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Frontex-Skandal Deutsche Bundespolizisten in illegalen Pushback verwickelt

Griechische Grenzschützer haben Flüchtlinge auf dem Meer ausgesetzt – und deutsche Bundespolizisten dabei geholfen. Die SPD fordert nun den Rückzug der deutschen Frontex-Einsatzkräfte.
Frontex-Einsatz in der Ägäis

Frontex-Einsatz in der Ägäis

Foto: YANNIS BEHRAKIS/ REUTERS

Für Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) ist die Sache eindeutig: Griechische Sicherheitskräfte verteidigten an der Grenze zur Türkei die »Integrität Europas«, sagte er vor wenigen Monaten im Bundestag. Und deutsche Bundespolizisten sollten sie im Rahmen der Mission der Europäischen Grenzschutzagentur Frontex dabei unterstützen. 

Dass die Lage im griechisch-türkischen Grenzgebiet sehr viel komplizierter ist, dass deutsche Beamte mitunter in mutmaßliche Gesetzesbrüche verwickelt sind, demonstrieren nun interne Frontex-Dokumente.

Statt Flüchtlinge aus Seenot zu retten, wie es das Seerecht vorschreibt, schleppen griechische Sicherheitskräfte Menschen systematisch auf das offene Meer. Der SPIEGEL hatte im Oktober gemeinsam mit den Medienplattformen Lighthouse Reports, Bellingcat, dem ARD-Magazin »Report Mainz« und dem japanischen Fernsehsender tv Asahi enthüllt, dass Frontex seit April bei mindestens sechs Pushbacks in der Nähe war.

Deutsche Beamte in illegale Praxis verstrickt

Jetzt zeigt ein internes Schreiben von Frontex-Chef Fabrice Leggeri an die EU-Kommission, dass auch deutsche Beamte in mindestens einem Fall in diese illegale Praxis verstrickt waren.

In dem Dokument, das der SPIEGEL und »Report Mainz« einsehen konnten, ist ein Einsatz vom 10. August detailliert nachgezeichnet: Um sechs Uhr morgens entdeckte der griechische Beobachtungsposten »Praso« demnach von einem Hügel aus ein Schlauchboot. Das Meer ist an dieser gefährlichen Stelle nur wenige Kilometer breit, die Flüchtlinge waren bereits eindeutig in griechischen Gewässern. Alle umliegenden Schiffe wurden alarmiert. 15 Minuten später, so steht es in dem Papier, traf die Besatzung des deutschen Schiffs BP62, Taufnahme »Uckermark«, an der gemeldeten Stelle ein. 

Die Bundespolizisten fanden ein überfülltes Schlauchboot mit 40 Menschen an Bord, hielten es an. Doch sie retteten die Insassen nicht aus dem Meer, nahmen sie nicht an Bord. Die deutschen Bundespolizisten warteten auf die griechische Küstenwache. So habe der Befehl gelautet, räumt Frontex in dem internen Bericht ein.

Eine halbe Stunde lang mussten die Flüchtlinge, unter ihnen Frauen und Kinder, auf dem Schlauchboot ausharren, so steht es im Einsatzbericht der deutschen Besatzung. Die »Uckermark« blockierte ihre Weiterfahrt, bis die Griechen den Vorfall »übernahmen«, wie es heißt. 

Was das bedeutete, zeigt ein Foto, aufgenommen etwa zwei Stunden später von der türkischen Küstenwache. Darauf ist zu sehen, wie die 40 Flüchtlinge von türkischen Sicherheitskräften aus einem Schlauchboot gerettet werden. Die Schutzsuchenden wurden von den griechischen Grenzschützern offenkundig in türkische Gewässer geschleppt. Sie wurden Opfer eines illegalen Pushbacks.    

Die Bundespolizisten mussten gewusst haben, dass hier Unrecht geschah. Jedenfalls schickten sie kurz nach dem Einsatz eine E-Mail an das Maritime Koordinierungszentrum in Piräus, verantwortlich für die Einheiten auf dem Meer. Die Deutschen wollten wissen, was mit den Flüchtlingen passiert sei.

»Grenzschutzmaßnahmen ergriffen, um die Ankunft auf Samos zu verhindern«

Die Antwort der Griechen, die Leggeri in seinem Schreiben an die EU-Kommission zitiert: »Das Schlauchboot mit Migranten an Bord hat beim Anblick des Schiffes der griechischen Küstenwache den Kurs geändert und ist zurück in Richtung Türkei gefahren.« Angeblich freiwillig, daher habe man den Vorfall als »verhinderte Einreise« registriert. Auf Nachfrage von Frontex wurden die Griechen etwas deutlicher: Die Küstenwache habe »Grenzschutzmaßnahmen ergriffen, um die Ankunft auf Samos zu verhindern«.

»Deutsche dürfen sich auf keinen Fall an Pushbacks beteiligen, auch nicht indirekt. Und wenn Frontex das nicht sicherstellen kann, muss das deutsche Kontingent zurückgezogen werden«

Frank Schwabe, SPD

Was solche »Grenzschutzmaßnahmen« bedeuten, können Hunderte Flüchtlinge aus eigenem Erleben berichten, es ist in zahlreichen Videos dokumentiert: Die griechische Küstenwache beschädigt oft den Außenbordmotor der Schlauchboote, um die Schiffe manövrierunfähig zu machen. Dann werden die Migranten mit gefährlichen Manövern Richtung Türkei zurückgedrängt. Teils werden die Boote mit Seilen gezogen, die Flüchtlinge mit Waffen bedroht, nicht selten fallen Schüsse.

Der Migrationsrechtsexperte Constantin Hruschka vom Max-Planck-Institut für Sozialrecht sieht die deutsche Bundespolizei beim Einsatz am 10. August klar in der Mitverantwortung: »Inzwischen muss Frontex davon ausgehen, dass die griechische Küstenwache illegale Pushbacks durchführt. Frontex muss in so einem Fall sicherstellen, dass das nicht passiert und die Flüchtlinge einen Zugang zu einem Asylverfahren bekommen.« 

Doch die deutsche Besatzung der BP62 hat die Flüchtlinge weder gerettet, noch ein Asylverfahren sichergestellt. Sie haben das Schlauchboot an die Griechen übergeben. Dabei ist Beobachtern klar, dass in der Ägäis systematisch Pushbacks stattfinden. Die EU-Grenzschutzagentur Frontex selbst hat mehrere solcher Vorfälle eindeutig dokumentiert, wie SPIEGEL und »Report Mainz« berichteten. Doch für den 10. August haben die deutschen Frontex-Beamten nicht einmal einen »Serious Incident Report« angefertigt, wie bei mutmaßlichen Menschenrechtsverletzungen vorgeschrieben.

Weder die Bundespolizei noch das Bundesinnenministerium haben bislang auf eine Anfrage von SPIEGEL und »Report Mainz« reagiert.

Der Druck auf Frontex-Chef Leggeri nimmt zu

Der Druck auf Frontex-Chef Leggeri nimmt zu

Foto:

Virginia Mayo / AP

Der menschenrechtspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Frank Schwabe, fordert nun einen Rückzug der Bundespolizei aus der Ägäis: »Deutsche dürfen sich auf keinen Fall an Pushbacks beteiligen, auch nicht indirekt. Und wenn Frontex das nicht sicherstellen kann, muss das deutsche Kontingent zurückgezogen werden.«

Frontex-Chef Fabrice Leggeri steht durch die Enthüllungen schon jetzt massiv unter Druck. Er selbst müsste eigentlich die Mission in der Ägäis bei anhaltenden Menschenrechtsverletzungen beenden, so schreiben es interne Frontex-Regularien vor – auch um die eigenen Beamten zu schützen. Doch Leggeri vertuscht die Pushbacks. 

Die Bundespolizei bringt das in Bedrängnis. Jedes Flüchtlingsboot, das sie den griechischen Behörden melden, droht auf das offene Meer zurückgeschleppt zu werden. Die deutschen Grenzschützer könnten sich womöglich sogar nach internationalem Recht mitschuldig machen, sagt die Völkerrechtsexpertin Nora Markard: »Die Bundespolizisten haben womöglich Beihilfe zur Menschenrechtsverletzung geleistet.«

Es scheint nur eine Frage der Zeit, bis bei diesen Aktionen Flüchtlinge ertrinken

Es scheint nur noch eine Frage der Zeit, bis bei diesen gefährlichen Aktionen Flüchtlinge ertrinken. Doch das Bundesinnenministerium sieht bislang offenbar keinen Handlungsbedarf. Als eine Sprecherin des Bundesinnenministeriums am Freitag auf Pushbacks in der Ägäis angesprochen wurde, teilte sie mit, man habe derzeit noch keine belastbaren Beweise.

Die Bundespolizei nimmt die illegalen Pushbacks offenbar ebenfalls in Kauf. Bereits im Juni hatten SPIEGEL und »Report Mainz« über einen Pushback vor Samos berichtet. Dabei waren Flüchtlinge von der griechischen Küstenwache gewaltsam auf aufblasbare Rettungsinseln umgeladen, in Richtung Türkei gezogen und schließlich auf dem Meer ausgesetzt worden. 

Auch damals war die Bundespolizei beteiligt: Sie hatte nach eigenen Aussagen per Helikopter das Schlauchboot auf dem Weg nach Samos entdeckt und die Position an die Griechen gemeldet. Das weitere Vorgehen habe man aber nicht beobachten können, teilte die Bundespolizei im Juni mit. Die Frage, ob man sich nicht gewundert habe, warum am Ende niemand angekommen sei, blieb damals unbeantwortet.

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