15.09.2023
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Einreichung der Beschwerde vor dem Marinegericht in Piräus. Foto: Refugee Support Aegean

Drei Monate nach dem Schiffsunglück von Pylos mit mehr als 600 Toten ist in Griechenland noch keine Untersuchung eingeleitet worden, die rechtsstaatlichen Kriterien entspricht. 40 Überlebende haben deshalb nun formell Beschwerde eingereicht. Sie fordern Aufklärung und strafrechtliche Konsequenzen für alle Verantwortlichen in staatlichen Behörden.

Bediens­te­te der Küs­ten­wa­che, die 15 Stun­den lang kei­ne geeig­ne­ten Maß­nah­men ergrei­fen, um rund 750 Men­schen an Bord des see­un­taug­li­chen Schiff­kut­ters Adria­na zu ret­ten. Über­le­ben­de, die über­ein­stim­mend berich­ten, dass ein Abschlepp­ma­nö­ver der Küs­ten­wa­che zum Unter­gang des Schif­fes und dem Tod von mehr als 600 Men­schen geführt hat. Hi-Tech Kame­ras an Bord des Schiffs der Küs­ten­wa­che, die zum Zeit­punkt des Unter­gangs abge­schal­tet sind. Han­dys von Über­le­ben­den, die von der Küs­ten­wa­che kon­fis­ziert wer­den, zunächst ver­schwin­den und erst Wochen spä­ter in einem Büro der Küs­ten­wa­che auf­tau­chen. Ver­neh­mungs­pro­to­kol­le von Über­le­ben­den, die nach­träg­lich um Aus­sa­gen ergänzt wer­den, die die Küs­ten­wa­che entlasten.

Soll Verantwortung für hundertfachen Tod vertuscht werden?

Die Lis­te der Vor­wür­fe gegen die grie­chi­sche Küs­ten­wa­che rund um eines der töd­lichs­ten Schiffs­un­glü­cke im Mit­tel­meer mit mehr als 600 Toten am 14. Juni 2023 vor der grie­chi­schen Hafen­stadt Pylos ist lang. Es drängt sich der Ein­druck auf, dass die Küs­ten­wa­che die Men­schen an Bord des Schif­fes Adria­na nicht nur hat ster­ben las­sen und ihnen die Ret­tung ver­wei­gert hat, son­dern auch mit allen Mit­teln ver­sucht, die eige­ne Ver­ant­wor­tung für den hun­dert­fa­chen Tod von schutz­su­chen­den Men­schen zu ver­tu­schen. Öffent­li­che Rücken­de­ckung erfährt die Küs­ten­wa­che von der grie­chi­schen Regie­rung, die jeg­li­che Kri­tik an der Küs­ten­wa­che vehe­ment zurück­weist.

Meh­re­re inter­na­tio­na­le Insti­tu­tio­nen wie die Men­schen­rechts­kom­mis­sa­rin des Euro­pa­rats, Dun­ja Mija­to­vić, haben Grie­chen­land auf­ge­for­dert, eine wirk­sa­me und rechts­staat­li­che Unter­su­chung zu den Umstän­den des Schiffs­un­glücks durch­zu­füh­ren und die Ver­ant­wort­li­chen zur Rechen­schaft zu ziehen.

Noch keine einzige Zeugenaussage von Überlebenden aufgenommen

Die bis­he­ri­gen Akti­vi­tä­ten der grie­chi­schen Jus­tiz las­sen wenig Hoff­nung auf­kom­men, dass durch sie Auf­klä­rung und eine Bestra­fung der Ver­ant­wort­li­chen zu erwar­ten ist. Drei Mona­te nach der Kata­stro­phe hat eine Staats­an­wäl­tin am zustän­di­gen Mari­n­ege­richt von Pirä­us zwar Vor­er­mitt­lun­gen auf­ge­nom­men. In die­sen Vor­er­mitt­lun­gen soll geklärt wer­den, ob Ankla­ge gegen Bediens­te­te der Küs­ten­wa­che erho­ben wird oder nicht. Wäh­rend die Besat­zung des Schiffs der Küs­ten­wa­che bereits befragt wur­de, spielt die Per­spek­ti­ve der Über­le­ben­den bis­her kei­ne Rol­le. Das Mari­n­ege­richt hat noch kei­ne ein­zi­ge Zeu­gen­aus­sa­ge eines Über­le­ben­den aufgenommen.

»Wir for­dern eine inter­na­tio­na­le Ver­ur­tei­lung und dass die Täter der grie­chi­schen Küs­ten­wa­che und all jene, die es ver­säumt haben, uns zu ret­ten, dafür zur Rechen­schaft gezo­gen werden.«

Hasan Al Jalam, Überlebender

Überlebende reichen Beschwerde ein und fordern Gerechtigkeit

40 Über­le­ben­de haben des­halb nun for­mell Beschwer­de beim Mari­n­ege­richt in Pirä­us ein­ge­reicht und die Staats­an­wäl­tin auf­ge­for­dert, ihre Zeu­gen­aus­sa­gen auf­zu­neh­men, die Ver­ant­wort­li­chen für die Kata­stro­phe von Pylos unver­züg­lich und voll­um­fäng­lich zu ermit­teln und straf­recht­lich zur Rechen­schaft zu zie­hen. Ver­tre­ten wer­den die Über­le­ben­den von Anwält*innen der grie­chi­schen Part­ner­or­ga­ni­sa­ti­on von PRO ASYL, Refu­gee Sup­port Aege­an (RSA), sowie vier wei­te­ren grie­chi­schen Organisationen.

Einer der Über­le­ben­den, die in Grie­chen­land von RSA ver­tre­ten wer­den, ist Hasan Al Jalam. Er kommt aus Syri­en, befin­det sich inzwi­schen in Deutsch­land im Asyl­ver­fah­ren und wird von PRO ASYL unter­stützt. Er fasst die For­de­rung der Über­le­ben­den sowie der Ange­hö­ri­gen der Toten und Ver­miss­ten fol­gen­der­ma­ßen zusammen:

»Was pas­siert ist, war nichts ande­res als ein bru­ta­les Mas­sa­ker. Wir for­dern eine inter­na­tio­na­le Ver­ur­tei­lung und dass die Täter der grie­chi­schen Küs­ten­wa­che und all jene, die es ver­säumt haben, uns zu ret­ten, dafür zur Rechen­schaft gezo­gen wer­den. Wir wol­len Gerech­tig­keit für alle Opfer auf dem Boot«.

Wiederholt sich die Geschichte?

Durch ihre Beschwer­de sind die Über­le­ben­den nun for­mell Betei­lig­te des Ver­fah­rens am Mari­n­ege­richt in Pirä­us gewor­den und kön­nen dadurch recht­li­che Schrit­te ergrei­fen, falls die Staats­an­wäl­tin das Ver­fah­ren gegen die Küs­ten­wa­che ein­stel­len soll­te. Dass eine Ein­stel­lung des Ver­fah­rens ohne Kon­se­quen­zen für die Ver­ant­wort­li­chen lei­der kei­ne unrea­lis­ti­sche Befürch­tung ist, zeigt der Fall von Farm­a­ko­ni­si: Anfang 2014 waren acht Kin­der und drei Frau­en im Schlepp­tau der grie­chi­schen Küs­ten­wa­che ertrun­ken. Auch damals hat­te ein Staats­an­walt am Mari­n­ege­richt in Pirä­us Vor­er­mitt­lun­gen auf­ge­nom­men, das Ver­fah­ren jedoch schnell wie­der eingestellt.

Die Über­le­ben­den und Ange­hö­ri­gen muss­ten bis vor den Euro­päi­schen Gerichts­hof für Men­schen­rech­te (EGMR) zie­hen, um fast acht Jah­re nach dem Schiffs­un­glück end­lich Recht zu bekom­men: Im Juli 2022 ver­ur­teil­te der EGMR Grie­chen­land nicht nur dafür, dass die Küs­ten­wa­che kei­ne aus­rei­chen­den Ret­tungs­maß­nah­men ergrif­fen hat­te, son­dern auch für die man­geln­de rechts­staat­li­che Auf­klä­rung durch die grie­chi­sche Justiz.

Es ist des­halb mög­lich, dass auch den Über­le­ben­den und Ange­hö­ri­gen der Toten von Pylos ein lan­ger und müh­sa­mer Pro­zess bevor­steht. PRO ASYL und unse­re Kolleg*innen von RSA ste­hen in jedem Fall fest an der Sei­te der Über­le­ben­den und der Ange­hö­ri­gen und wer­den kei­ne Mühe scheu­en, um sie wei­ter mit allen Mit­teln zu unterstützen.

Erster Erfolg: Überlebende können zu ihren Angehörigen nach Deutschland kommen

Einen ers­ten Teil­erfolg gibt es bereits zu ver­mel­den. Wir haben uns in den letz­ten Wochen inten­siv dafür ein­ge­setzt, dass die Über­le­ben­den, die Fami­lie in Deutsch­land haben, nach Deutsch­land kom­men dür­fen. Mit Erfolg: Meh­re­re Über­le­ben­de konn­ten in die­ser Woche nach Deutsch­land flie­gen und von ihren Ange­hö­ri­gen am Flug­ha­fen in Emp­fang genom­men wer­den. Sie durch­lau­fen nun ihr Asyl­ver­fah­ren und wer­den dabei auch wei­ter­hin von PRO ASYL unterstützt.

(ame)