12.08.2022
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Foto: Unsplash // Farid Ershad

Den 15. August 2021 haben Simin* und Parmila* mit ihrer Arbeit für das afghanische Friedensministerium begonnen – doch schon wenige Stunden später war nichts mehr wie zuvor: Sie mussten fliehen, sich monatelang vor den Taliban verstecken, ums Überleben kämpfen. Ein Jahr danach sind sie in Deutschland und berichten.

Simin* (33) ist Teil der afgha­ni­schen Frau­en­grup­pe »United Voice of Women for Peace«, die ab 2019 das Frie­dens­mi­nis­te­ri­um in Afgha­ni­stan für die Frie­dens­ver­hand­lun­gen mit den Tali­ban beriet. Sie stu­dier­te Inter­na­tio­na­le Bezie­hun­gen, lehr­te an Uni­ver­si­tä­ten und arbei­te­te im Minis­te­ri­um für  Frie­den unter ande­rem in der Erfor­schung von zivil­ge­sell­schaft­li­chem Enga­ge­ment. Mit Ehe­mann und Toch­ter war sie zehn Mona­te lang auf der Flucht.

Wie haben Sie den 15. August 2021 erlebt, als die Tali­ban in Kabul ein­mar­schier­ten und die Macht übernahmen?

Mei­ne Toch­ter war krank, des­halb arbei­te­te ich in Kabul nicht in mei­nem Büro im Minis­te­ri­um für Frie­den, son­dern zu Hau­se.  Um 10 Uhr rie­fen mich Kol­le­gin­nen an und sag­ten, dass sie das Minis­te­ri­um sofort ver­las­sen soll­ten, weil die Tali­ban kom­men. Und dann rief mein Mann an, der im Büro des Prä­si­den­ten arbei­te­te,  und sag­te, ich sol­le sofort mit unse­rer Toch­ter zu mei­nen Vater fah­ren, der in einem ande­ren Vier­tel in Kabul leb­te – die gan­ze Nach­bar­schaft, auch die Tali­ban, wuss­ten, dass wir gegen die Tali­ban-Ideo­lo­gie arbei­te­ten und wo wir wohn­ten. Schon vor­her waren wir in Lebens­ge­fahr gewe­sen, und jetzt erst recht. Ich war mehr als scho­ckiert, damit hat­te ich nicht gerech­net. Ich hat­te geglaubt, dass unse­re Armee und Poli­zei nach 20 Jah­ren Trai­ning unse­re Haupt­stadt Kabul gegen die Tali­ban ver­tei­di­gen könn­ten. Noch am Tag zuvor hat­ten wir im Minis­te­ri­um mit Men­schen zusam­men­ge­ses­sen, deren Ange­hö­ri­ge bei Anschlä­gen getö­tet wor­den waren. Wir woll­ten ihre Stim­men in die Frie­dens­ver­hand­lun­gen mit den Tali­ban tragen.

Wir schrie­ben in so vie­le Län­der, doch nie­mand reagier­te! PRO ASYL mach­te Druck auf die deut­sche Regie­rung und half uns so, dass wir huma­ni­tä­re Visa bekamen.

Wie ist Ihre Toch­ter mit die­ser Gefahr umgegangen?

Sie war vol­ler Angst. Obwohl sie erst sie­ben war, wuss­te sie sofort, dass wir in gro­ßer Gefahr waren, auch, weil sie Berich­te im Fern­se­hen gese­hen hat­te. Sie rief vol­ler Panik: Ich will nicht, dass ihr getö­tet wer­det! Sie bete­te zu Gott, dass er die Tali­ban ver­scheu­chen und ihre Eltern ret­ten soll­te. Die­se Angst mei­ner Toch­ter wer­de ich nie ver­ges­sen. Und sie dach­te auch, dass die Tali­ban sie töten wür­den, weil sie in die Schu­le gegan­gen war. Des­halb woll­te sie, dass ich ihr ein Kopf­tuch anlege.

Mona­te­lang waren sie auf der Flucht, wie haben Sie das geschafft?

Bei mei­nem Vater konn­ten wir nur eine Nacht blei­ben, dann flo­hen wir wei­ter zu Freun­den. Zehn Mona­te waren wir im eige­nen Land auf der Flucht, immer vol­ler Angst, immer wie­der an einem ande­ren Ort. Um zu über­le­ben, muss­ten wir unser Haus und alles, was wir hat­ten, ver­kau­fen las­sen. Wir woll­ten nur unser Leben ret­ten, nur in ein anders Land, egal, in wel­ches. Wir schrie­ben in so vie­le Län­der, doch nie­mand reagier­te! PRO ASYL mach­te Druck auf die deut­sche Regie­rung und half uns so, dass wir huma­ni­tä­re Visa beka­men. Als wir die Gren­ze über­schrit­ten rief mei­ne Toch­ter: Gott sei Dank, wir sind frei! Doch vie­le enge Ver­wand­te sind noch immer in Afgha­ni­stan und die Tali­ban erhö­hen den Druck auf die Fami­li­en, wenn sie wis­sen, dass Ver­wand­te in den Wes­ten geflo­hen sind. Jeden Tag habe ich Angst um mei­ne Fami­lie. Wenn sie mal nicht sofort ans Tele­fon  gehen, den­ke ich, dass sie ver­haf­tet wurden.

Par­mi­la* (27) ist Teil der afgha­ni­schen Frau­en­grup­pe »United Voice of Women for Peace«, die ab 2019 das Frie­dens­mi­nis­te­ri­um in Afgha­ni­stan für die Frie­dens­ver­hand­lun­gen mit den Tali­ban beriet. Nach ihrem Stu­di­um war sie lei­ten­de Ange­stell­te in der Abtei­lung für Gleich­stel­lungs­fra­gen im Frie­dens­mi­nis­te­ri­um und kämpf­te auch in den sozia­len Medi­en für die Rech­te der Frau­en. Auch ihr Mann gehört als Jour­na­list zu den Men­schen, die beson­ders gefähr­det sind. Zusam­men waren sie zehn Mona­te auf der Flucht in Afgha­ni­stan und im Iran.

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Selbst in Deutsch­land kön­nen die geret­te­ten Frau­en ihr Gesicht nicht zei­gen, aus Sor­ge um ihre Ange­hö­ri­gen in Afgha­ni­stan. Foto: PRO ASYL / Jonas Bickmann

Wie haben Sie den 15. August 2021 erlebt, als die Tali­ban in Kabul ein­mar­schier­ten und die Macht übernahmen?

Ich war im Büro im Frie­dens­mi­nis­te­ri­um, öff­ne­te mei­ne Mails – und las den Auf­ruf: Ver­lasst sofort das Büro, die Tali­ban haben Kabul erobert! Ich dach­te, jemand erlaubt sich einen Scherz, ich konn­te es nicht glau­ben. Doch dann wur­de klar, dass es stimmt. Ich habe mei­ne Mut­ter gewarnt und gesagt, dass sie zu ihrer Schwes­ter gehen soll.  Dann bin ich sofort los, nor­ma­ler­wei­se brauch­te ich 13 Minu­ten zu Fuß zu mei­ner Woh­nung, jetzt waren die Stra­ßen voll mit Autos und auf­ge­reg­ten Men­schen, alle schrien und hup­ten. Mein Mann und ich haben alles ver­las­sen und sind zu Ver­wand­ten in die Pro­vinz geflo­hen. Wir hat­ten erst vier Mona­te zuvor gehei­ra­tet, wir waren vol­ler Hoff­nung in ein neu­es Leben gestar­tet. Nun muss­te mei­ne Mut­ter alles ver­kau­fen, unser Haus, unse­re Möbel, damit wir Geld hat­ten, um zu über­le­ben. Wir hat­ten ja kein Ein­kom­men mehr. Wir haben alles verloren.

Die Men­schen in Afgha­ni­stan leben in dunk­len Zei­ten, doch die Welt schaut nur zu und igno­riert Afghanistan

Wie ging Ihre Flucht weiter?

Im April konn­ten wir in den Iran ein­rei­sen. Ich war ver­zwei­felt, ich hät­te dort jede Arbeit ange­nom­men, wir brauch­ten ja Geld. Doch es wur­de auch dort nicht bes­ser. Die Men­schen in den Behör­den mögen die Afgha­nen nicht, die lachen nur über uns. Stän­dig guck­te ich bei  Whats­App, um zu sehen, ob es neue Nach­rich­ten über unse­ren Antrag auf huma­ni­tä­re Visa in Deutsch­land gab, bei dem PRO ASYL uns unter­stütz­te. End­lich kam der erlö­sen­de Anruf! Ich war sehr glück­lich! Doch mei­ne Fami­lie ist wei­ter in Gefahr!

Wie sind Ihre Gefüh­le zum Jahrestag?

Der Jah­res­tag ist ein dunk­ler Tag für uns. Wir haben alles ver­lo­ren und in Afgha­ni­stan sind noch Tau­sen­de in Lebens­ge­fahr. Mei­ne Mut­ter mein­te zunächst, die Tali­ban hät­ten sich geän­dert, es sei­en nicht mehr die­sel­ben wie vor 20 Jah­ren. Aber das stimmt lei­der  nicht. Sie benut­zen zwar das Inter­net, aber sie sind nicht anders als frü­her. Aber es scheint nie­man­den zu inter­es­sie­ren. Die Men­schen in Afgha­ni­stan leben in der Dun­kel­heit, doch die Welt schaut nur zu und igno­riert Afgha­ni­stan. Alles dreht sich nur um den Krieg in der Ukraine.

*Namen geän­dert

Die Grup­pe »United Voice of Women for Peace« hat sich auf Ein­la­dung von PRO ASYL in Frank­furt getrof­fen und in einem Appell For­de­run­gen an die Bun­des­re­gie­rung und die Welt­ge­mein­schaft for­mu­liert: Eva­ku­ier­te afgha­ni­sche Frau­en appel­lie­ren: Ver­gesst nicht die anderen!

(wr)