08.02.2021
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Trauriger Alltag in Afghanistan: Autobombenanschlag Ende Dezember in Kabul mit mehreren Toten. Foto: picture alliance / AA | Haroon Sabawoon

Für Dienstag, den 09.02.2012, ist erneut eine Sammelabschiebung nach Afghanistan geplant. Es ist schon die zweite in diesem Jahr und bereits die dritte, nachdem von März bis Dezember 2020 auf Ersuchen der afghanischen Regierung eine 9-monatige Pause wegen der Covid-19-Pandemie eingehalten wurde.

Rück­sicht auf die coro­nabe­ding­te Situa­ti­on wäre aber gera­de jetzt mehr denn je ange­zeigt. Denn Afgha­ni­stan wur­de am 31.01.2021 vom Robert-Koch-Insti­tut als »Hoch­in­zi­denz­ge­biet« – also als Gebiet mit beson­ders hohem Infek­ti­ons­ri­si­ko durch beson­ders hohe Inzi­den­zen für die Ver­brei­tung des Coro­na­vi­rus SARS-CoV‑2 – ein­ge­stuft. In den Rei­se- und Sicher­heits­hin­wei­sen des Aus­wär­ti­gen Amtes heißt es vor die­sem Hin­ter­grund: »Afgha­ni­stan ist von COVID-19 beson­ders stark betrof­fen. Das Gesund­heits­sys­tem hält den Belas­tun­gen nicht stand«.

Bereits am 17.12.2020 warn­te die UN-Son­der­be­auf­trag­te für Afgha­ni­stan, Debo­rah Lyons: »Afgha­ni­stan steht vor einer neu­en Wel­le von COVID-19. Die Aus­wir­kun­gen die­ser Pan­de­mie waren bereits ver­hee­rend. Die zwei­te Wel­le im Win­ter wird vor­aus­sicht­lich noch viel schäd­li­cher sein als die ers­te Früh­jahrs­wel­le. Hun­ger und Unter­ernäh­rung haben zuge­nom­men und die Lebens­grund­la­gen sind erodiert«.

Damit wird nicht nur auf die schwie­ri­ge gesund­heit­li­che Lage, son­dern zugleich auch auf die kata­stro­pha­le wirt­schaft­li­che Situa­ti­on hin­ge­wie­sen, die sich durch COVID-19 für etli­che Einwohner*innen noch ver­schärft hat:

18,4 Mio

Men­schen in Afgha­ni­stan sind gemäß UNOCHA bedürftig

Vier von zehn Menschen hungern

Laut dem stell­ver­tre­ten­den UN-Chef für huma­ni­tä­re Hil­fe hat sich die Zahl der Men­schen in Not in Afgha­ni­stan von 9,4 Mil­lio­nen Anfang 2020 auf 18,4 Mil­lio­nen im Jahr 2021 ver­dop­pelt – bei einer Bevöl­ke­rung von 40,4 Mil­lio­nen. Vier von zehn Men­schen hun­gern aktu­ell, bis März 2021 wer­den sich pro­gnos­tisch fast 17 Mil­lio­nen Men­schen in einer Kri­se oder einem Not­stand der Ernäh­rungs­si­cher­heit befinden.

Bis März 2021 wer­den sich pro­gnos­tisch fast 17 Mil­lio­nen Men­schen in einer Kri­se oder einem Not­stand der Ernäh­rungs­si­cher­heit befinden.

Wie gra­vie­rend sich die wirt­schaft­li­che Situa­ti­on durch die Pan­de­mie ver­schärft hat, zeigt auch eine aktu­el­le Gerichts­ent­schei­dung. Der Ver­wal­tungs­ge­richts­hof Baden-Würt­tem­berg hat, wie am 03.02.2021 in einer Pres­se­mit­tei­lung bekannt­ge­ge­ben, in sei­nem Urteil vom 17.12.2020 ent­schie­den, dass der­zeit selbst allein­ste­hen­de, gesun­de und arbeits­fä­hi­ge Män­ner in aller Regel nicht nach Afgha­ni­stan abge­scho­ben wer­den dür­fen, da es ihnen dort in Fol­ge der gra­vie­ren­den Ver­schlech­te­rung der wirt­schaft­li­chen Rah­men­be­din­gun­gen infol­ge der COVID-19-Pan­de­mie vor­aus­sicht­lich nicht gelin­gen wird, auf lega­lem Wege die ele­men­tars­ten Bedürf­nis­se nach Nah­rung, Unter­kunft und Hygie­ne zu befriedigen.

Keine realistische Aussicht auf Arbeit 

Das Urteil stellt maß­geb­lich auf ein Gut­ach­ten der Sach­ver­stän­di­gen Eva Catha­ri­na-Schwö­rer ab. Die­ses kommt eben­falls zu dem Ergeb­nis, dass das Risi­ko, an COVID-19 zu erkran­ken, in Afgha­ni­stan sehr hoch ist, das wenig belast­ba­re Gesund­heits­sys­tem an sei­ne Gren­zen gebracht wird und die wirt­schaft­li­chen Fol­gen der Pan­de­mie ver­hee­rend sind, so dass ein Rück­keh­rer aus dem west­li­chen Aus­land selbst auf dem Tage­löh­ner­markt kei­ne rea­lis­ti­sche Aus­sicht hat, eine Arbeit zu fin­den, sofern er nicht vor Ort über ein fami­liä­res oder sozia­les Netz­werk ver­fügt, wel­ches ihm Zugang zum Arbeits­markt verschafft.

Nach wie vor: Das unsicherste Land der Welt

Auch die Gewalt in Fol­ge krie­ge­ri­scher Aus­ein­an­der­set­zun­gen in Afgha­ni­stan reißt nicht ab. Afgha­ni­stan war laut dem Glo­bal Peace Index im Jahr 2020 zum zwei­ten Mal in Fol­ge das unsi­chers­te Land der Welt und zeich­ne­te sich auch in den Vor­jah­ren schon durch eine extrem vola­ti­le Sicher­heits­la­ge aus.

Die Pro­gno­sen für die Ent­wick­lung der Sicher­heits­la­ge im Jahr 2021 fal­len nicht gut aus. So rech­net die US-ame­ri­ka­ni­sche Denk­fa­brik »Coun­cil on For­eign Rela­ti­ons« mit einer wei­te­ren Ver­schär­fung. Dies hängt mit dem im Febru­ar 2020 in einem Abkom­men zwi­schen den Tali­ban und den USA aus­ge­han­del­ten Trup­pen­ab­zug bis Mai 2021 zusam­men. Zwei Sze­na­ri­en wer­den in die­sem Kon­text beschrie­ben, die bei­de mit einer Zunah­me der Gewalt ver­bun­den wären.

US-Truppenabzug kann Situation weiter verschlechtern

Soll­ten die USA alle Trup­pen in die­sem Jahr abzie­hen, ohne eine poli­ti­sche Lösung zu fin­den, wür­de dem­zu­fol­ge der Frie­dens­pro­zess zusam­men­bre­chen und das dar­auf fol­gen­de Geran­gel um die Macht wür­de das Land wahr­schein­lich in einen noch blu­ti­ge­ren, viel­sei­ti­ge­ren Bür­ger­krieg füh­ren. Wür­den die USA indes­sen die Frist im Mai ver­strei­chen las­sen, ohne sich mit den Tali­ban auf einen neu­en Zeit­plan zu eini­gen – oder beschlie­ßen, eine unbe­fris­te­te, wenn auch klei­ne, Mili­tär­mis­si­on auf­recht­zu­er­hal­ten – dann wür­den die Tali­ban die US-Prä­senz erneut anfech­ten und die Gewalt wür­de wahr­schein­lich eben­falls zunehmen.

So oder so wird sich die Sicher­heits­la­ge in Afgha­ni­stan also im Jah­re 2021 aller Wahr­schein­lich­keit nach verschärfen.

Die Ent­täu­schung der Län­der in der Regi­on, die erwar­ten, dass die USA abzie­hen und die Tali­ban einen Teil der legi­ti­men Macht über­neh­men, wür­de sich wahr­schein­lich in einer ver­stärk­ten Unter­stüt­zung der auf­stän­di­schen Grup­pe äußern. So oder so wird sich die Sicher­heits­la­ge in Afgha­ni­stan also im Jah­re 2021 aller Wahr­schein­lich­keit nach verschärfen.

Deutsche Behörden schieben ungerührt ab

All das sorgt bei deut­schen Behör­den offen­bar nicht für ein Umden­ken: Unge­rührt wer­den wei­te­re Abschie­bun­gen vor­be­rei­tet und sol­len durch­ge­führt wer­den – so wie am mor­gi­gen Diens­tag, 09. Febru­ar, mut­maß­lich vom Flug­ha­fen Mün­chen aus. Gebo­ten wäre dabei viel­mehr, sich an den rea­lis­ti­schen Lage­ein­schät­zun­gen und vor­lie­gen­den Gerichts­ur­tei­len zu ori­en­tie­ren und end­lich einen Abschie­be­stopp für Afgha­ni­stan zu verhängen.

 

UPDATE: Das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt hat mit Beschluss vom 09.02.2021 im Rah­men einer einst­wei­li­gen Anord­nung die Abschie­bung eines von der Sam­mel­ab­schie­bung am glei­chen Tage Betrof­fe­nen nach Afgha­ni­stan unter­sagt. Das Ver­wal­tungs­ge­richt Schles­wig-Hol­stein – wel­ches die Abschie­bung zuvor für zuläs­sig erklärt und einen Eil­an­trag des Betrof­fe­nen abge­lehnt hat­te – hat nach Auf­fas­sung des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts sei­ne aus der Rechts­schutz­ga­ran­tie des Art. 19 Abs. 4 GG resul­tie­ren­de Auf­klä­rungs­pflicht für die Situa­ti­on von Rück­keh­rern ver­letzt. Denn das Ver­wal­tungs­ge­richt hat sich nicht damit beschäf­tigt, wie sich die Covid-19-Pan­de­mie auf das afgha­ni­sche Gesund­heits­sys­tem aus­wirkt, auf wel­ches sie den Betrof­fe­nen im Hin­blick auf des­sen Dro­gen- und Sub­sti­tu­ti­ons­the­ra­pie ver­weist. Außer­dem hat sich das Ver­wal­tungs­ge­richt nicht mit den Aus­wir­kun­gen der Covid-19-Pan­de­mie auf die wirt­schaft­li­che Situa­ti­on in Afgha­ni­stan aus­ein­an­der­ge­setzt. Wört­lich heißt es in der Ent­schei­dung des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts die Ent­schei­dung des Ver­wal­tungs­ge­richts lasse

»eine Aus­ein­an­der­set­zung mit dem mög­li­cher­wei­se bereits erfolg­ten Zusam­men­bruch der wirt­schaft­li­chen Grund­la­ge für arbeits­fä­hi­ge Rück­keh­rer ohne rea­li­sier­ba­re Anbin­dung an Fami­lie oder ande­re Netz­wer­ke – infor­mel­ler Arbeits­markt für Unge­lern­te und Ange­lern­te – nicht ansatz­wei­se erkennen«.

(pva)