15.07.2021

Ein aktu­el­ler Bericht zu Gewalt gegen Frau­en macht deut­lich: Deutsch­land hat die Istan­bul-Kon­ven­ti­on man­gel­haft umge­setzt. Weib­li­che Asyl­su­chen­de und ihre geschlechts­spe­zi­fi­schen Flucht­grün­de wer­den kaum in den Blick genom­men. Das offen­bart eine Unter­su­chung von PRO ASYL, den Flücht­lings­rä­ten und dem Insti­tut für Kul­tur­anthro­po­lo­gie der Uni­ver­si­tät Göttingen.

Vor weni­gen Wochen kri­ti­sier­ten deut­sche Politiker*innen, dass die Tür­kei aus der Istan­bul-Kon­ven­ti­on aus­ge­tre­ten ist, dem Über­ein­kom­men des Euro­pa­rats zur Ver­hü­tung und Bekämp­fung von Gewalt gegen Frau­en und häus­li­cher Gewalt. Was dabei aus dem Blick­feld gerät: Das Abkom­men ist hier­zu­lan­de zwar in Kraft, die Umset­zung jedoch mangelhaft.

Die Bun­des­re­pu­blik hat sich dazu ver­pflich­tet, Frau­en vor allen For­men von Gewalt zu schüt­zen, einen Bei­trag zur Besei­ti­gung ihrer Dis­kri­mi­nie­rung zu leis­ten sowie ihre Gleich­stel­lung und ihre Rech­te zu för­dern. Geflüch­te­te Frau­en und Mäd­chen sind in beson­de­rer Wei­se von Gewalt bedroht und betrof­fen. Doch sie fal­len in vie­ler­lei Hin­sicht durchs Ras­ter – sei es bei der Erken­nung der Vul­nerabi­li­tät, im Bereich der Unter­brin­gung, bei der Berück­sich­ti­gung geschlechts­spe­zi­fi­scher Asyl­grün­de oder wenn es um psy­cho­lo­gi­sche Bera­tung geht. Das ist das Ergeb­nis eines heu­te ver­öf­fent­lich­ten Schat­ten­be­richts von PRO ASYL und Part­nern an ein Exper­ten­gre­mi­um des Euro­pa­rats (Gre­vio), das die Ein­hal­tung der Istan­bul-Kon­ven­ti­on über­wacht. Die­se gilt in Deutsch­land wie ein Bun­des­ge­setz – die Bun­des­re­gie­rung ver­letzt also mit der Nicht­ein­hal­tung des Abkom­mens ihre eige­nen Gesetze.

Es beginnt bereits bei der Ankunft: Beson­ders gefähr­de­te Schutz­su­chen­de – soge­nann­te vul­nerable Per­so­nen – wer­den als sol­che häu­fig gar nicht erkannt. Eine unmit­tel­ba­re Fol­ge ist, dass von Gewalt betrof­fe­ne Frau­en kei­ne ange­mes­se­ne psy­cho­so­zia­le und medi­zi­ni­sche Ver­sor­gung erhal­ten und kaum Unter­stüt­zung erfah­ren. Letzt­end­lich droht auch, dass ihnen der nöti­ge asyl­recht­li­che Schutz ver­sagt bleibt. Andrea Kothen von PRO ASYL: „Wir brau­chen die bun­des­wei­te Ein­füh­rung eines trans­pa­ren­ten und flä­chen­de­cken­den Iden­ti­fi­zie­rungs­ver­fah­rens vul­nerabler Per­so­nen. Nur wenn es hier­für ein ein­heit­li­ches, ver­bind­li­ches Sys­tem gibt, kann in der Fol­ge sicher­ge­stellt wer­den, dass die betrof­fe­nen Frau­en ihre Rech­te wahr­neh­men können.“

Ver­ge­wal­ti­gun­gen und Geni­tal­be­schnei­dung als Fluchtgrund

Vie­le geflüch­te­te Frau­en stam­men aus patri­ar­chal gepräg­ten Gesell­schaf­ten oder aus Län­dern, in denen sie auf­grund von Kriegs- und Kri­sen­si­tua­tio­nen beson­ders gefähr­det sind. Ihre Flucht­grün­de sind viel­fäl­tig: Geni­tal­be­schnei­dung, straf­frei blei­ben­de Ver­ge­wal­ti­gun­gen, Zwangs­hei­ra­ten auch von min­der­jäh­ri­gen Mäd­chen, häus­li­che Gewalt, Ent­füh­run­gen, Ver­ge­wal­ti­gun­gen als Kriegs­waf­fe und ande­res. Der Anteil der Fäl­le, in denen Frau­en auf­grund geschlechts­spe­zi­fi­scher Grün­de Flücht­lings­schutz erhal­ten, müss­te hoch sein – ist er aber nicht. Im Schat­ten­be­richt wird fest­ge­stellt: Etli­che Frau­en dürf­ten durch die Ras­ter einer nicht aus­rei­chend sen­si­bi­li­sier­ten Asyl­struk­tur fallen.

Selbst benann­te geschlechts­spe­zi­fi­sche Gewalt führt oft nicht zur Flücht­lings­an­er­ken­nung. Gewalt an Frau­en wird nach wie vor in den Asyl­ver­fah­ren nicht hin­rei­chend the­ma­ti­siert. Sie wird nicht sel­ten im Bereich „pri­va­ter Lebens­füh­rung“ ver­or­tet. Das Bun­des­amt für Migra­ti­on und Flücht­lin­ge (BAMF) ist hier gefor­dert, zu einer ver­bes­ser­ten Aner­ken­nungs­pra­xis zu kom­men. In den Anhö­run­gen müss­ten Frau­en aktiv, trau­ma- und gen­der­sen­si­bel ermu­tigt wer­den, von Gewalt­er­fah­run­gen zu berich­ten. Über­dies soll­te das BAMF eine aus­sa­ge­kräf­ti­ge Sta­tis­tik zur Berück­sich­ti­gung von geschlechts­spe­zi­fi­scher Gewalt im Asyl­ver­fah­ren einführen.

Gewalt in Sam­mel­un­ter­künf­ten – Anker­zen­tren gehö­ren abgeschafft!

Ein gro­ßes Pro­blem beim The­ma Gewalt­schutz bleibt die Unter­brin­gung von Geflüch­te­ten in gro­ßen Sam­mel­un­ter­künf­ten – trotz etli­cher Ver­su­che, die Situa­ti­on zu ver­bes­sern. Die Angst vor Über­grif­fen durch männ­li­che Bewoh­ner, Secu­ri­ty-Per­so­nal oder sons­ti­ge Ange­stell­te gehört für vie­le Frau­en zum All­tag – zum Bei­spiel, weil sie in vie­len Unter­künf­ten noch nicht ein­mal ihr Zim­mer abschlie­ßen kön­nen. Feh­len­de Pri­vat­sphä­re und die Abge­le­gen­heit der Unter­künf­te ver­grö­ßern die­se Gefahr. „Sam­mel­un­ter­künf­te sind kon­flikt- und gewalt­för­dernd. Die Anker­zen­tren und ähn­li­che Ein­rich­tun­gen gehö­ren des­halb ein für alle­mal abge­schafft“, for­dert Simo­ne Eiler vom Flücht­lings­rat Bayern.

Frau­en, die von Gewalt betrof­fen sind, haben gemäß Istan­bul-Kon­ven­ti­on Anspruch auf umfas­sen­de Gesund­heits­leis­tun­gen. Lau­ra Mül­ler vom Flücht­lings­rat Nie­der­sach­sen erklärt: „In der Pra­xis blei­ben Frau­en nöti­ge Gesund­heits­leis­tun­gen und Unter­stüt­zung häu­fig ver­wehrt. Dies gilt beson­ders für den Auf­ent­halt in der Erst­auf­nah­me und die Inan­spruch­nah­me von psy­cho­so­zia­ler Ver­sor­gung und The­ra­pie. Auch Dolmetscher*innen gibt es im medi­zi­ni­schen Bereich immer noch nicht in aus­rei­chen­dem Maße.“

Es bleibt also noch viel zu tun, um allen Frau­en ein Leben in Sicher­heit und Wür­de in Deutsch­land zu ermög­li­chen. „Ins­ge­samt wird sicht­bar, dass das Asyl- und Auf­ent­halts­recht an vie­len Stel­len in einem ekla­tan­ten Wider­spruch zum Gewalt­schutz steht“, erklärt Prof. Dr. Sabi­ne Hess vom Insti­tut für Kul­tur­anthro­po­lo­gie der Uni­ver­si­tät Göt­tin­gen, das den Schat­ten­be­richt mitverantwortet.

Dies gilt nicht nur für Deutsch­land: Die Bun­des­re­gie­rung soll­te sich auch dafür ein­set­zen, dass „ein Euro­pa frei von Gewalt gegen Frau­en“, wie es in der Prä­am­bel der Istan­bul-Kon­ven­ti­on als Ziel for­mu­liert ist, Rea­li­tät wird. Dies erscheint nicht mög­lich ohne grund­le­gen­de Ände­run­gen in der Euro­päi­schen Asyl­po­li­tik, für die Deutsch­land eine Mit­ver­ant­wor­tung trägt.

Der Schat­ten­be­richt ist hier abruf­bar, eine aus­führ­li­che Zusam­men­fas­sung hier.

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