Image
Schon seit vielen Jahren gibt es Protest gegen das Asylbewerberleistungsgesetz. Hier eine Aktion gemeinsam mit campact! und den Flüchtlingsräten vor dem Bundesverfassungsgericht im Jahr 2012. Foto: Angelika von Loeper

Vor 30 Jahren beschloss der Bundestag das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) als Instrument der Abschreckung. Auch heute sprechen Bund und Länder wieder über Verschärfungen in der Flüchtlingspolitik. Dagegen fordern 200 Organisationen die Abschaffung des AsylbLG und die Gleichbehandlung aller armen Menschen nach den Regeln des Sozialgesetzbuchs.

Vor 30 Jah­ren – am 26. Mai 1993 – hat der dama­li­ge Bun­des­tag im soge­nann­ten »Asyl­kom­pro­miss« beschlos­sen, das in der Ver­fas­sung garan­tier­te Grund­recht auf Asyl stark zu beschnei­den, um Flücht­lin­ge mög­lichst fern­zu­hal­ten. Gleich­zei­tig wur­de mit dem »Asyl­be­wer­ber­leis­tungs­ge­setz« (Asyl­bLG) ein neu­es Gesetz geschaf­fen, das die Lebens­ver­hält­nis­se von Asyl­su­chen­den in Deutsch­land gezielt ver­schlech­tern und die sozia­le Ver­sor­gung auf ein Niveau deut­lich unter­halb der nor­ma­len Sozi­al­leis­tun­gen absen­ken soll­te. Das Asyl­bLG trat am 1. Novem­ber 1993 in Kraft. Im 30. Jahr sei­nes Bestehens for­dert nun ein brei­tes zivil­ge­sell­schaft­li­ches Bünd­nis die Abschaf­fung des Asyl­be­wer­ber­leis­tungs­ge­set­zes.

Moti­viert war das Asyl­bLG durch einen zen­tra­len Gedan­ken: den der Abschre­ckung. Ziel war es, geflüch­te­te Men­schen durch eine mög­lichst schä­bi­ge Behand­lung und ver­ord­ne­te Geld­not, ver­bun­den mit dem ver­pflich­ten­den Woh­nen in Sam­mel­un­ter­künf­ten und einem Arbeits­ver­bot, von der Flucht nach Deutsch­land abzu­hal­ten  oder zur Aus­rei­se zu bewegen.

Damit kam man den aggres­si­ven und men­schen­feind­li­chen Stim­men in Poli­tik und Gesell­schaft Anfang der 1990er Jah­re weit ent­ge­gen. Im gera­de erst »wie­der­ver­ei­nig­ten« Deutsch­land dien­ten deut­lich gestie­ge­ne Asyl­an­trags­zah­len als Anlass für eine explo­si­ve flücht­lings­feind­li­che Stim­mungs­ma­che von Poli­tik und Medi­en. Der Mob der Stra­ße gab sei­ner­seits das Echo mit ras­sis­ti­schen Atta­cken auf Unter­künf­te und Mord­an­schlä­gen auf Migrant*innen, von denen die bru­ta­len Exzes­se von Ros­tock-Lich­ten­ha­gen und Hoyers­wer­da oder die Mor­de von Mölln oder Solin­gen nur eini­ge der bekann­tes­ten sind.

Und heute? Bund und Länder verabreden Erosion rechtsstaatlicher Grundsätze

Die Flücht­lings­auf­nah­me 2015 /16 und die Auf­nah­me der ukrai­ni­schen Geflüch­te­ten seit dem ver­gan­ge­nen Jahr haben eine offe­ne, star­ke und hilfs­be­rei­te Gesell­schaft sicht­bar gemacht. Den­noch ver­an­las­sen der­zeit stei­gen­de Asyl­an­trags­zah­len und die Woh­nungs­not (die sich unab­hän­gig von allen Zuzugs­zah­len schon vor vie­len Jah­ren ange­kün­digt hat­te) Politiker*innen aus Kom­mu­nen, Bund und Län­dern erneut zu einem men­schen­feind­li­chen Dis­kurs und rabia­ten Handlungsvorschlägen.

Die Beschlüs­se, die die Ministerpräsident*innen und der Bund beim Flücht­lings­gip­fel am 10. Mai 2023 gefasst haben, bre­chen mit dem mensch­li­chen Anstand wie auch mit dem Völ­ker­recht: An den (EU‑) Gren­zen sol­len Asyl­su­chen­de künf­tig inhaf­tiert und in Dritt­staa­ten zurück­ge­wie­sen wer­den, und auch im Innern sol­len staat­li­che Gewalt­maß­nah­men den Aus­rei­se­druck erhö­hen. Bestärkt durch den poli­ti­schen Alar­mis­mus auch aus den Rei­hen der roten, grü­nen oder gel­ben Koali­ti­ons­par­tei­en droht 30 Jah­re nach dem Asyl­kom­pro­miss die Soli­da­ri­tät in der brei­ten Gesell­schaft bedroh­lich zu wackeln. Erneut wer­den Sam­mel­la­ger für Geflüch­te­te nie­der­ge­brannt, erneut fürch­ten Men­schen in ras­sis­ti­schen Angrif­fen um ihr Leben. Die Bun­des­re­gie­rung muss in die­ser Situa­ti­on eine kla­re Hal­tung zu Dis­kri­mi­nie­rung und Ras­sis­mus ent­wi­ckeln, alte Feh­ler kor­ri­gie­ren und nicht – auch nicht sym­bo­lisch – dem Mob hin­ter­her­lau­fen. Am 17. Mai 2023 hat ein Bünd­nis von über 50 Orga­ni­sa­tio­nen einen Appell an die Bun­des­re­gie­rung ver­öf­fent­licht, das die Gefahr einer weit­ge­hen­den Abschaf­fung des Flücht­lings­schut­zes in Euro­pa sieht und vor Kom­pro­mis­sen auf Kos­ten des Flücht­lings­schut­zes warnt.

Weitere Leistungskürzungen geplant

Eine wei­te­re Ent­glei­sung droht auch sozi­al­po­li­tisch. Klar ist: Die Leis­tun­gen des Asyl­bLG unter­schrei­ten bereits das gesetz­lich fest­ge­leg­te Exis­tenz­mi­ni­mum für ein men­schen­wür­di­ges Leben. Eine zwei­te, abge­senk­te Men­schen­wür­de kann es nicht geben. Statt dies end­lich zu kor­ri­gie­ren, las­sen die aktu­el­len Vor­stel­lun­gen der Ministerpräsident*innen befürch­ten, dass künf­tig sogar erneut ein grö­ße­rer Teil der Geflüch­te­ten – viel­leicht gar bereits aner­kann­te Geflüch­te­te – gekürz­te Leis­tun­gen erhal­ten soll:

»Der Man­gel an Wohn­raum hat zur Fol­ge, dass es Län­dern und Kom­mu­nen immer weni­ger mög­lich ist, bei der Unter­brin­gung der Men­schen nach ihren gesetz­li­chen Leis­tungs­an­sprü­chen zu dif­fe­ren­zie­ren. Nicht sel­ten ist es not­wen­dig, auch sol­che Men­schen in Gemein­schafts­un­ter­künf­ten mit Voll­ver­pfle­gung unter­zu­brin­gen, die Anspruch auf den vol­len Regel­satz in Geld­leis­tung haben. Um die dadurch ent­ste­hen­de Ungleich­be­hand­lung gegen­über ande­ren Leis­tungs­be­zie­hern, zu been­den, stre­ben der Bun­des­kanz­ler und die Regie­rungs­chefin­nen und Regie­rungs­chefs der Län­der eine zügi­ge gesetz­li­che Rege­lung im SGB II und ggf. auch für das SGB XII an.« (S.11)

Wenn es den Län­dern und Kom­mu­nen heu­te tat­säch­lich »immer weni­ger mög­lich ist … nach Leis­tungs­an­sprü­chen zu dif­fe­ren­zie­ren« – war­um erwä­gen die­se Reprä­sen­tan­ten unse­res Sozi­al­staats dann nicht für alle die glei­chen, men­schen­wür­di­gen und ver­fas­sungs­kon­for­men Standards?

Eine Ände­rung im Sozi­al­ge­setz­buch (SGB) statt im Asyl­bLG wür­de eine Anglei­chung nach unten für die­je­ni­gen bedeu­ten, die gera­de nicht mehr die gekürz­ten Leis­tun­gen nach Asyl­bLG erhal­ten. Mit einer Her­ab­set­zung der men­schen­recht­lich gebo­te­nen Leis­tun­gen etwa für aner­kann­te Geflüch­te­te wür­de der heu­te schon ver­fas­sungs­wid­ri­gen Pra­xis die Kro­ne auf­ge­setzt. Es ver­stie­ße auch gegen Arti­kel 23 der Gen­fer Flücht­lings­kon­ven­ti­on: Danach gewäh­ren die Staa­ten den Flücht­lin­gen, die sich recht­mä­ßig in ihrem Staats­ge­biet auf­hal­ten, auf dem Gebiet der öffent­li­chen Für­sor­ge und sons­ti­gen Hil­fe­leis­tun­gen die glei­che Behand­lung wie ihren eige­nen Staats­an­ge­hö­ri­gen. Kaum zu glau­ben, dass eine sol­che Rege­lung in Deutsch­land ver­fas­sungs­recht­lich Bestand hät­te, aber der Weg zu einer Kor­rek­tur dau­ert Jah­re – ein Schelm, wer Kal­kül unterstellt.

Wenn es den Län­dern und Kom­mu­nen heu­te tat­säch­lich »immer weni­ger mög­lich ist … nach Leis­tungs­an­sprü­chen zu dif­fe­ren­zie­ren« – war­um erwä­gen die­se Reprä­sen­tan­ten unse­res Sozi­al­staats dann nicht für alle die glei­chen, men­schen­wür­di­gen und ver­fas­sungs­kon­for­men Standards?

Integrationsminister*innen: Geflüchtete mit Ukrainer*innen gleichstellen!

Tat­säch­lich steht die­se Ver­schär­fungs­idee der Ministerpräsident*innen nicht nur offen­kun­dig im Wider­spruch zum Grund­ge­setz, son­dern auch im Gegen­satz zu den For­de­run­gen der für Inte­gra­ti­on zustän­di­gen Minis­te­rin­nen und Minis­ter, Sena­to­rin­nen und Sena­to­ren der Bun­des­län­der. Nur weni­ge Tage vor dem Flücht­lings­gip­fel, am 27. April 2023, haben die­se auf ihrer Kon­fe­renz (IntMK) den Bund gebe­ten, zu prü­fen, »wie für alle vor Krieg, Gewalt und Ver­fol­gung geflüch­te­ten Men­schen in glei­chem Maße ein schnel­ler und unbü­ro­kra­ti­scher Zugang zu Inte­gra­ti­ons­leis­tun­gen sicher­zu­stel­len« sei. Ihre Kri­tik bezieht sich dar­auf, dass die aus der Ukrai­ne Geflüch­te­ten gegen­über ande­ren Kriegs­flücht­lin­gen deut­lich bes­ser gestellt sind.

Es geht den Integrationsminister*innen dar­um, wie »z.B. Leis­tun­gen zur Lebens­un­ter­halts­si­che­rung, Leis­tun­gen zur Gesund­heits­ver­sor­gung und Zugang zur Bil­dung und Arbeit mög­lichst dis­kri­mi­nie­rungs­frei, gleich­be­rech­tigt und nach den jewei­li­gen Bedürf­nis­sen für alle geflüch­te­ten Men­schen gestal­tet wer­den kann.« Die Landesminister*innen schrei­ben in der Begrün­dung: »Aus der Per­spek­ti­ve der Geflüch­te­ten führt eine unglei­che Behand­lung zur Ver­stär­kung der oft trau­ma­ti­schen Erfah­run­gen und Erleb­nis­se aus den Hei­mat­län­dern oder/und auf der Flucht. Die­se Ungleich­heit bei den betrof­fe­nen Ziel­grup­pen zemen­tiert das Emp­fin­den, dass nicht alle Men­schen welt­weit ras­sis­mus­frei und gleich­be­rech­tigt Zugang zu den wirt­schaft­li­chen und sozia­len Res­sour­cen und das Recht auf siche­res, gesun­des und selbst­be­stimm­tes Leben haben.«

In der Kon­se­quenz for­dern die Integrationsminister*innen Ver­bes­se­rung zuguns­ten der Betrof­fe­nen im Asyl­be­wer­ber­leis­tungs­ge­setz. Dabei zeigt ein Blick auf die ver­gan­ge­nen Jah­re, dass es unrea­lis­tisch ist zu erwar­ten, dass in einem von vorn­her­ein auf Dis­kri­mi­nie­rung ange­leg­ten Son­der­ge­setz Ungleich­hei­ten wirk­lich und dau­er­haft besei­tigt wer­den. Zu befürch­ten ist, dass es statt­des­sen mit immer wie­der neu­en Zumu­tun­gen und Schi­ka­nen gefüllt wird.

Der weit­aus ein­fachs­te Weg zur Gleich­be­hand­lung wäre eben die Abschaf­fung des Asyl­bLG und die Auf­nah­me Geflüch­te­ter in die regu­lä­ren sozi­al­recht­li­chen Rege­lun­gen nach dem SGB. Neben­bei hät­te dies für Kom­mu­nen und Län­der auch den Vor­teil, dass eine lau­fen­de finan­zi­el­le Unter­stüt­zung, die sie vor dem Flücht­lings­gip­fel so laut­stark vom Bund ein­ge­for­dert hat­ten, in die­sem Fall kon­ti­nu­ier­lich gewähr­leis­tet wäre. Außer­dem wür­de in den kom­mu­na­len Sozi­al­äm­tern eine Men­ge Büro­kra­tie-Kos­ten ent­fal­len. Denn für SGB-II-Leis­tun­gen sind die Job­cen­ter zustän­dig und die Kos­ten über­nimmt weit über­wie­gend der Bund.

»Es gibt nur eine Menschenwürde«: Asylbewerberleistungsgesetz abschaffen

Bereits nach der Ein­füh­rung des Asyl­bLG 1993 for­der­ten Kir­chen, Gewerk­schaf­ten und zivil­ge­sell­schaft­li­che Orga­ni­sa­tio­nen ein­hel­lig sei­ne Abschaf­fung und for­der­ten sozi­al­recht­li­che Gleichbehandlung.

Image
Schon vor vie­len Jah­ren gab es Pro­test – hier in Hessen

Zum unrühm­li­chen 30-jäh­ri­gen Bestehen des Asyl­bLG hat sich 2023 ein brei­tes Bünd­nis zivil­ge­sell­schaft­li­cher Orga­ni­sa­tio­nen unter dem Mot­to »Es gibt nur eine Men­schen­wür­de – Asyl­be­wer­ber­leis­tungs­ge­setz abschaf­fen« zusam­men­ge­fun­den: Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­tio­nen, Wohl­fahrts­ver­bän­de, Orga­ni­sa­tio­nen von Migrant*innen, Ver­ei­ni­gun­gen von Anwält*innen, Jurist*innen, Ärzt*innen, Psychotherapeut*innen, Frau­en­ver­bän­de und Kin­der­rechts­or­ga­ni­sa­tio­nen und ande­re for­dern glei­che men­schen­recht­li­che Stan­dards: Geflüch­te­te müs­sen in das regu­lä­re Sozi­al­leis­tungs­sys­tem ein­ge­glie­dert wer­den. Inzwi­schen haben 200 Orga­ni­sa­tio­nen die For­de­rung unter­zeich­net: 45 bun­des­wei­te, 46 lan­des­wei­te und 110 regio­na­le und loka­le Initiativen.

Der voll­stän­di­ge Text des Appells und die aktu­el­le Unter­zeich­ner­lis­te sind hier zu fin­den: www.proasyl.de/asylbewerberleistungsgesetz. Unter­zeich­nun­gen sind wei­ter­hin möglich.

Für schutz­su­chen­de Men­schen darf es kei­nen nied­ri­ge­ren Stan­dard geben. Es ist Zeit, die­ses beschä­men­de Kapi­tel deut­scher Abschre­ckungs­po­li­tik der 1990er Jah­re end­lich zu beenden!

Unab­hän­gi­ge akti­vis­ti­sche Grup­pen haben für die Zeit vom 20.–26. Mai bun­des­wei­te Akti­ons­ta­ge aus­ge­ru­fen. Infor­ma­tio­nen dazu gibt es unter https://asylbewerberleistungsgesetz-abschaffen.de/. Dort kann man auch als Ein­zel­per­son einen offe­nen Brief unterzeichnen.

Betrof­fe­ne von Asyl­bLG-Leis­tun­gen soll­ten sich wei­ter­hin an eine*n Sozialrechtsanwält*in wen­den (eine Lis­te fin­det sich z.B. hier und bei vie­len Orga­ni­sa­tio­nen), um die Beschei­de über­prü­fen und not­falls gericht­lich kor­ri­gie­ren zu lassen.

Sozi­al­leis­tun­gen sol­len laut Gesetz den Leis­tungs­be­rech­tig­ten ermög­li­chen, ein Leben zu füh­ren, »das der Wür­de des Men­schen ent­spricht« – so steht es unter ande­rem in § 1 Abs.1 SGB II für das Bür­ger­geld, ähn­lich gilt es für die Sozi­al­hil­fe. Für schutz­su­chen­de Men­schen darf es kei­nen nied­ri­ge­ren Stan­dard geben. Es ist Zeit, die­ses beschä­men­de Kapi­tel deut­scher Abschre­ckungs­po­li­tik der 1990er Jah­re end­lich zu beenden.

(ak)