04.10.2023
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In einer zentralen Aufnahmeeinrichtung für Asylbewerber werden Essenspakete ausgegeben. Foto: Marc Müller/dpa

Im aktuell aufgeheizten Klima einer angeblichen Flüchtlingskrise wird wiederholt von einigen Politiker*innen aus CDU/CSU und FDP gefordert, dass Geflüchtete ihre Unterstützung in Form von Sachleistungen erhalten sollen. Doch Sachleistungen sind diskriminierend, teuer und sinnlos – hier sind fünf Argumente gegen Sachleistungen.

1. Sach­leis­tun­gen wir­ken ent­mün­di­gend und demü­ti­gend. Um das zu ver­ste­hen, soll­te man sich selbst einen Moment in die Lage der Betrof­fe­nen ver­set­zen: Stel­len Sie sich vor, Sie müs­sen sich mona­te­lang von Fer­tig­es­sen ernäh­ren, das nicht Ihrem Geschmack ent­spricht und zudem Ihre Unver­träg­lich­kei­ten oder All­er­gien nicht berück­sich­tigt. Oder Sie ste­hen an der Super­markt­kas­se und man erklärt Ihnen, dass Sie die­ses oder jenes Genuss­mit­tel mit ihrer Bezahl­kar­te nicht kau­fen dür­fen. Oder Sie müs­sen eine kos­ten­pflich­ti­ge Toi­let­te auf­su­chen, besit­zen aber kein Bar­geld. Das Ver­weh­ren von Geld ent­zieht den Men­schen ihre Auto­no­mie – sie ver­lie­ren all­täg­li­che und eigent­lich selbst­ver­ständ­li­che Handlungsmöglichkeiten.

2. Sach­leis­tun­gen füh­ren zu einer unzu­läs­si­gen Leis­tungs­kür­zung. Denn eine staat­lich orga­ni­sier­te Ver­sor­gung mit Din­gen kann dem indi­vi­du­el­len Bedarf nie­mals gerecht wer­den. Exper­te Georg Clas­sen hat das für PRO ASYL 2022 detail­liert ana­ly­siert.  Wer in der Erst­auf­nah­me wegen eines Amts­ter­mins die Zeit der Essens­aus­ga­be ver­säumt, erhält spä­ter kein Essen (so etwa in Ber­lin-Tegel, zu den Zustän­den dort hier mehr). Ande­re Men­schen machen die Essens­ra­ti­on in der Kan­ti­ne kon­ti­nu­ier­lich nicht satt.  In kom­mu­na­len Geflüch­te­ten-Unter­künf­ten gibt es oft zwar eine Bewoh­ner­kü­che, aber kei­nen Pürier­stab, kei­ne Auf­wärm­mög­lich­keit für Baby­brei und kei­ne Mög­lich­keit, eige­ne Lebens­mit­tel auf­zu­be­wah­ren oder zu küh­len. Ob die Schu­he aus der Klei­der­kam­mer pas­sen, ist davon abhän­gig, ob zufäl­lig gera­de pas­sen­de gespen­det wur­den. Im Hygie­ne­pa­ket für einen 16-Jäh­ri­gen ist kei­ne Pfle­ge­creme für sei­ne Neu­ro­der­mi­tis, aber ein Rasie­rer, den er noch nicht braucht. Am Ende erhal­ten Geflüch­te­te nicht das, was sie wirk­lich benö­ti­gen – und damit weni­ger als ihnen eigent­lich zusteht.

3. Sach­leis­tun­gen sind teu­rer als Geld­leis­tun­gen. Denn dafür braucht es Per­so­nal und Dienstleister*innen, die zum Bei­spiel Essen kochen und aus­ge­ben, Klei­dung ver­tei­len, Ein­rich­tungs­ge­gen­stän­de besor­gen oder den Ein­kauf und die Lage­rung orga­ni­sie­ren, für letz­te­res braucht es zudem gro­ße Räum­lich­kei­ten. Die Aus­ga­be von Fer­tig­es­sen führt in der Pra­xis zu einer enor­men Men­ge an Ver­pa­ckungs­müll. Sehr anschau­lich beschreibt den zusätz­li­chen Ver­wal­tungs- und Per­so­nal­auf­wand Mari­na Mai in der taz vom 22.8.2023 anhand der Aus­ga­be von Sach­leis­tun­gen in einer Ber­li­ner Flücht­lings­un­ter­kunft. Auch für die spe­zi­el­len Bezahl­kar­ten für Geflüch­te­te müss­ten Akzep­tanz­stel­len gefun­den und tech­ni­sche Fra­gen gelöst wer­den. Bei Mas­sen­un­ter­künf­ten ist es übri­gens genau­so: Sie kos­ten viel mehr Geld, als wenn man Geflüch­te­ten erlau­ben wür­de, in nor­ma­len Miet­woh­nun­gen unter­zu­kom­men. Profiteur*innen sind oft pri­va­te Anbieter*innen von Dienst­leis­tun­gen, die sehr gut dar­an ver­die­nen. Die Städ­te und Gemein­den zah­len dabei drauf. Schon in den 1990er- und 2000er-Jah­ren gab es in vie­len deut­schen Kom­mu­nen Sach­leis­tungs­sys­te­me für Geflüch­te­te. Im Lau­fe der Zeit haben aber immer mehr Kom­mu­nen davon wegen des enor­men Ver­wal­tungs- und Kos­ten­auf­wands aus rein prag­ma­ti­schen Grün­den wie­der Abstand genommen.

4. Sach­leis­tun­gen sind ver­fas­sungs­recht­lich min­des­tens frag­wür­dig. Aus einem wich­ti­gen Urteil des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts von 2012 ergibt sich unter ande­rem, dass ein voll­stän­di­ger Ent­zug eines Bar­be­tra­ges ver­fas­sungs­wid­rig wäre. Das Ver­fas­sungs­recht hat zum Bei­spiel 2015 der Wis­sen­schaft­li­che Dienst des Bun­des­tags gut erläu­tert. Das höchs­te deut­sche Gericht bezieht sich dabei auf Arti­kel 1 (Men­schen­wür­de) und Arti­kel 20 (Sozi­al­staats­prin­zip) des Grund­ge­set­zes. Dem­nach hat jeder Mensch das Recht auf ein men­schen­wür­di­ges phy­si­sches, aber auch sozio­kul­tu­rel­les Exis­tenz­mi­ni­mum, das die gesell­schaft­li­che Teil­ha­be ermög­li­chen soll.
Im Sozi­al­recht ist außer­dem eine indi­vi­du­el­le Dis­po­si­ti­ons­frei­heit fest­ge­schrie­ben, die den Bedürf­ti­gen ermög­li­chen soll, inner­halb des ihnen zuge­dach­ten Regel­sat­zes Ver­schie­bun­gen vor­zu­neh­men, also die Aus­ga­ben an die aktu­ell wich­ti­gen Bedürf­nis­se anzu­pas­sen. Auch dies ist bei einer Sach­leis­tungs­ver­sor­gung nicht mög­lich. Wer for­dert, Geflüch­te­ten jeg­li­ches Bar­geld zu ent­zie­hen, greift ihre Men­schen­wür­de an.

5. Sach­leis­tun­gen füh­ren nicht dazu, dass weni­ger Men­schen kom­men. Behaup­tun­gen, die Sach­leis­tungs­ver­sor­gung wür­de Geflüch­te­te abschre­cken oder ein Absen­ken der Sozi­al­leis­tun­gen wür­de zu weni­ger Flücht­lin­gen füh­ren, sind so alt wie falsch. Allein die Vor­stel­lung von einem »Push- und Pullfaktoren«-System ist schon lan­ge wis­sen­schaft­lich in der Kri­tik, denn so ein­fach ist es nicht. (Dazu zum Bei­spiel der Wis­sen­schaft­li­che Dienst des Bun­des­tags 2020  oder ganz aktu­ell der Fak­ten­fin­der der Tages­schau.) Eine Flucht- oder Migra­ti­ons­ent­schei­dung wird indi­vi­du­ell getrof­fen und ist kom­plex. In einer Unter­su­chung für das Bun­des­amt für Migra­ti­on und Flücht­lin­ge 2013 wur­den die Grün­de für die »Ziel­wahl« Deutsch­land erforscht. Dem­nach spie­len vor allem der Auf­ent­halts­ort von Freund*innen, Fami­lie oder Com­mu­ni­ty, die Spra­che, aber auch die mut­maß­li­chen Chan­cen auf dem Arbeits­markt eine grö­ße­re Rol­le. Sozi­al- und asyl­po­li­ti­sche Rege­lun­gen hin­ge­gen wirk­ten auf­grund ein­ge­schränk­ten Wis­sens der Betrof­fe­nen nur eingeschränkt.

Die Idee, eine »Zweck­ent­frem­dung« der Sozi­al­leis­tun­gen zu ver­hin­dern, zum Bei­spiel Geld­trans­fers zur Fami­lie im Her­kunfts­land, ist ent­we­der vor­ge­scho­ben oder zeugt von Unkennt­nis der Situa­ti­on armer Men­schen in die­sem Land: Wer die Bür­ger­geld­sät­ze und die noch gerin­ge­ren Sät­ze nach dem Asyl­be­wer­ber­leis­tungs­ge­setz kennt, weiß, dass es ohne­hin kaum mög­lich ist, damit men­schen­wür­dig über die Run­den zu kom­men und am Monats­en­de nichts übrig bleibt.

(ak)