02.12.2021
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Polen rüstet seit Monaten massiv die Grenze auf. Foto: picture alliance / NurPhoto | Maciej Luczniewski

Mit einem »Sonder-Asylrecht« für die Grenzstaaten zu Belarus will die Kommission u.a. Grenzverfahren massiv ausweiten. Anstatt gegen Pushbacks an der Grenze vorzugehen, kommt die Kommission den Staaten also stark entgegen. Doch die Beschwichtigungstaktik schlägt fehl: Polen lehnt den Vorschlag ab – und will das Asylrecht vollständig aussetzen.

Men­schen die in Wäl­dern in Eises­käl­te aus­har­ren und nicht ver­sorgt wer­den, Zugangs­ver­bo­te für Pres­se und huma­ni­tä­re Orga­ni­sa­tio­nen und gewalt­sa­me Pus­backs – das ist schon den gan­zen Herbst über die bit­te­re Rea­li­tät an den euro­pä­isch-bela­rus­si­schen Gren­zen. Euro­päi­sche Wer­te und Men­schen­rech­te? Fehl­an­zei­ge an vie­len Außen­gren­zen, doch die Offen­heit mit der die­se Rechts­brü­che ins­be­son­de­re von der pol­ni­schen Regie­rung ver­tre­ten wer­den hat eine neue Qua­li­tät. Gerecht­fer­tigt wird dies, indem schutz­su­chen­de Men­schen als »hybri­de Bedro­hung« geframed wer­den – eine ent­mensch­li­chen­de Spra­che, die Kom­mis­si­ons­prä­si­den­tin Ursu­la von der Ley­en in ihrer Rede zur Lage der Uni­on bereits übernahm.

Anstatt wie frü­her, zum Bei­spiel mit Ver­trags­ver­let­zungs­ver­fah­ren gegen die unga­ri­schen Tran­sit­zo­nen, euro­päi­sches Recht zu ver­tei­di­gen, geht die Kom­mis­si­on mit ihrem am 1. Dezem­ber vor­ge­stell­ten Vor­schlag weit­ge­hend vor der pol­ni­schen Regie­rung in die Knie.

Verschärfung des Asylrechts als Kuhhandel mit Rechtspopulisten

Mit ihrem Vor­schlag will die Euro­päi­sche Kom­mis­si­on den Grenz­staa­ten zu Bela­rus – Polen, Lett­land und Litau­en – eine mas­si­ve Ver­schär­fung des Asyl­rechts erlau­ben. Kon­kret schlägt die Kom­mis­si­on vor:

  • De fac­to Aus­set­zung des Asyl­rechts für 4 Wochen: Das EU-Recht sieht vor, dass Asyl­an­trä­ge bei einer hohen Zahl von Antragsteller*innen spä­tes­tens inner­halb von 10 Tagen regis­triert wer­den sol­len. Dies soll für die Grenz­staa­ten zu Bela­rus auf vier Wochen aus­ge­wei­tet wer­den. Grie­chen­land inhaf­tier­te wäh­rend eines sol­chen euro­pa­rechts­wid­ri­gen Regis­trie­rungs­stopps im März 2020 vie­le Asyl­su­chen­de will­kür­lich unter schlim­men Bedin­gun­gen. Es stellt sich auch die Fra­ge, wie Asyl­su­chen­de ohne Regis­trie­rung vor Push­backs geschützt sein sollen.
  • Mas­si­ve Aus­wei­tung von Grenz­ver­fah­ren: Grenz­ver­fah­ren sol­len auf alle Asyl­su­chen­den ange­wen­det wer­den kön­nen und anstatt vier Wochen bis zu vier Mona­te (16 Wochen) dau­ern kön­nen. Die Kom­mis­si­on geht davon aus, dass die Per­so­nen in der Zeit noch als »nicht-ein­ge­reist« gel­ten. Ent­spre­chend ist damit zu rech­nen, dass die Betrof­fe­nen in geschlos­se­nen Zen­tren blei­ben müss­ten, um eine sol­che »Nicht-Ein­rei­se« tat­säch­lich durch­zu­set­zen. Wenn die Pha­se der Nicht-Regis­trie­rung noch dazu gerech­net wird, dann geht es letzt­lich um bis zu 20 Wochen in denen schutz­su­chen­de Men­schen vor­aus­sicht­lich an den Gren­zen fest­ge­setzt werden.
  • Absen­kung von Unter­brin­gungs­stan­dards: Bei der Unter­brin­gung von Asyl­su­chen­den sol­len die drei Mit­glied­staa­ten nicht mehr die Stan­dards der EU-Auf­nah­me­richt­li­nie ein­hal­ten, son­dern müs­sen qua­si nur das Über­le­ben der Per­so­nen sicherstellen.
  • Ver­ein­fach­te Abschie­bun­gen von der Gren­ze: Auch beim The­ma Abschie­bun­gen sol­len Polen, Litau­en und Lett­land sich nicht an gel­ten­des Recht, die EU-Rück­füh­rungs­richt­li­nie, hal­ten müs­sen, son­dern kön­nen hier­von abweichen.
  • Regis­trie­rungs­punk­te: Die drei Mit­glied­staa­ten sol­len Orte bestim­men, zum Bei­spiel kon­kre­te Grenz­über­gän­ge, an denen schutz­su­chen­de Men­schen ihren Asyl­an­trag stel­len kön­nen und wo die­ser regis­triert wird. Das wäre zwar wün­schens­wert, es ist aber ange­sichts der Poli­tik der pol­ni­schen Regie­rung nicht zu erwar­ten, dass dies in der Pra­xis tat­säch­lich pas­siert – denn mit Kon­se­quen­zen aus Brüs­sel muss War­schau offen­sicht­lich nicht rechnen.

Die­se Son­der­re­geln sol­len für alle Asyl­su­chen­den gel­ten, die über die Gren­ze von Bela­rus in eins der drei Län­der kom­men oder gekom­men sind. Das Son­der­recht soll zunächst für sechs Mona­te gel­ten, wobei die Kom­mis­si­on bereits dar­auf hin­weist, dass es auch zu einer Ver­län­ge­rung kom­men könnte.

Keine Überforderung sondern politisches Kalkül

Die Kom­mis­si­on begrün­det ihren Vor­schlag damit, dass die Mit­glied­staa­ten mit der Umset­zung des gül­ti­gen Rechts in der aktu­el­len Situa­ti­on über­for­dert wären – dabei hat ins­be­son­de­re Polen über­haupt nicht ver­sucht, gel­ten­des Recht bezüg­lich Asyl­ver­fah­ren und Unter­brin­gungs­stan­dards anzu­wen­den. Die pol­ni­sche Regie­rung hat sich direkt dar­über hin­weg gesetzt und lässt ihre Grenzbeamt*innen ille­gal und oft auch gewalt­tä­tig Men­schen über die Gren­ze zurück schieben.

Damit läuft die Argu­men­ta­ti­on der Kom­mis­si­on, bes­se­re Ver­fah­ren und ange­mes­se­ne Unter­brin­gung sei­en aktu­ell nicht mög­lich, ins Lee­re. Denn Polen und Lett­land haben bis­lang noch nicht ein­mal zur Ver­fü­gung ste­hen­de euro­päi­sche Unter­stüt­zung, wie zum Bei­spiel Zel­te, Bet­ten und Heiz­sys­te­me, wie sie an Litau­en gegan­gen sind, angenommen.

Aktu­ell zwin­gen pol­ni­sche Grenzschützer*innen die meis­ten Frau­en, Män­ner und Kin­der immer wie­der über die Gren­ze zurück nach Bela­rus und igno­rie­ren die Ver­su­che der Men­schen, Asyl­an­trä­ge zu stellen.

Im einem Ver­fah­ren gegen Ungarn vor dem Gerichts­hof der Euro­päi­schen Uni­on zu den Tran­sit­zo­nen hat­te die Kom­mis­si­on 2020 zu Recht noch fest­ge­hal­ten: »Über­dies sei der Fall, dass eine gro­ße Zahl von Dritt­staats­an­ge­hö­ri­gen oder Staa­ten­lo­sen gleich­zei­tig inter­na­tio­na­len Schutz bean­tra­ge, vom Uni­ons­ge­setz­ge­ber berück­sich­tigt wor­den.« Nur ein Jahr spä­ter ver­tei­digt die Kom­mis­si­on bestehen­des Recht nicht mehr, son­dern betei­ligt sich selbst an der Ero­si­on des Flücht­lings­schut­zes und der Rechts­stan­dards in der EU – schon das ist ein Gewinn von Rechts­po­pu­lis­ten in Europa.

Kommission schweigt zu Pushbacks nach Belarus

Aktu­ell zwin­gen pol­ni­sche Grenzschützer*innen die meis­ten Frau­en, Män­ner und Kin­der immer wie­der über die Gren­ze zurück nach Bela­rus und igno­rie­ren die Ver­su­che der Men­schen,  Asyl­an­trä­ge zu stel­len. In den weni­gen Fäl­len in denen ein Asyl­an­trag tat­säch­lich regis­triert wird, wer­den die Asyl­su­chen­den in (de fac­to) Haft­zen­tren gebracht (sie­he hier­zu das Inter­view mit der pol­ni­schen Anwäl­tin Mar­ta Górc­zyńs­ka).

Nach euro­päi­schem Recht muss an offi­zi­el­len Grenz­über­gän­gen ein Asyl­an­trag gestellt wer­den kön­nen und die Per­son darf nicht ohne indi­vi­du­el­le Prü­fung ihres Asyl­an­trags in ein ande­res Land abge­scho­ben wer­den. Nur durch die­ses Ver­bot von Push­backs (das soge­nann­te non-refou­le­ment Gebot), das sich aus Men­schen­rechts­ver­trä­gen wie der Euro­päi­schen Men­schen­rechts­kon­ven­ti­on ergibt, kann sicher­ge­stellt wer­den, dass Men­schen nicht in Län­der gebracht wer­den, in denen sie gefol­tert oder wegen ihrer poli­ti­schen Hal­tung, Reli­gi­on oder sexu­el­len Ori­en­tie­rung ver­folgt wer­den. Auch die EU-Grund­rech­te­char­ta ver­bie­tet expli­zit Kol­lek­tiv­aus­wei­sun­gen, also Abschie­bun­gen ohne indi­vi­du­el­le Prü­fung (Art. 19 Abs. 1 Grund­rech­te­char­ta)

Die kras­se Miss­ach­tung euro­päi­schen Rechts an der pol­nisch-bela­rus­si­schen Gren­ze wur­de bis­lang von der Kom­mis­si­on nur mit Schwei­gen quit­tiert. Kri­tik rich­tet sich stets an den bela­rus­si­schen Dik­ta­tor Lukaschen­ko, nicht an das EU-Mit­glied­land Polen.

In ihrem Vor­schlag betont die Kom­mis­si­on mehr­fach das non-refou­le­ment Gebot und zielt ver­mut­lich auch mit der Benen­nung von Regis­trie­rungs­punk­ten auf ein Ende der Push­backs ab. Doch ist eine sol­che Kehrt­wen­de nicht zu erwar­ten. Polen dürf­te sich durch die Vor­schlä­ge der Kom­mis­si­on viel­mehr dar­in bestärkt sehen, mit sei­ner offen­sicht­li­chen Miss­ach­tung von Euro­pa­recht durchzukommen.

Verfehlte Rechtsgrundlage

Die Kom­mis­si­on will das tem­po­rä­re »Son­der-Asyl­recht« auf eine Grund­la­ge stüt­zen, die bis­lang nur ein­mal 2015 mit einer gänz­lich ande­ren Ziel­rich­tung genutzt wur­de. Der Arti­kel 78 des Ver­trags über die Arbeits­wei­se der Euro­päi­schen Uni­on (AEUV) sieht im Absatz 3 vor:

»Befin­den sich ein oder meh­re­re Mit­glied­staa­ten auf­grund eines plötz­li­chen Zustroms von Dritt­staats­an­ge­hö­ri­gen  in  einer  Not­la­ge,  so  kann  der  Rat  auf  Vor­schlag  der  Kom­mis­si­on  vor­läu­fi­ge  Maß­nah­men  zuguns­ten  der  betref­fen­den  Mit­glied­staa­ten  erlas­sen.  Er  beschließt  nach  Anhö­rung  des  Euro­päi­schen  Parlaments.«

Die­se Not­fall­kom­pe­tenz ermög­licht also Maß­nah­men außer­halb des regu­lä­ren euro­päi­schen Gesetz­ge­bungs­ver­fah­rens, wie es aktu­ell im Rah­men des »New Pact on Migra­ti­on and Asyl­um« erfolgt. Im Jahr 2015 wur­de auf­grund der hohen Zahl der Ankünf­te von schutz­su­chen­den Men­schen in Grie­chen­land und Ita­li­en per Rats­be­schluss auf Basis die­ser Norm die Umver­tei­lung (Relo­ca­ti­on) von Asyl­su­chen­den aus den bei­den Län­dern beschlos­sen. Dies war eine Abwei­chung von den regu­lä­ren Zustän­dig­keits­re­geln nach der Dublin-III-Verordnung.

Such­ten 2015 fast eine Mil­li­on Men­schen in Euro­pa Schutz vor Krieg und Ver­fol­gung, geht es aktu­ell um weni­ge Tau­send Menschen.

Wäh­rend 2015 mit der Rats­ent­schei­dung also Soli­da­ri­tät mit den betrof­fe­nen Mit­glied­staa­ten in einer tat­säch­li­chen Aus­nah­me­si­tua­ti­on gezeigt wur­de und letzt­lich auch im Sin­ne vie­ler Asyl­su­chen­der war, ist von solch prak­ti­scher Soli­da­ri­tät im jet­zi­gen Vor­schlag der Kom­mis­si­on nichts zu sehen. Auch ist schon allein die Aus­gangs­la­ge 2015 mit der 2021 schlicht nicht ver­gleich­bar. Such­ten 2015 fast eine Mil­li­on Men­schen in Euro­pa Schutz vor Krieg und Ver­fol­gung, geht es aktu­ell um weni­ge Tau­send Men­schen – eine leicht zu bewäl­ti­gen­de Situa­ti­on, wenn der poli­ti­sche Wil­le da wäre. Es ist eine haus­ge­mach­te Kri­se, die nun als Vor­wand für die Aus­höh­lung des Asyl­rechts genutzt wird.

Es ist bezeich­nend, dass sich Grie­chen­land im März 2020 bezüg­lich der Aus­set­zung des Asyl­rechts durch die vier­wö­chi­ge Nicht-Regis­trie­rung von Asyl­an­trä­gen auf den glei­chen Arti­kel beru­fen woll­te. Doch damals wur­de das euro­pa­rechts­wid­ri­ge Vor­ge­hen zumin­dest von der Kom­mis­si­on nicht recht­lich unter­stützt – wenn auch nie öffent­lich kritisiert.

Problematische Umgehung des Parlaments

Die Kom­mis­si­on will das »Son­der-Asyl­recht« also durch einen Rats­be­schluss her­bei­füh­ren. Das Euro­päi­sche Par­la­ment ist damit außen vor und muss ledig­lich ange­hört wer­den. Beson­ders bri­sant: Im Euro­päi­schen Par­la­ment wird aktu­ell der »New Pact on Migra­ti­on and Asyl­um« ver­han­delt und somit auch ganz ähn­li­che Rege­lun­gen im Vor­schlag für eine Kri­sen-Ver­ord­nung. Zu die­ser hat der zustän­di­ge Bericht­erstat­ter nur einen Tag vor­her, am 30. Novem­ber 2021, sei­nen Bericht im zustän­di­gen Aus­schuss im Par­la­ment vor­ge­stellt und genau die pro­ble­ma­ti­schen Maß­nah­men gestri­chen, die die EU jetzt am Par­la­ment vor­bei tem­po­rär ein­füh­ren will.

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Ent­spre­chend empört äußern sich vie­le Parlamentarier*innen zu dem Vor­stoß der Kom­mis­si­on, der viel­fach als unver­hält­nis­mä­ßig kri­ti­siert wird (sie­he Pres­se­mit­tei­lung  und Äuße­run­gen der S&D Frak­ti­on, der Grünen/EFA, der Lin­ken und Renew Euro­pe).

Entscheidung im Rat auch Stresstest für neue deutsche Regierung

Doch noch ist unklar, wie es im Rat mit dem Vor­schlag wei­ter­geht. Denn Polen hat bereits signa­li­siert, dass sie mit dem Vor­schlag nicht zufrie­den sind – die Asyl­ver­fah­ren sol­len laut dem pol­ni­schen Bot­schaf­ter kom­plett aus­ge­setzt wer­den. Der nächs­te Rat für Inne­res und Jus­tiz ist am 9. Dezem­ber 2021, wobei noch nicht fest­steht, ob der Vor­schlag auf der Tages­ord­nung steht.

Die Abstim­mung über den Vor­schlag der Kom­mis­si­on wird ein ers­ter Stress­test sein, wie ernst­haft die neue Bun­des­re­gie­rung für Rechts­staat­lich­keit und Men­schen­rech­te in Euro­pa eintritt.

Ver­mut­lich noch vor dem Rats­tref­fen will die Kom­mis­si­on zudem ihre Reform für den Schen­ge­ner Grenz­ko­dex vor­stel­len – wo sich zei­gen wird, wie ernst es die Kom­mis­si­on mit dem non-refou­le­ment Gebot tat­säch­lich meint oder ob sie auch hier nach­ge­ben und gefähr­li­che Aus­nah­men schaf­fen wird. Das wird die Schick­sals­fra­ge für den euro­päi­schen Flücht­lings­schutz sein.

Je nach genau­em Zeit­plan der deut­schen Regie­rungs­bil­dung könn­te dies der ers­te Ter­min für eine*n neue*n Innenminister*in wer­den. Im Koali­ti­ons­ver­trag steht: »Wir wol­len die ille­ga­len Zurück­wei­sun­gen und das Leid an den Außen­gren­zen been­den«. Die Abstim­mung über den Vor­schlag der Kom­mis­si­on wird ein ers­ter Stress­test sein, wie ernst­haft sie für Rechts­staat­lich­keit und Men­schen­rech­te in Euro­pa eintritt.

(wj)