge auf Fami­li­en­nach­zug direkt im Aus­wär­ti­gen Amt bear­bei­tet wer­den, und auch loka­le Aus­län­der­be­hör­den könn­ten durch das Vor­ab­zu­stim­mungs­ver­fah­ren früh­zei­tig ein­ge­bun­den wer­den. All das wür­de die uner­träg­li­chen War­te­zei­ten enorm ver­kür­zen und funk­tio­niert bereits bei zuge­wan­der­ten Fach­kräf­ten so, die ihre Fami­li­en nach­ho­len. (Fach­kräf­te müs­sen laut Para­graf 31a Auf­ent­halts­ver­ord­nung inner­halb von drei Wochen nach Vor­la­ge der Vor­ab­zu­stim­mung der Aus­län­der­be­hör­de von der  Aus­land­ver­tre­tung einen Ter­min für den Antrag auf ein Visum  bekom­men, über den dann inner­halb von drei Wochen ent­schie­den wer­den muss.)

Min­der­jäh­ri­ge Geschwis­ter­kin­der dür­fen nicht län­ger vom Fami­li­en­nach­zug aus­ge­schlos­sen wer­den: Wenn ein Kind oder Jugend­li­cher allein in Deutsch­land lebt, muss er oder sie das Recht haben, sowohl sei­ne Eltern als auch sei­ne Geschwis­ter zu sich holen zu können.

Wei­te­re Infor­ma­tio­nen unter Daten, Fak­ten und Hin­ter­grün­de zum Familiennachzug.

Aus­ge­wähl­te Einzelfälle

Jour­na­list aus Afgha­ni­stan fürch­tet um das Leben sei­ner Fami­lie (Ahmed Hussein)

Ahmed Hus­sein* aus Afgha­ni­stan hat in sei­ner Hei­mat neun Jah­re lang als Jour­na­list gear­bei­tet, unter ande­rem für die Deut­sche Wel­le. Auf­grund sei­nes Berufs wur­de er von den Tali­ban wie­der­holt mit dem Tod bedroht. Vor lau­ter Angst leben sei­ne Frau und die Kin­der im Ver­bor­ge­nen, sei­ne vier Töch­ter und ein Sohn gehen seit rund drei Jah­ren nicht mehr zur Schu­le. Herr Hus­sein lebt seit 2019 als aner­kann­ter Flücht­ling in Deutsch­land und war­tet seit fast zwei Jah­ren dar­auf, dass sei­ne Fami­lie über­haupt einen Antrag auf ein Visum zum Fami­li­en­nach­zug stel­len darf.

Im Sep­tem­ber 2019 hat er sich an die zustän­di­ge Deut­sche Bot­schaft in Neu-Delhi gewandt, doch noch immer steht kein Ter­min für die Antrag­stel­lung eines Visums auf Fami­li­en­nach­zug fest – also noch nicht ein­mal für den aller­ers­ten Schritt. Auf­grund der Pan­de­mie war die Bot­schaft mona­te­lang geschlos­sen. Ahmed Hus­sein besucht in sei­ner neu­en Hei­mat Nie­der­sach­sen einen Sprach­kurs, doch in Gedan­ken ist er bei sei­ner Fami­lie. „Mein Kör­per ist hier, aber mei­ne See­le ist in Afgha­ni­stan“, sagt er. Der Fami­li­en­va­ter hat furcht­bar Angst um sei­ne Liebs­ten, ins­be­son­de­re  wegen des Vor­rü­ckens der Tali­ban nach dem Abzug der west­li­chen Trup­pen. Die Fami­lie ist in unmit­tel­ba­rer Gefahr: „Wenn die Tali­ban in Kabul sind und mei­ne Fami­lie fin­den, ist sie tot.“
*Pseud­onym zum Schutz der Familie.

Vater sieht sei­nen Sohn das ers­te Mal, als die­ser sie­ben Jah­re alt ist (Hab­te­ma­ri­am Tewelde)

Hab­te­ma­ri­am Tewel­de sagt, er füh­re sei­ne Ehe nur noch tele­fo­nisch. Acht Jah­re ist er bereits von sei­ner Frau getrennt. Sie war schwan­ger, als er sei­ne Hei­mat Eri­trea ver­ließ, doch das wuss­te das Paar zum dama­li­gen Zeit­punkt noch nicht. Sei­nen Sohn hat er bis Dezem­ber 2020 noch nie gese­hen gehabt. Frau und Kind sind von Eri­trea aus ins Nach­bar­land Äthio­pi­en geflüch­tet. Ende ver­gan­ge­nen Jah­res konn­te Hab­te­ma­ri­am Tewel­de es sich nach jah­re­lan­gem Spa­ren end­lich erlau­ben, nach Äthio­pi­en zu flie­gen, um die bei­den wenigs­tens zu besu­chen.  Doch dann flog er allei­ne nach Deutsch­land zurück, denn noch immer liegt kei­ne Ent­schei­dung der Bot­schaft über den Fami­li­en­nach­zug vor, dabei liegt der Bot­schafts­ter­min bereits zwei Jah­re zurück. „In Hol­land, Frank­reich oder Schwe­den sind Fami­li­en inner­halb eines Jah­res wie­der­ver­eint. Mei­ne Frau fragt mich, war­um Deutsch­land das nicht hin­kriegt. Ich kann es ihr nicht erklä­ren“, sagt er.

Herr Tewel­de ist seit Anfang  2016 aner­kann­ter Flücht­ling. Der Fami­li­en­nach­zug schei­tert in ers­ter Linie an feh­len­den Unter­la­gen: So hat das Paar bei­spiels­wei­se kirch­lich gehei­ra­tet, wie es in Eri­trea üblich ist. Der deut­sche Staat ver­langt für die Ertei­lung eines Visums auf Fami­li­en­nach­zug aber eine staat­li­che Hei­rats­ur­kun­de. Um nach­träg­lich ein staat­li­ches Doku­ment zu erhal­ten, müss­te sich Herr Tewel­de an die eri­tre­ische Dik­ta­tur wen­den, in der er gefol­tert wur­de – an den Ver­fol­ger­staat also, dem er ent­kom­men ist.

Teen­ager war­tet seit sechs Jah­ren auf sei­ne Mut­ter und sei­ne Geschwis­ter (Hus­sein Husain)

Er war noch ein Kind, als er mit der Fami­lie sei­nes Onkels im Okto­ber 2015 nach Deutsch­land kam: Der Syrer Hus­sein Husain war damals zehn Jah­re alt. Das Jugend­amt Han­no­ver über­nahm die Vor­mund­schaft für Hus­sein und stell­te im Juni 2016 einen Asyl­an­trag für ihn. Im Febru­ar 2017 wur­de ihm statt­des­sen der sub­si­diä­re Schutz zuer­kannt. Von März 2016 bis Juli 2018 hat­te die Bun­des­re­gie­rung den Fami­li­en­nach­zug für Ange­hö­ri­ge von sub­si­di­är Schutz­be­rech­tig­ten aller­dings voll­stän­dig ausgesetzt.

Sei­ne Eltern und die drei min­der­jäh­ri­gen Geschwis­ter waren auf­grund der Sicher­heits­la­ge in Syri­en in die Tür­kei geflo­hen. Sie buch­ten einen Ter­min bei der deut­schen Bot­schaft. Doch sie erfuh­ren, dass nur die Anträ­ge von Eltern zu unbe­glei­te­ten min­der­jäh­ri­gen Flücht­lin­gen geneh­migt wer­den wür­den. Das Recht auf den Nach­zug eines Geschwis­ter­kin­des besteht in Deutsch­land nicht. Das bedeu­tet: Die Bun­des­re­gie­rung ver­langt von Eltern, sich zwi­schen ihren Kin­dern zu ent­schei­den. Folg­lich ent­schied der Vater, allein den Nach­zug zu sei­nem Sohn zu bean­tra­gen. Im Febru­ar 2020 durf­te er end­lich ein­rei­sen – er stell­te selbst einen Asyl­an­trag, wur­de als sub­si­di­är schutz­be­rech­tigt aner­kannt und erst dadurch wur­de der Weg frei, dass die Mut­ter von Hus­sein und die min­der­jäh­ri­gen Geschwis­ter eben­falls einen Ter­min bei der Bot­schaft bean­tra­gen durften.

Im Febru­ar 2021 konn­ten sie vor­spre­chen. Es dau­er­te wei­te­re Mona­te, bis die Fami­lie Anfang Juli end­lich ein­rei­sen durf­te. Hus­sein war­te­te seit fast 6 Jah­ren auf sei­ne Mut­ter, Brü­der und sei­ne Schwes­ter. Aus dem Kind ist mitt­ler­wei­le ein Teen­ager gewor­den, dem die eige­ne Mut­ter bei der ers­ten Umar­mung fremd erschien.

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