01.08.2022
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Demonstration von Geflüchteten zum Familiennachzug am Tag der Familie im Mai 2021 in Berlin. Foto: PRO ASYL/ Wiebke Rannenberg

In zwei wichtigen Urteilen hat der EuGH die Rechte von Kindern und Eltern beim Familiennachzug gestärkt. Das Gericht legte fest, dass Deutschland Eltern oder Kindern den Nachzug nicht deshalb verwehren darf, weil die Kinder während langer Verfahren volljährig wurden. Entscheidend sei, dass das Kind bei Asylantragstellung minderjährig war.

 »Mir hat was gefehlt. Ich habe mich sehr, sehr, sehr trau­rig gefühlt – es war sehr schwer für mich«, so beschreibt Omid aus Afgha­ni­stan im PRO ASYL-Pod­cast sei­ne Situa­ti­on. Gemein­sam mit sei­ner Fami­lie flieht der damals 12-jäh­ri­ge im Jahr 2015 aus Afgha­ni­stan. Bei der Über­fahrt nach Grie­chen­land wird die Fami­lie getrennt. Nur Omid schafft es nach Euro­pa und wird in Deutsch­land als Flücht­ling aner­kannt. Heu­te ist er 19 Jah­re alt – und sei­ne mitt­ler­wei­le allein­er­zie­hen­de Mut­ter und sei­ne min­der­jäh­ri­gen Geschwis­ter konn­ten immer noch nicht zu ihm zie­hen, obwohl er als aner­kann­ter Flücht­ling einen Anspruch auf Fami­li­en­nach­zug hat. Im Visums­ver­fah­ren wur­den vie­le Doku­men­te ver­langt – Taz­ki­ras (afgha­ni­sche Iden­ti­täts­do­ku­men­te), DNA-Gut­ach­ten und auch eine Ein­ver­ständ­nis­er­klä­rung sei­nes Onkels aus Afgha­ni­stan für die Aus­rei­se der Geschwis­ter, da der Vater seit einer Ent­füh­rung durch die Tali­ban als ver­schol­len gilt und die Erlaub­nis der Mut­ter den deut­schen Behör­den nicht gereicht hat. Doch die Bot­schaft war lan­ge Zeit nicht erreich­bar und ver­gab ein Jahr lang kei­nen Ter­min für den DNA-Abgleich der Mut­ter und Geschwis­ter. Omid wur­de voll­jäh­rig bevor das posi­ti­ve Ergeb­nis end­lich vor­lag. Dann hieß es: »Pech gehabt«, das Recht auf Fami­li­en­nach­zug sei mit dem 18. Geburts­tag erloschen.

Für Omid und vie­le ande­re bedeu­ten die Urtei­le des Gerichts­hofs der Euro­päi­schen Uni­on  (EuGH) des­we­gen einen wich­ti­gen Durch­bruch: Sein Anspruch auf Fami­li­en­nach­zug ist eben nicht dadurch erlo­schen, dass er auf­grund der lan­gen Ver­fah­ren mitt­ler­wei­le voll­jäh­rig gewor­den ist. »Ich habe noch eine klei­ne Hoff­nung, dass mei­ne Fami­lie noch hier her kom­men kann und das gibt mir Kraft, dass ich das alles [sei­ne Aus­bil­dung als Indus­trie­kauf­mann] noch mache.« Die­se Hoff­nung ist jetzt gestärkt.

»Ich habe noch eine klei­ne Hoff­nung, dass mei­ne Fami­lie noch hier her kom­men kann und das gibt mir Kraft, dass ich das alles [sei­ne Aus­bil­dung als Indus­trie­kauf­mann] noch mache.«

Omid floh 2015 aus Afghanistan

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EuGH-Entscheidung stärkt das Recht auf Familiennachzug

Egal, ob ein Kind zu sei­nen in Deutsch­land als Flücht­ling aner­kann­ten Eltern möch­te, oder ob ein Kind in Deutsch­land aner­kannt wur­de und auf die Erlaub­nis hofft, dass sei­ne Eltern zu ihm zie­hen dür­fen: In bei­den Kon­stel­la­tio­nen gilt nach Uni­ons­recht, dass es dar­auf ankommt, dass das Kind zu dem Zeit­punkt min­der­jäh­rig war, als die Per­son, zu der der Fami­li­en­nach­zug erfol­gen soll und die dann als Flücht­ling aner­kannt wird, ihren Asyl­an­trag gestellt hat. Das hat der Gerichts­hof der Euro­päi­schen Uni­on  nun ver­bind­lich nicht nur für Deutsch­land, son­dern für alle Mit­glied­staa­ten der Euro­päi­schen Uni­on geklärt.

Das bedeu­tet, dass der Visums­an­trag für den Fami­li­en­nach­zug auch dann noch gestellt wer­den kann, wenn das Kind zum Zeit­punkt der Asyl­an­trag­stel­lung min­der­jäh­rig war, aber  wäh­rend des Asyl­ver­fah­rens voll­jäh­rig gewor­den ist. Das Recht auf Fami­li­en­nach­zug zu Flücht­lin­gen wird so gestärkt und kann nicht – etwa durch Ver­zö­ge­run­gen der den Asyl­an­trag oder den Visum­an­trag bear­bei­ten­den Behör­den –  zunich­te­ge­macht werden.

In der am 1. August 2022 getrof­fe­nen Ent­schei­dung SW, BL und BC gegen Deutsch­land geht es um syri­sche Kin­der, die als unbe­glei­te­te Min­der­jäh­ri­ge 2015 nach Deutsch­land kamen und hier als Flücht­lin­ge aner­kannt wur­den. Nach­dem die Kin­der auf der Grund­la­ge der Flücht­lings­an­er­ken­nung Auf­ent­halts­er­laub­nis­se erhal­ten hat­ten, bean­trag­ten die Eltern im Herbst 2016 Visa zur Fami­li­en­zu­sam­men­füh­rung – zu dem Zeit­punkt sind alle Kin­der noch knapp unter 18 Jah­ren. Im März 2017 lehnt die zustän­di­ge deut­sche Bot­schaft in Bei­rut die Anträ­ge ab, weil die Kin­der zwi­schen­zeit­lich voll­jäh­rig gewor­den sind. Dage­gen klag­ten die Eltern vor dem Ver­wal­tungs­ge­richt Berlin.

Das Ver­wal­tungs­ge­richt Ber­lin gab ihnen mit Urtei­len vom 01. Febru­ar 2019 sowie vom 30. Janu­ar 2019 Recht und ver­pflich­te­te die Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land dazu, den Eltern der syri­schen Kin­der die bean­trag­ten Visa zu ertei­len. Dabei bezog sich das Gericht auf ein Urteil des EuGH von 2018 in einem nie­der­län­di­schen Ver­fah­ren zu einer ähn­li­chen Situa­ti­on: In sei­nem Urteil vom 12. April 2018 – C‑550/16 hat­te der EuGH schon damals ent­schie­den, dass der ent­schei­den­de Zeit­punkt für die Fra­ge, ob das Kind, zu dem die Eltern zie­hen sol­len, min­der­jäh­rig ist, der Zeit­punkt des Asyl­ver­fah­rens ist.

Trotz klarer EuGH-Rechtsprechung: Vorlage durch das Bundesverwaltungsgericht

Gegen die­se Ent­schei­dun­gen wur­de auf Antrag der Bun­des­re­pu­blik eine soge­nann­te Sprung­re­vi­si­on gewährt, die bei Ver­fah­ren von grund­le­gen­der Bedeu­tung erlaubt wird –  womit der Fall direkt beim Bun­des­ver­wal­tungs­ge­richt als letz­te Instanz lan­de­te anstatt zunächst beim Ober­ver­wal­tungs­ge­richt. Das Bun­des­ver­wal­tungs­ge­richt ent­schied, dem EuGH die­se Kon­stel­la­ti­on noch ein­mal vor­zu­le­gen. Als Begrün­dung gaben die Richter*innen an, dass nach deut­schem Auf­ent­halts­recht (§ 36 Abs. 1 Auf­enthG) und sei­ner dazu ergan­ge­nen Recht­spre­chung den Eltern ein Auf­ent­halts­recht zur Fami­li­en­zu­sam­men­füh­rung nur bis zum Errei­chen der Voll­jäh­rig­keit des Kin­des zuste­he. Anders als beim Kin­der­nach­zug rei­che es auch nicht aus, dass das Kind zumin­dest bei Stel­lung des Visum­an­trags noch min­der­jäh­rig sei, die Min­der­jäh­rig­keit müs­se viel­mehr bis zur Ertei­lung der Visa an die Eltern fortbestehen.

In sei­ner besag­ten Recht­spre­chung hat­te das Bun­des­ver­wal­tungs­ge­richt dies damit begrün­det, dass sich das Auf­ent­halts­recht der Eltern, nach­dem ihr in Deutsch­land leben­des Kind voll­jäh­rig gewor­den ist, nicht in ein vom Fami­li­en­nach­zug unab­hän­gi­ges eigen­stän­di­ges Auf­ent­halts­recht wan­de­le – wie es das bei der umge­kehr­ten Situa­ti­on des Kin­der­nach­zugs für das Kind der Fall ist (vgl. § 34 Abs. 2 und 3 Auf­enthG) –, son­dern dass viel­mehr der Rechts­grund für den Auf­ent­halt der Eltern ent­fal­le. Das Bun­des­ver­wal­tungs­ge­richt woll­te  vor die­sem Hin­ter­grund vom EuGH klä­ren las­sen,  ob der Fami­li­en­zu­sam­men­füh­rungs­an­trag abge­lehnt wer­den dür­fe oder ob den Eltern die Visa zum Fami­li­en­nach­zug auf­grund des Anwen­dungs­vor­rangs des Uni­ons­rechts erteilt wer­den muss (abwei­chend von § 36 Abs. 1 Auf­enthG in unmit­tel­ba­rer Anwen­dung von Art. 10 Abs. 3 a der Fami­li­en­zu­sam­men­füh­rungs­richt­li­nie).

Fer­ner rich­te­te das Bun­des­ver­wal­tungs­ge­richt an den EuGH die Fra­ge, wel­che Anfor­de­run­gen an das Bestehen von tat­säch­li­chen fami­liä­ren Bin­dun­gen im Sin­ne von Art. 16 Abs. 1 Buchst. b der Fami­li­en­zu­sam­men­füh­rungs­richt­li­nie zwi­schen dem inzwi­schen voll­jäh­rig gewor­de­nen Kind und den nach­zugs­wil­li­gen Eltern zu stel­len sind.

Der EuGH hol­te, wohl in Anbe­tracht der sei­ner Mei­nung kla­ren Rechts­la­ge, kei­ne soge­nann­ten Schluss­an­trä­ge eines Gene­ral­an­walts ein, son­dern ent­schied direkt über den Vor­ab­ent­schei­dungs­an­trag des Bun­des­ver­wal­tungs­ge­richts. Schluss­an­trä­ge wer­den übli­cher­wei­se ein­ge­holt, sie sind eine Art Rechts­gut­ach­ten, die dem EuGH bei der Ent­schei­dungs­fin­dung hel­fen sollen.

Der EuGH entscheidet erneut: Minderjährigkeit muss nur beim Asylantrag bestehen

In sei­nem aktu­el­len Urteil vom 1. August 2022 bleibt der EuGH – wie bereits in sei­ner Ent­schei­dung vom 12. April 2018 (s.o.) – dabei, dass auf die Min­der­jäh­rig­keit des in Deutsch­land als Flücht­ling aner­kann­ten Kin­des zum Zeit­punkt sei­ner Asyl­an­trag­stel­lung abzu­stel­len ist.

»Der Gerichts­hof hat […] bereits ent­schie­den, dass Art. 2 Buchst. f in Ver­bin­dung mit Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richt­li­nie 2003/86 dahin aus­zu­le­gen ist, dass ein Dritt­staats­an­ge­hö­ri­ger oder Staa­ten­lo­ser, der bei Ein­rei­se in das Hoheits­ge­biet eines Mit­glied­staats und Stel­lung sei­nes Asyl­an­trags in die­sem Staat jün­ger als 18 Jah­re alt war, aber wäh­rend des Asyl­ver­fah­rens voll­jäh­rig wird und dem spä­ter die Flücht­lings­ei­gen­schaft zuer­kannt wird, als „Min­der­jäh­ri­ger“ im Sin­ne die­ser Bestim­mung [für den Eltern­nach­zug] anzu­se­hen ist (Urteil vom 12. April 2018, A und S, C 550/16, EU:C:2018:248, Rn. 64)«. (Rn. 41)

Dies begrün­det der Gerichts­hof damit, dass lang­sa­mes Behör­den­han­deln ansons­ten das Recht auf Fami­li­en­le­ben der Min­der­jäh­ri­gen gefähr­den wür­de und für die Behör­den kei­ne Ver­an­las­sung bestehen wür­de, die Anträ­ge mit der gebo­te­nen Dring­lich­keit zu bear­bei­ten (Rn. 43). Außer­dem wür­de es den Grund­sät­zen der Gleich­be­hand­lung und der Rechts­si­cher­heit wider­spre­chen, wenn bei Antragsteller*innen, die zeit­lich in der glei­chen Situa­ti­on sind, »der Erfolg des Antrags auf Fami­li­en­zu­sam­men­füh­rung haupt­säch­lich von Umstän­den abhin­ge, die in der Sphä­re der natio­na­len Behör­den oder Gerich­te lie­gen, ins­be­son­de­re von der mehr oder weni­ger zügi­gen Bear­bei­tung des Antrags oder von der mehr oder weni­ger zügi­gen Ent­schei­dung über einen Rechts­be­helf gegen die Ableh­nung eines sol­chen Antrags, und nicht von Umstän­den, die in der Sphä­re des Antrag­stel­lers lie­gen« (Rn. 44). Dies wür­de dann auch »gro­ße Unter­schie­de bei der Bear­bei­tung von Anträ­gen auf Fami­li­en­zu­sam­men­füh­rung zwi­schen den Mit­glied­staa­ten und inner­halb ein und des­sel­ben Mit­glied­staats zur Fol­ge haben« (Rn. 45).

Aufenthaltsrecht der Eltern

Außer­dem hat der EuGH auf die Fra­ge des Bun­des­ver­wal­tungs­ge­richts geant­wor­tet, wie es mit dem Auf­ent­halts­recht der zuzie­hen­den Eltern aus­sieht, das in Deutsch­land bis­lang bis zu dem Zeit­punkt begrenzt war, an dem ihr Kind, zu dem sie nach­ge­zo­gen sind, voll­jäh­rig wur­de. Hier­zu hält der EuGH fest,  dass bei Statt­ga­be des Antrags auf Fami­li­en­nach­zugs – ent­spre­chend dem Urteil auch wenn das Kind voll­jäh­rig gewor­den ist – den Eltern »ein Auf­ent­halts­ti­tel erteilt wer­den muss, der min­des­tens ein Jahr lang gül­tig ist, ohne dass der Ein­tritt der Voll­jäh­rig­keit des als Flücht­ling aner­kann­ten Kin­des dazu füh­ren darf, dass die Dau­er eines sol­chen Auf­ent­halts­ti­tels ver­kürzt wird. […] Somit ver­stößt es gegen die­se Bestim­mung, den Eltern unter sol­chen Umstän­den ein Auf­ent­halts­recht nur so lan­ge zu gewäh­ren, wie das Kind tat­säch­lich min­der­jäh­rig ist« (Rn. 51).

Tatsächliche familiäre Bindung

Die letz­te Fra­ge, die das Bun­des­ver­wal­tungs­ge­richt an den EuGH gestellt hat, bezog sich auf den Nach­weis der fami­liä­ren Bin­dung und ob die blo­ße Ver­wandt­schaft in »gera­der auf­stei­gen­der Linie ers­ten Gra­des« (also zwi­schen Kin­dern und Eltern) aus­reicht. Dies hat der EuGH ver­neint, aber der Gerichts­hof stell­te auch fest, dass es den Betrof­fe­nen über­las­sen ist wie sie ihr Fami­li­en­le­ben füh­ren wol­len und das ent­spre­chend kei­ne Anfor­de­run­gen an die Inten­si­tät der fami­liä­ren Bezie­hung gestellt wer­den kön­nen (Rn. 62). Bei der Beur­tei­lung müs­se auch berück­sich­tigt wer­den, dass die Tren­nung in dem Fall auf die Son­der­si­tua­ti­on von geflüch­te­ten Men­schen zurück geht und ent­spre­chend nicht auf die­se Tren­nung abge­stellt wer­den kann um zu behaup­ten, dass kein fami­liä­ren Bin­dun­gen bestehen.

Ins­ge­samt resü­miert der EuGH zu der Frage:

»Es ist jedoch nicht erfor­der­lich, dass das zusam­men­füh­ren­de Kind und der betref­fen­de Eltern­teil im sel­ben Haus­halt zusam­men­le­ben oder unter einem Dach woh­nen, damit die­ser Eltern­teil Anspruch auf Fami­li­en­zu­sam­men­füh­rung haben kann. Gele­gent­li­che Besu­che, sofern sie mög­lich sind, und regel­mä­ßi­ge Kon­tak­te jed­we­der Art kön­nen für die Annah­me, dass die­se Per­so­nen per­sön­li­che und emo­tio­na­le Bezie­hun­gen wie­der auf­bau­en, und als Beleg für das Bestehen tat­säch­li­cher fami­liä­rer Bin­dun­gen aus­rei­chen. Dar­über hin­aus kann auch nicht ver­langt wer­den, dass sich das zusam­men­füh­ren­de Kind und der betref­fen­de Eltern­teil gegen­sei­tig finan­zi­ell unter­stüt­zen« (Rn. 68).

Konsequenz für das deutsche Aufenthaltsrecht

Für den Eltern­nach­zug bedeu­tet das EuGH-Urteil: Der enger gefass­te § 36 Abs. 1 Auf­enthG hat wegen Ver­sto­ßes gegen Uni­ons­recht zunächst außer Anwen­dung zu blei­ben und Art. 10 Abs. 3 a der Fami­li­en­zu­sam­men­füh­rungs­richt­li­nie ist unmit­tel­bar zu Guns­ten der nach­zugs­wil­li­gen Eltern anzu­wen­den. Auch eine auf­ent­halts­recht­li­che Grund­la­ge für den Ver­bleib der Eltern, nach­dem ihr Kind voll­jäh­rig gewor­den ist, muss ent­spre­chend dem Urteil geschaf­fen werden.

Im zwei­ten heu­te vom EuGH ent­schie­de­nen Fall, XC gegen Deutsch­land, geht es um einen syri­schen Vater, der in Deutsch­land als Flücht­ling aner­kannt wor­den ist und sei­ne nach dem Tode der Mut­ter allei­ne in der Tür­kei leben­de Toch­ter zu sich holen möch­te. Den Visum­an­trag hat­te die im Janu­ar 1999 gebo­re­ne Toch­ter im August 2017 gestellt, also weni­ge Mona­te, nach­dem sie bereits voll­jäh­rig gewor­den war. Aller­dings war sie zum Zeit­punkt der Stel­lung des Asyl­an­trags des Vaters in Deutsch­land noch minderjährig.

Das deut­sche Gene­ral­kon­su­lat in Istan­bul lehn­te den Visum­an­trag ab, da die Antrag­stel­le­rin zum Zeit­punkt der Stel­lung des Visum­an­trags bereits erwach­sen war. Außer­dem argu­men­tier­te es, dass der Vater noch kei­ne Auf­ent­halts­er­laub­nis erhal­ten hat­te, als sie die Voll­jäh­rig­keit erreich­te. Die­se hat­te der Vater erst nach Stel­lung des Visum­an­trags der Toch­ter im Sep­tem­ber 2017 erhalten.

Dem­ge­gen­über ver­ur­teil­te das Ver­wal­tungs­ge­richt Ber­lin, nach­dem die Toch­ter gegen die ableh­nen­de Ent­schei­dung Kla­ge ein­ge­reicht hat­te, die Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land zur Ertei­lung des begehr­ten Visums. Das Ver­wal­tungs­ge­richt argu­men­tier­te mit der oben genann­ten EuGH-Ent­schei­dung vom 12. April 2018 zur umge­kehr­ten Situa­ti­on – also dem Nach­zug eines Eltern­teils zu einem in Deutsch­land aner­kann­ten min­der­jäh­ri­gen Flücht­ling und über­trug die dies­be­züg­li­che Recht­spre­chung des EuGHs auf die­se Situation.

Vorlage beim EuGH durch das Bundesverwaltungsgericht

Gegen die­se Ent­schei­dung leg­te die Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land eben­falls Sprung­re­vi­si­on beim Bun­des­ver­wal­tungs­ge­richt ein. Das Bun­des­ver­wal­tungs­ge­richt hat auch hier das Ver­fah­ren aus­ge­setzt und dem EuGH die nun beant­wor­te­ten Fra­gen zur Aus­le­gung von EU-Recht vor­ge­legt. Bei Stel­lung des Antrags auf Vor­ab­ent­schei­dung argu­men­tier­te das Bun­des­ver­wal­tungs­ge­richt, dass die Vor­aus­set­zun­gen für den Kin­der­nach­zug nach natio­na­lem Recht in Gestalt des § 32 Abs. 1 Nr. 2 Auf­enthG, wonach das nach­zugs­wil­li­ge Kind zum Zeit­punkt der Stel­lung des Visum­an­trags noch min­der­jäh­rig sein muss und der stamm­be­rech­tig­te Eltern­teil schon über eine Auf­ent­halts­er­laub­nis ver­fü­gen muss, ein­deu­tig nicht vor­lie­gen wür­den und auch nicht die Aus­le­gung zulie­ßen, nach der für die Min­der­jäh­rig­keit auf den Zeit­punkt der Asyl­an­trag­stel­lung des stamm­be­rech­ti­gen Vaters abzu­stel­len sei. Ein Anspruch in unmit­tel­ba­rer Anwen­dung des EU-Rechts – nament­lich von Art. 4 Abs. 1 Buchst. b der Fami­li­en­zu­sam­men­füh­rungs­richt­li­nie – kom­me wie­der­um nur in Betracht, wenn beim Kin­der­nach­zug zu Flücht­lin­gen hin­sicht­lich der Min­der­jäh­rig­keit des nach­zugs­wil­li­gen Kin­des der Zeit­punkt der Asyl­an­trag­stel­lung der als Flücht­lin­ge aner­kann­te Eltern maß­geb­lich wäre – wie es der EuGH wie oben dar­ge­stellt bereits mit Urtei­len vom 12. April 2018 (C‑550/16) und vom heu­ti­gen Tage im Urteil SW, BL und BC gegen Deutsch­land für die umge­kehr­te Situa­ti­on des Nach­zugs des Eltern­teils zum in Deutsch­land leben­den Kind ent­schie­den hat.

Außer­dem stell­te das Bun­des­ver­wal­tungs­ge­richt dem EuGH auch hier die Fra­ge, wel­che Anfor­de­run­gen an das Bestehen von tat­säch­li­chen fami­liä­ren Bin­dun­gen i.S.v. Art. 16 Abs. 1 Buchst. b der Fami­li­en­zu­sam­men­füh­rungs­richt­li­nie zwi­schen dem inzwi­schen voll­jäh­rig gewor­de­nen Kind und dem Flücht­ling zu stel­len sind.

Auch beim Kindernachzug: Entscheidend ist Zeitpunkt der Asylantragstellung

Zunächst ein­mal betont der EuGH, dass es nicht den Mit­glied­staa­ten über­las­sen wer­den kann zu bestim­men, zu wel­chem Zeit­punkt die Min­der­jäh­rig­keit bestehen muss – also etwa zum Asyl­an­trag, zum Visums­an­trag oder bei Ent­schei­dung über den Visums­an­trag – son­dern dies in der gesam­ten EU gleich ange­wen­det wer­den muss (Rn. 37). In Bezug­nah­me auf die Schluss­an­trä­ge des Gene­ral­an­walt Coll­ins vom 16. Dezem­ber 2021 betont der EuGH, dass »das Recht auf Fami­li­en­zu­sam­men­füh­rung, wenn es um min­der­jäh­ri­ge Kin­der geht, nicht durch den Zeit­auf­wand für Ent­schei­dun­gen über Anträ­ge auf inter­na­tio­na­len Schutz oder auf Fami­li­en­zu­sam­men­füh­rung aus­ge­höhlt wer­den darf« (Rn. 47).

Wie auch im Urteil SW, BL und BC gegen Deutsch­land füh­ren die Luxem­bur­ger Richter*innen aus, dass Anträ­ge auf Fami­li­en­nach­zug nicht mit der gebo­te­nen Dring­lich­keit bear­bei­tet wer­den könn­ten, wenn der Anspruch auf Fami­li­en­nach­zug von Behör­den durch lang­sa­mes Arbei­ten ver­hin­dert kann (Rn. 49). Die Grund­sät­ze der Gleich­be­hand­lung und der Rechts­si­cher­heit set­zen vor­aus, dass es eine glei­che und vor­her­seh­ba­re Behand­lung von Antragsteller*innen in der glei­chen Situa­ti­on gibt (Rn. 50). Das Recht auf Fami­li­en­zu­sam­men­füh­rung darf ent­spre­chend nicht von »zufäl­li­gen und nicht vor­her­seh­ba­ren Umstän­den abhän­gig gemacht wür­de, die voll und ganz im Ver­ant­wor­tungs­be­reich der zustän­di­gen natio­na­len Behör­den und Gerich­te des betref­fen­den Mit­glied­staats lägen« (Rn. 51).

Ent­spre­chend resü­miert der EuGH, dass der ent­schei­den­de Zeit­punkt »für die Fest­stel­lung, ob das Kind eines als Flücht­ling aner­kann­ten Zusam­men­füh­ren­den min­der­jäh­rig im Sin­ne des Art. 4 Abs. 1 Unter­abs. 1 Buchst. c der Richt­li­nie 2003/86 ist, wenn es vor der Aner­ken­nung des Zusam­men­füh­ren­den als Flücht­ling und vor Stel­lung des Antrags auf Fami­li­en­zu­sam­men­füh­rung voll­jäh­rig gewor­den ist, auf den Zeit­punkt der Stel­lung des Asyl­an­trags des Zusam­men­füh­ren­den abzu­stel­len. Nur das Abstel­len auf die­sen Zeit­punkt steht mit den Ziel­set­zun­gen die­ser Richt­li­nie und den durch die Uni­ons­rechts­ord­nung geschütz­ten Grund­rech­ten in Ein­klang« (Rn. 52). Der Antrag muss aber in einer Frist von drei Mona­ten ab Aner­ken­nung als Schutz­be­rech­tigt gestellt wer­den (Rn. 53).

Bezüg­lich der tat­säch­li­chen fami­liä­ren Bin­dung macht der EuGH die glei­chen Aus­füh­run­gen wie im Urteil SW, BL und BC gegen Deutsch­land (sie­he Kon­stel­la­ti­on 1 zum Elternnachzug).

Konsequenz für das deutsche Aufenthaltsrecht

Für den Kin­der­nach­zug bedeu­tet das EuGH-Urteil: Der Art. 4 Abs. 1 Buchst. b der Fami­li­en­zu­sam­men­füh­rungs­richt­li­nie ver­drängt die deut­sche Rechts­vor­schrift § 32 Abs. 1 Nr. 2 Auf­enthG auf­grund des Anwen­dungs­vor­rangs des Unionsrechts.

Konsequenzen der EuGH-Urteile in Deutschland

Im Rah­men von Vor­la­ge­ver­fah­ren, wie in die­sen Fäl­len, ent­schei­det der EuGH über die vor­ge­leg­ten Rechts­fra­gen und nicht über die Fäl­le selbst. Somit gehen die Fäl­le nun zurück an das Bun­des­ver­wal­tungs­ge­richt, das in Anwen­dung der EuGH-Recht­spre­chung ent­schei­den muss. In den vor­lie­gen­den Fäl­len muss das dazu füh­ren, dass das Bun­des­ver­wal­tungs­ge­richt  die ursprüng­li­chen Urtei­le des Ver­wal­tungs­ge­richts Ber­lin bestä­tigt und die Bun­des­re­pu­blik dazu ver­pflich­tet wird, den Eltern bzw. der Toch­ter Visa zur Fami­li­en­zu­sam­men­füh­rung zu ihren Ange­hö­ri­gen erteilen.

Das sind gute Nach­rich­ten für vie­le Fami­lie wie die von Omid, die unter zer­mür­ben­der Tren­nung lei­den, weil ihnen der Fami­li­en­nach­zug ver­wehrt wird. Denn die EuGH-Recht­spre­chung gilt nicht nur in dem kon­kret zu ent­schei­den­den Fall, son­dern grund­sätz­lich in allen Fäl­len des Eltern- bzw. Kindernachzug.

Der Gesetz­ge­ber ist zudem ver­pflich­tet, das Auf­ent­halts­ge­setz den Erfor­der­nis­sen des EU-Rechts anzu­pas­sen. Das bedeu­tet, dass der Bun­des­tag die deut­schen Vor­schrif­ten zum Fami­li­en­nach­zug jetzt ent­spre­chend ändern muss. Doch damit nicht genug: Die Bun­des­re­gie­rung muss end­lich ihren Ver­spre­chen aus dem Koali­ti­ons­ver­trag nach­kom­men und die Visa­ver­ga­be beschleu­ni­gen und digi­ta­li­sie­ren sowie sub­si­di­är Schutz­be­rech­tig­te beim Fami­li­en­nach­zug Flücht­lin­gen gleich­stel­len. Denn ansons­ten müs­sen vie­le nach Deutsch­land geflüch­te­te Men­schen wei­ter­hin jah­re­lang auf ihre engs­ten Ange­hö­ri­gen warten.

(pva/wj)