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Foto: picture alliance | CHROMORANGE / Karl-Heinz Spremberg

Die Studie »Abgelehnt im Nirgendwo« zeigt, wie problematisch das deutsche Flughafenverfahren ist. Hinter verschlossenen Türen werden die Schutzsuchenden unter hohem Zeitdruck abgelehnt. Wenn Grenzverfahren an Flughäfen für wenige Hunderte unfair sind, sind sie dies für Tausende an anderen Grenzen erst recht. Doch genau das plant die EU-Kommission.

»Asyl­ver­fah­ren an der Gren­ze« – für vie­le Politiker*innen und euro­päi­sche Regie­run­gen liegt dar­in der Schlüs­sel in der Flücht­lings­po­li­tik. Auch die Euro­päi­sche Kom­mis­si­on setzt mit dem »New Pact on Migra­ti­on and Asyl­um«, der am 23. Sep­tem­ber 2020 der Öffent­lich­keit vor­ge­stellt wur­de, auf Grenz­ver­fah­ren. Dem Nega­tiv­bei­spiel der Asyl­ver­fah­ren auf den grie­chi­schen Inseln wer­den in der Dis­kus­si­on häu­fig ver­meint­li­che Posi­tiv­bei­spie­le wie das deut­sche Flug­ha­fen­ver­fah­ren ent­ge­gen gehal­ten. Dort sei­en die Ver­fah­ren doch fair und rechts­staat­lich, war­um soll das dann nicht auch an ande­ren Außen­gren­zen mög­lich sein?

Wie die Pra­xis­be­rich­te von Rox­a­na Kolb als ehe­ma­li­ger Ver­fah­rens­be­ra­te­rin am Frank­fur­ter Flug­ha­fen und Dr. Anna­bel­le Voß­berg als Rechts­an­wäl­tin in Frank­furt am Main in der neu­en Stu­die »Abge­lehnt im Nir­gend­wo« von PRO ASYL aber zei­gen, ist selbst die »asyl­rechts­kun­di­ge Bera­tung«, die das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt (BVerfG) 1996 für das Flug­ha­fen­ver­fah­ren vor­ge­schrie­ben hat, nicht aus­rei­chend, um die gra­vie­ren­den Nach­tei­le des Grenz­ver­fah­rens für die Betrof­fe­nen auszugleichen.

Das 1993 ein­ge­führ­te Flug­ha­fen­ver­fah­ren (§ 18a Asyl­ge­setz) ist ein Schnell­ver­fah­ren mit straf­fem Zeit­plan: Die Betrof­fe­nen – die aus einem »siche­ren Her­kunfts­staat« kom­men oder kei­nen gül­ti­gen Pass mit sich füh­ren und am Flug­ha­fen um Asyl suchen – wer­den direkt von der Bun­des­po­li­zei befragt und kurz dar­auf (»unver­züg­lich«) vom Bun­des­amt für Migra­ti­on und Flücht­lin­ge (BAMF) zu ihren Flucht­grün­den ange­hört. Das BAMF kann im Flug­ha­fen­ver­fah­ren nur als »offen­sicht­lich unbe­grün­det« ableh­nen und muss dies inner­halb von zwei Tagen tun – Per­so­nen, die nicht ent­spre­chend abge­lehnt wer­den, dür­fen ein­rei­sen und ihr Asyl­ver­fah­ren regu­lär im Inland durch­lau­fen. Auf­grund der Ableh­nung als »offen­sicht­lich unbe­grün­det« ist der Rechts­weg stark ver­kürzt und der Rechts­schutz ein­ge­schränkt: Die Betrof­fe­nen haben nur drei Tage Zeit, um Eil­an­trag gegen die Ent­schei­dung zu erhe­ben. Das Ver­wal­tungs­ge­richt muss dann inner­halb von 14 Tagen ent­schei­den. Der theo­re­tisch offen ste­hen­de Weg zum Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt ist in der Pra­xis letzt­lich nicht erreich­bar. Nach 19 Tagen kön­nen die in die­sem Schnell­ver­fah­ren abge­lehn­ten Per­so­nen – zumin­dest in der Theo­rie – also abge­scho­ben werden.

Ablauf des Flughafenasylverfahrens

Fiktion der Nicht-Einreise – im Transit festgesetzt

Eine Beson­der­heit des Flug­ha­fen­ver­fah­rens ist, dass die Betrof­fe­nen noch nicht als ein­ge­reist gel­ten son­dern wäh­rend des Asyl­ver­fah­rens am Flug­ha­fen fest sit­zen. Das Abkom­men über die Inter­na­tio­na­le Zivil­luft­fahrt (ICAO-Abkom­men) sieht für sol­che Fäl­le vor, dass die Flug­ge­sell­schaf­ten ver­pflich­tet sind, die Men­schen an ihren Abflug­ort oder in ein Land, in das sie ein­rei­sen dür­fen, zurück­zu­brin­gen (sie­he Annex 9 zum ICAO-Abkom­men, Rn. 5.11 und 5.12.). In der Pra­xis kommt es aber den­noch häu­fig zu Ver­zö­ge­run­gen und die Men­schen sit­zen zum Teil wochen- oder mona­te­lang in der Zurück­wei­sungs­haft am Flug­ha­fen – auch Kinder.

Bundesverfassungsgericht: Asylrechtskundige Beratung notwendig

Die­se beson­de­re Ver­fah­rens­ge­stal­tung und des­sen Aus­wir­kun­gen auf das Recht Asyl zu suchen und das Recht auf effek­ti­ven Rechts­schutz muss­te das BVerfG schon 1996 prü­fen. Zwar bejah­te das BVerfG die Ver­fas­sungs­kon­for­mi­tät grund­sätz­lich, es for­mu­lier­te in der Ent­schei­dung aber auch eine Rei­he von Ver­fah­rens­an­for­de­run­gen und –stan­dards, deren Ein­hal­tung sicher­ge­stellt wer­den müs­sen, um auf­grund der »[…] obwal­ten­den Umstän­de (ins­be­son­de­re Abge­schlos­sen­sein des asyl­su­chen­den Aus­län­ders im Tran­sit­be­reich, beson­ders kur­ze Fris­ten, Sprach­un­kun­dig­keit) […}“ (Rn. 156) den Rechts­schutz nicht unzu­mut­bar zu erschwe­ren oder zu ver­ei­teln. Hier­zu gehört eine kos­ten­lo­se asyl­rechts­kun­di­ge Bera­tung nach der Ablehnung.

Grenzverfahren bedeuten Abschottung 

Asyl­ver­fah­ren an den Gren­zen sind mit meh­re­ren  sys­te­mi­schen Män­geln behaf­tet: Oft sind es Schnell­ver­fah­ren, und den Betrof­fe­nen wird unter­stellt, dass sie kei­nen Schutz brau­chen. Zudem wer­den die Asyl­su­chen­den meist kurz nach der Flucht ange­hört und befin­den sich noch in einem phy­si­schen und psy­chi­schen Aus­nah­me­zu­stand – sie sind gestresst, ori­en­tie­rungs­los und ver­un­si­chert. Um sich in die­ser Extrem­si­tua­ti­on zu ori­en­tie­ren, ist unab­hän­gi­ge Bera­tung und Unter­stüt­zung essen­ti­ell. Doch gera­de dies ist einem Schnell­ver­fah­ren unter Haft­be­din­gun­gen oder an ent­le­ge­nen Orten nur schwer oder gar nicht möglich.

Nur weni­ge Men­schen haben Zugang zu den Asyl­su­chen­den im Flug­ha­fen­ver­fah­ren. Dazu gehör­te die ehe­ma­li­ge Ver­fah­rens­be­ra­te­rin beim Kirch­li­chen Flücht­lings­dienst am Frank­fur­ter Flug­ha­fen Rox­a­na Kolb, die in der Stu­die über die Situa­ti­on der Men­schen am Flug­ha­fen und auch über die psy­cho­lo­gi­schen Fol­gen für die Geflüch­te­ten berichtet.

Der Kirch­li­che Flücht­lings­dienst bie­tet allen Asyl­su­chen­den eine Asyl­ver­fah­rens­be­ra­tung sowie die Vor­be­rei­tung der Anhö­rung beim BAMF an – und beglei­tet sie nach einer Ableh­nung bera­tend. Dabei iden­ti­fi­zie­ren die Berater*innen letzt­lich auch die Men­schen mit beson­de­ren Schutz­be­dar­fen – eine sys­te­ma­ti­sche Prü­fung durch das BAMF gibt es nicht.

Abgeschottet von der Außenwelt

Vie­le der Ankom­men­den sind ori­en­tie­rungs­los, über­mü­det und ängst­lich nach der oft tage­lan­gen Rei­se durch meh­re­re  Län­der. Den­noch wer­den sie schon vor der Erst­be­ra­tung, als ers­tes direkt am Ter­mi­nal,  stun­den­lang von der  Bun­des­po­li­zei befragt.

Wäh­rend des Flug­ha­fen­ver­fah­rens sind die Betrof­fe­nen weit­ge­hend abge­schot­tet, Han­dys mit Kame­ra wer­den ihnen abge­nom­men. Sie haben kaum Zugang zu Inter­net oder Telefonen.

Ein­drück­lich beschreibt Rox­a­na Kolb die psy­cho­lo­gi­schen Aus­wir­kun­gen, die die Unter­brin­gung in einer geschlos­se­nen Zwangs­ein­rich­tung und das Schnell­ver­fah­ren auf Men­schen mit trau­ma­ti­schen Erfah­run­gen haben: Sie för­dern die Ent­wick­lung von Trau­ma­fol­ge­stö­run­gen und ver­stär­ken die Symptomatik.

»Abge­schot­tet von der Außen­welt wird hin­ter ver­schlos­se­nen Türen
über das Leben von Men­schen entschieden.«

Ver­fah­rens­be­ra­te­rin Rox­a­na Kolb über das Flughafenverfahren

Miss­trau­en, man­geln­de Bin­dungs­fä­hig­keit und die Intrans­pa­renz der Zustän­dig­kei­ten der am Ver­fah­ren betei­lig­ten Akteur*innen füh­ren immer wie­der dazu, dass Asyl­su­chen­de nichts von sich erzäh­len wol­len oder schlicht­weg nicht erzäh­len kön­nen. Ein Erzäh­len des trau­ma­ti­schen Erleb­nis­ses bedeu­tet auch,  Hilf­lo­sig­keit, Aus­ge­lie­fert­sein, Kon­troll- und Sicher­heits­ver­lust wie­der zu erleben.

Monatelange psychische Belastungsprobe

Wenn die Per­so­nen dann ver­wal­tungs­ge­richt­lich abge­lehnt und von einer Zurück­wei­sung bedroht sind, beginnt eine mona­te­lan­ge psy­chi­sche Belas­tungs­pro­be. Immer wie­der wer­den abge­lehn­te Asyl­su­chen­de in die Psych­ia­trie gebracht, weil sie sich selbst ver­let­zen oder ver­su­chen, sich selbst zu töten. Vor­füh­run­gen bei Gericht, Ket­ten-Haft­be­schlüs­se und Unge­wiss­heit über­for­dern vie­le der Per­so­nen und lösen Kri­sen aus. Kin­der, die mit ihrer Fami­lie über Mona­te hin­weg am Flug­ha­fen unter­ge­bracht sind, bekom­men alles mit, wer­den nicht beschult und zei­gen so mit­un­ter regres­si­ves Ver­hal­ten.

Abschlie­ßend macht Rox­a­na Kolb in ihrem Bericht deut­lich: Men­schen hin­ter Gren­zen wer­den nur all­zu oft ver­ges­sen. Sie sind einem recht­li­chen Sys­tem aus­ge­lie­fert, das sie auf Grund sei­ner Kom­ple­xi­tät regel­mä­ßig nicht ver­ste­hen. Die Chan­cen auf ein fai­res Asyl­ver­fah­ren dür­fen nicht von den Moda­li­tä­ten des Rei­se­wegs und dem Ankunfts­ort abhän­gig gemacht werden.

Eine Über­tra­gung des Bera­tungs­mo­dells vom Frank­fur­ter Flug­ha­fen ist schon auf­grund der unter­schied­li­chen Dimen­sio­nen nicht rea­lis­tisch: Wäh­rend in Deutsch­land das Flug­ha­fen­ver­fah­ren mit weni­gen Hun­dert Fäl­len pro Jahr weni­ger als 0,5 Pro­zent der Asyl­ver­fah­ren dar­stellt,  ist es in einem Mit­glied­staat mit lan­ger EU-Außen­gren­ze wie Grie­chen­land mit über 21.000 Fäl­len im Jahr 2020 schon die Hälf­te aller Asyl­an­trä­ge, die in Grenz­ver­fah­ren geprüft wird. Die meis­ten See- und Land­gren­zen sind im Gegen­satz zu Flug­hä­fen fern­ab gro­ßer Städ­te, womit es nicht genü­gend Fachanwält*innen gibt. Auf viel weni­ger spe­zia­li­sier­te Rechtsanwält*innen wür­de also eine viel grö­ße­re – und nicht zu bewäl­ti­gen­de – Zahl von Asyl­ver­fah­ren kommen.

Die in Frank­furt am Main arbei­ten­de Rechts­an­wäl­tin Dr. Anna­bel­le Voß­berg steht mit cir­ca 40 ande­ren Rechtsanwält*innen auf der Bera­tungs­lis­te des asyl­rechts­kun­di­gen Flug­ha­fen­not­diens­tes in Frank­furt und über­nimmt auch über den Not­dienst hin­aus Man­da­te. Wie die Rechts­an­wäl­tin in ihrem Bericht deut­lich macht, wird die schon unter »regu­lä­ren Bedin­gun­gen« her­aus­for­dern­de Arbeit im Asyl­recht unter den Bedin­gun­gen des Flug­ha­fen­ver­fah­rens – ins­be­son­de­re durch die Schnel­lig­keit des Ver­fah­rens, dem schwie­ri­gen Kon­takt mit den Mandant*innen und dem ein­ge­schränk­ten Rechts­schutz – noch um ein viel­fa­ches erschwert.

Der asylrechtskundige Flughafennotdienst – wichtig, aber meist zu spät

Der asyl­rechts­kun­di­ge Flug­ha­fen­not­dienst des Frank­fur­ter Anwalts­ver­ein steht allen im Flug­ha­fen­ver­fah­ren abge­lehn­ten Per­so­nen zur Ver­fü­gung. Im Rah­men der Bera­tung  des Not­diens­tes ste­hen die Rechtsanwält*innen vor der beson­de­ren Schwie­rig­keit, dass nicht nur die Ein­rei­se­be­fra­gung bei der Bun­des­po­li­zei bereits »in Stein gemei­ßelt« ist, son­dern auch die Anga­ben bei der per­sön­li­chen Anhö­rung beim BAMF. Oft­mals kom­men aber erst nach detail­lier­ter Rück­spra­che mit dem/der Rechtsanwält*in die ent­schei­den­den Din­ge zu Tage oder Miss­ver­ständ­nis­se wäh­rend der Anhö­rung wer­den deut­lich. Dies noch vor Gericht zu kor­ri­gie­ren ist aber auf­grund des ein­ge­schränk­ten Rechts­schut­zes äußerst schwie­rig. Eine Ein­be­zie­hung der Rechtsanwält*innen erst nach der Ableh­nung als »offen­sicht­lich unbe­grün­det« ist damit zu spät, um eine ange­mes­se­ne Unter­stüt­zung der Betrof­fe­nen in der Abge­schot­tet­heit und unter dem Druck des Schnell­ver­fah­rens zu ermöglichen.

Anwaltliche Vertretung von Anfang an nur für wenige Menschen möglich

Bei Asyl­su­chen­den, die zum Bei­spiel beson­ders vul­nerabel wir­ken, sorgt der Kirch­li­che Flücht­lings­dienst dafür, dass von Beginn an ein/e Rechtsanwält*in das Man­dat über­nimmt und so auch bei der Anhö­rung mit dabei sein kann. Finan­ziert wird dies über den Rechts­hil­fe­fonds von PRO ASYL. Da die Anhö­rung im Flug­ha­fen­ver­fah­ren auf Grund des Unver­züg­lich­keits­prin­zips zeit­nah erfol­gen soll, bedeu­tet eine Man­dats­über­nah­me, dass Rechtsanwält*innen sich spon­tan zwei bis drei Tage nur Zeit für die­sen Fall ein­räu­men kön­nen müs­sen. Trotz­dem kann die Anhö­rung nicht gleich gut vor­be­rei­tet wer­den, da u.a. der Kon­takt zu den Mandant*innen schwie­rig ist. Für vie­le ent­schei­det vor dem inne­ren Auge die Anhö­rung zudem über etwas, das als »Leben oder Tod« bezeich­net wer­den muss. Die­ser Stress kann auch dazu füh­ren, dass zuvor sta­bil wir­ken­de Asyl­su­chen­de in der Anhö­rung unstruk­tu­riert und nicht mehr chro­no­lo­gisch vortragen.

Befragung durch Bundespolizei beeinflusst Asylentscheidung

Eine Beson­der­heit im Flug­ha­fen­ver­fah­ren, die auch für die Anhö­rungs­vor­be­rei­tung eine wich­ti­ge Rol­le spielt, ist die Ein­rei­se­be­fra­gung der Bun­des­po­li­zei. Obwohl die­ser Befra­gung laut BVerfG kein über­mä­ßi­ger Stel­len­wert ein­ge­räumt wer­den soll, wer­den Aus­sa­gen wäh­rend die­ser Befra­gung im ableh­nen­den Bescheid des BAMF immer wie­der the­ma­ti­siert wenn es dar­um geht, die Glaub­wür­dig­keit der schutz­su­chen­den Per­son zu bewer­ten. Dabei erfolgt die Erst­be­fra­gung oft im Zustand voll­stän­di­ger Erschöp­fung nach einer lan­gen, stra­pa­ziö­sen Reise.

Dr. Anna­bel­le Voß­berg stellt in ihrem Pra­xis­be­richt fest, dass Schutz­su­chen­de im Flug­ha­fen­ver­fah­ren eine deut­li­che Ungleich­be­hand­lung im Ver­gleich zu Schutz­su­chen­den im Inlands­ver­fah­ren erfah­ren. Eine gute anwalt­li­che Ver­tre­tung ist unter den Umstän­den kaum möglich.

Grenzverfahren raus aus dem »New Pact«!

Das Fazit der Stu­die: Die­se struk­tu­rel­len Pro­ble­me von Grenz­ver­fah­ren füh­ren zu unfai­ren und man­gel­haf­ten Asyl­prü­fun­gen. Der Euro­päi­sche Gesetz­ge­ber soll­te des­we­gen bei einer Reform des Gemein­sa­men Euro­päi­schen Asyl­sys­tems die Regeln zu Grenz­ver­fah­ren grund­sätz­lich strei­chen und auf das vor­ge­schla­ge­ne Scree­ning ver­zich­ten. Jede schutz­su­chen­de Per­son hat ein Recht dar­auf, dass ihr Asyl­an­trag in einem unvor­ein­ge­nom­me­nen, fai­ren und rechts­staat­li­chen Asyl­ver­fah­ren mit aus­rei­chend unab­hän­gi­ger recht­li­cher Unter­stüt­zung geprüft wird.

Die Euro­päi­sche Kom­mis­si­on stell­te mit ihrem »New Pact on Migra­ti­on and Asyl­um« am 23. Sep­tem­ber 2020 meh­re­re Vor­schlä­ge für neue Rechts­ak­te oder geän­der­te bestehen­de Rechts­ak­te vor, die bei Ein­füh­rung die Ver­fah­ren an den Außen­gren­zen stark ver­än­dern wür­den (für einen kri­ti­schen Über­blick zu den Ände­run­gen sie­he hier).

Befragung durch Grenzschutz und Fiktion der Nicht-Einreise übernommen

Zum einen erin­nert eini­ges an den Vor­schlä­gen an das Flug­ha­fen­ver­fah­ren: Mit einem neu­en Scree­ning wür­de wie im Flug­ha­fen­ver­fah­ren zunächst eine Befra­gung durch die Grenz­schutz­be­hör­den statt­fin­den, deren Erkennt­nis­se in das Asyl­ver­fah­ren ein­flie­ßen wür­den. Damit wür­den abseh­bar ähn­li­che Pro­ble­me von ver­meint­li­chen Wider­sprü­chen zwi­schen den Befra­gun­gen durch den Grenz­schutz und der Anhö­rung durch die Asyl­be­hör­de ent­ste­hen – auch wenn die­se u.a. mit einer Angst vor bzw. schlech­ten Erfah­run­gen mit Poli­zei­be­hör­den erklär­bar sind. Zwei grund­ver­schie­de­ne Auf­ga­ben­ge­bie­te – Grenz­schutz vs. Schutz von Men­schen – wür­den so wei­ter ver­mischt werden.

Außer­dem sehen die Vor­schlä­ge der Kom­mis­si­on vor, dass wäh­rend des Scree­ning und der sich in bestimm­ten Fäl­len anschlie­ßen­den Grenz­ver­fah­ren wie am Flug­ha­fen eine Fik­ti­on der Nicht-Ein­rei­se gel­ten soll. Um die­se Fik­ti­on der Nicht-Ein­rei­se prak­tisch umzu­set­zen ist davon aus­zu­ge­hen, dass, wie am Frank­fur­ter Flug­ha­fen, die Asyl­su­chen­den die Ein­rich­tung nicht – oder nur äußerst ein­ge­schränkt – ver­las­sen dür­fen. Damit stel­len sich die glei­chen Hür­den bezüg­lich des Zugangs zu unab­hän­gi­ger Bera­tung und anwalt­li­cher Ver­tre­tung. Am Frank­fur­ter Flug­ha­fen gibt es auf­grund der Recht­spre­chung des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts eine stän­di­ge Asyl­ver­fah­rens­be­ra­tung vor Ort sowie den Anwalts­not­dienst in Frank­furt – trotz­dem ist dies unzu­rei­chend, um die erheb­li­chen Nach­tei­le für die Betrof­fe­nen aus­zu­glei­chen. Bei Ver­fah­ren an ande­ren Außen­gren­zen ist jedoch davon aus­zu­ge­hen, dass noch nicht ein­mal ein sol­ches Sys­tem auf die Bei­ne gestellt wer­den kann.

Vor­schlag der EU-Kom­mis­si­on für den Ablauf der Grenzverfahren

Aber viel längere Verfahren und mehr Betroffene

Zum ande­ren gibt es aber ent­schei­den­de Unter­schie­de, die das deut­sche Flug­ha­fen­ver­fah­ren gra­vie­rend ver­än­dern wür­den. Denn im Gegen­satz zur aktu­el­len Asyl­ver­fah­rens­richt­li­nie, die den Mit­glied­staa­ten Spiel­raum bei der Umset­zung lässt, sieht die Kom­mis­si­on zukünf­tig eine Asyl­ver­fah­rens­ver­ord­nung vor. Anders als eine  Richt­li­nie ist eine Ver­ord­nung direkt ver­bind­lich, Umset­zungs­spiel­raum besteht nicht. Wäh­rend aktu­ell Grenz­ver­fah­ren nur bis zu vier Wochen erlaubt sind, will die Kom­mis­si­on die Grenz­ver­fah­ren auf bis zu 12 Wochen aus­wei­ten. Das wäre für Deutsch­land einer Ver­vier­fa­chung der Auf­ent­halts­zeit im Tran­sit­be­reich der deut­schen Flug­hä­fen wäh­rend des Asylverfahrens.

Zudem wür­de über­haupt mit dem »New Pact« zum ers­ten Mal eine ver­pflich­ten­de Anwen­dung von Grenz­ver­fah­ren für bestimm­te Per­so­nen­grup­pen bestehen. So sol­len u.a. alle Per­so­nen aus Her­kunfts­län­dern mit einer euro­pa­wei­ten Schutz­quo­te von oder unter 20% in das Grenz­ver­fah­ren kom­men. In Deutsch­land wür­den damit neu­er­dings auch Asyl­su­chen­de aus Län­dern wie Paki­stan, Nige­ria, Ban­gla­desch oder Marok­ko – also Län­der in denen z.B. reli­giö­se Min­der­hei­ten ver­folgt wer­den, Homo­se­xua­li­tät unter Stra­fe steht oder Frau­en Opfer von geschlechts­spe­zi­fi­scher Ver­fol­gung und Men­schen­han­del wer­den – allein auf­grund ihres Her­kunfts­lan­des bei Asyl­ge­such am Flug­ha­fen in das Flug­ha­fen­ver­fah­ren kommen.

Nach dem Vor­schlag der Kom­mis­si­on könn­te ein Asyl­an­trag im Grenz­ver­fah­ren – und so auch im ange­pass­ten Flug­ha­fen­ver­fah­ren – auf die Unzu­läs­sig­keit und in einem beschleu­nig­ten Prüf­ver­fah­ren auf die Begrün­det­heit geprüft wer­den. Im Flug­ha­fen­ver­fah­ren müss­te also nicht mehr »offen­sicht­lich unbe­grün­det« abge­lehnt wer­den, um die Ein­rei­se zu ver­wei­gern. Damit wür­den auch kom­pli­zier­te­re Fäl­le im Schnell­ver­fah­ren bear­bei­tet wer­den und dürf­ten nicht ein­rei­sen. Es ist zu befürch­ten, dass so deut­lich mehr Men­schen im Flug­ha­fen­ver­fah­ren blei­ben wür­den, in dem ihre kom­ple­xen Fäl­le nicht ange­mes­sen geprüft werden.

Unsinnige Anwendung von Fiktion der Nicht-Einreise

An das Asyl­grenz­ver­fah­ren soll sich bei Ableh­nung »naht­los« ein neu­es Abschie­bungs­grenz­ver­fah­ren anschlie­ßen, das eben­falls 12 Wochen umfas­sen kann. Die Fik­ti­on der Nicht-Ein­rei­se soll auch hier­für gel­ten. An das deut­sche Flug­ha­fen­ver­fah­ren schließt sich die soge­nann­te Zurück­wei­sungs­haft an, da der Per­son die Ein­rei­se ver­wei­gert wur­de. In der Theo­rie ist die Rück­füh­rung der betrof­fe­nen Men­schen leich­ter als bei Per­so­nen, die nach Ein­rei­se im Inlands­ver­fah­ren abge­lehnt wur­den, da über das ICAO-Abkom­men die Flug­ge­sell­schaf­ten zum Rück­trans­port in das Abflug­land ver­pflich­tet wer­den. Auch wenn es in der Pra­xis trotz­dem nicht immer so ein­fach ver­läuft und sich die Rück­be­för­de­rung durch die Flug­ge­sell­schaft wegen Unklar­hei­ten oder Absprach­e­pro­ble­men häu­fig ver­zö­gert und sogar Mona­te dau­ern kann, so gibt es die­sen »Vor­teil« für die Behör­den an ande­ren Außen­gren­zen nicht. Denn wenn die Per­so­nen an Land- oder See­gren­zen selbst­stän­dig oder mit Schmugg­lern ein­rei­sen, gibt es auch kein Trans­port­un­ter­neh­men, das zur Rück­nah­me ver­pflich­tet wer­den kann. Damit stellt sich auch die Fra­ge nach der Sinn­haf­tig­keit der pau­scha­len Ein­füh­rung einer Fik­ti­on der Nicht-Ein­rei­se in allen Grenz­ver­fah­ren. Die letzt­lich zu erwar­ten­de pri­mä­re Aus­wir­kung die­ser Fik­ti­on wird das Fest­hal­ten der Men­schen sein und kei­ne Erleich­te­run­gen bei Abschiebungen.

Die letzt­lich zu erwar­ten­de pri­mä­re Aus­wir­kung die­ser Fik­ti­on wird das Fest­hal­ten der Men­schen sein und kei­ne Erleich­te­run­gen bei Abschiebungen.

Der »New Pact« wür­de zudem das sowie­so schon man­gel­haf­te deut­sche Flug­ha­fen­ver­fah­ren noch wei­ter ver­schlech­tern. Zukünf­tig könn­ten Schutz­su­chen­de bis zu zwölf Wochen anstel­le der bis­lang gel­ten­den 19 Tage am Flug­ha­fen­ver­fah­ren fest­ge­hal­ten wer­den. Außer­dem wür­den nach den Vor­schlä­gen des »New Pact« deut­lich mehr Men­schen das Flug­ha­fen­ver­fah­ren durch­lau­fen müs­sen – wie pau­schal alle Asyl­su­chen­de  aus Län­dern mit nied­ri­gen Aner­ken­nungs­quo­ten wie Paki­stan, Nige­ria, Ban­gla­desch oder Marokko.

(wj)