VG Halle

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Zitieren als:
VG Halle, Urteil vom 27.04.2023 - 5 A 299/21 HAL - asyl.net: M31630
https://www.asyl.net/rsdb/m31630
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für Person aus Tschetschenien wegen drohender Zwangsrekrutierung für Kriegsdienst in der Ukraine:

1. Einem 38-jährigem Mann ohne gesundheitliche Einschränkungen droht bei Rückkehr nach Tschetschenien die Zwangsrekrutierung für den Kriegsdienst in der Ukraine, um dort Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu begehen oder zumindest den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwiderzuhandeln, § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG.

2. Es besteht auch keine innerstaatliche Fluchtalternative gemäß § 3e Abs. 1 AsylG, da die tschetschenischen Behörden über Zugriff auf die Datenbanken der Russischen Föderation haben und den Kläger auf diesem Weg ausfindig machen können. Unabhängig davon, ob Behörden der Russischen Föderation oder anderer Teilrepubliken eine von tschetschenischen Behörden gesuchte Person ausliefern würden, kann überall in der Russischen Föderation Druck auf Exil-Tschetschenen ausgeübt werden.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Russische Föderation, Tschetschenen, Militärdienst, Ukraine, Tschetschenien, Nordkaukasus, Zwangsrekrutierung, interner Schutz, ethnische Minderheiten, Teilmobilisierung, Strafverfolgung wegen Verweigerung von völkerrechtswidrigem Militärdienst, Reservisten,
Normen: AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3a Abs. 2 Nr. 5, AsylG § 3e Abs. 1
Auszüge:

[...]

34 Dem Kläger zu 1. ist die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. [...]

49 Im Fall des Klägers zu 1. liegt indes deshalb ein Nachfluchttatbestand vor, weil ihm als 38-jährigem tschetschenischem Mann ohne gesundheitliche Einschränkungen bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland die Zwangsrekrutierung für den Kriegsdienst in der Ukraine droht. Als Verfolgung im Sinne des § 3a Abs. 1 AsylG kann nämlich unter anderem neben der Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt (§ 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylG) auch Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG fallen würden (§ 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG), gelten.

50 Der von Russland in der Ukraine geführte Krieg ist ein völkerrechtlicher Angriffskrieg und den in das Verfahren eingeführten Erkenntnismitteln zufolge erscheint es - ungeachtet der Echtheit des in das Verfahren eingeführten Dokuments betreffend die Einberufung des Klägers zu 1. zum ... 2022 um 11:00 Uhr - beachtlich wahrscheinlich, dass der 38-jährige Kläger zu 1. als gesunder tschetschenischer Mann gegen seinen Willen für eine tschetschenische Kampfeinheit eingezogen und in die Ukraine entsendet wird, um dort Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu begehen oder zumindest den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationalen zuwiderzuhandeln. [...]

52 Präsident Putin ordnete am 21. September 2022 als Reaktion auf die militärischen Rückschläge im Ukrainekrieg die Teilmobilmachung der russischen Streitkräfte an, in deren Rahmen 300.000 Reservisten einberufen wurden [...].

53 Die Umsetzung des präsidentiellen Dekrets vom 21. September 2022 obliegt den Regionen. [...]

54 Im September und Oktober 2022 kam es zu erheblichen Unregelmäßigkeiten bei der tatsächlichen Durchführung. Es wurden zahlreiche Männer eingezogen, die etwa wegen ihres militärischen Rangs, ihres Alters, eines Studiums oder ihrer gesundheitlichen Verfassung, zum Beispiel wegen einer Krebserkrankung oder HIV/AIDS, nicht hätten eingezogen werden dürfen [...]. Die vorgesehene gesundheitliche Eignungsprüfung für einzuberufende Reservisten wurde in vielen Fällen gar nicht durchgeführt und medizinische Dokumente ignoriert. Auch Menschen ohne militärische Erfahrung wurden einberufen [...]. Besonders in ärmeren Regionen wurden gar keine Kategorisierungen vorgenommen und hätte jeder Mann eingezogen werden können; die sog. Teilmobilisierung sei tatsächlich auf eine Totalmobilisierung ausgerichtet gewesen. [...]

55 Am 28. Oktober 2022 vermeldete der Verteidigungsminister Schoigu an Putin den Abschluss der Teilmobilmachung. Der Kreml bestätigte dies, ohne ein Beendigungs-Dekret zu erlassen. Die tatsächliche Zahl der bis zu diesem Zeitpunkt mobilisierten Personen wird auf mindestens 500.000 geschätzt [...].

56 Spekuliert wird darüber, wann zum Ausgleich der anhaltenden erheblichen Verluste der russischen Streitkräfte in der Ukraine weitere Mobilisierungswellen beginnen könnten und unklar ist, wie viele Reservisten insgesamt einberufen werden sollen. Dabei ist die Diskussion um eine "zweite" Welle der Mobilisierung etwas irreführend, da die Mobilisierungsbemühungen nicht wirklich aufhörten nach dem verkündeten Ende der Teilmobilisierung [...].

58 Offiziell rekrutiert Präsident Putin neben Freiwilligen seit September 2022 zudem Strafgefangene, denen als Gegenleistung für einen Kampfeinsatz Geld und frühzeitige Entlassung aus dem Gefängnis angeboten werden. [...] Überdies setzt das russische Militär im Krieg in der Ukraine stark auf Einheiten von Soldaten aus den Regionen der ethnischen Minderheiten, einschließlich Sibirien und den mehrheitlich muslimischen Provinzen des Nordkaukasus, mit den Regionen, die überproportional viele einberufene Reservisten und Kriegsverluste erleiden [...]. Die Bemühungen der russischen Behörden um Mobilisierung ethnischer Minderheiten zum Kämpfen dauern an [...].

59 Bereits im August 2022 hatte Kadyrov verkündet, ein privates Militärausbildungszentrum in der Stadt Gudermes würde jede Woche 200 ausgebildete Kämpfer in die Ukraine schicken. Die Behörden in Tschetschenien starteten eine aggressive Kampagne, um die Männer der Region dazu zu bewegen, sich freiwillig zum Kampf in der Ukraine zu melden. [...]

60 Am 29. Oktober 2022 sagte Kadyrov, dass weiterhin Aufrufe in Tschetschenien verteilt werden würden, obwohl die von Präsident Putin am 21. September verkündete großangelegte militärische Mobilisierung offiziell beendet war; er forderte die Errichtung zusätzlicher, ausgebildeter Reserveeinheiten in Tschetschenien [...]. Ebenso kündigte er an, eine dramatisch ansteigende Zahl tschetschenischer Männer in den Krieg zu schicken; Alter sei egal. Auf jeden Fall sollte jeder den gerade kämpfenden Einheiten beitreten [...].

61 Ein Großteil der in der Ukraine eingesetzten tschetschenischen "Freiwilligen" wurde zu dem Einsatz gezwungen. Ihnen wurde mit Gefängnis oder Vergeltungsmaßnahmen gegen ihre Verwandten gedroht. Die Rekrutierung erfolgt in großem Umfang und willkürlich, ohne dass Beziehungen zum Militär oder Sicherheitsapparaten bestünden, die in das umkämpfte Gebiet in der Ukraine geschickt werden [...].

63 Angesichts dieser Erkenntnislage ist die Kammer davon überzeugt, dass der Kläger zu 1. zum Kreis derjenigen tschetschenischen Männer zählt, die aktuell mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit der ernsthaften Gefahr einer legalen oder extralegalen Zwangsrekrutierung für den Ukrainekrieg ausgesetzt sind. Der 38-jährige Kläger ohne gesundheitliche Einschränkungen unterfällt als Reservist der zweiten Alterskategorie der ersten Ranggruppe. Angesichts der - wie aufgezeigt - ohnehin willkürlichen Heranziehungspraxis rechtfertigt auch die Anzahl seiner Kinder und das Vorliegen eines der Ausschlussgründe für Reservisten, nicht der Teilmobilmachung zu unterfallen [...], keine andere rechtliche Würdigung im Hinblick auf die dem Kläger zu 1. drohende Zwangsrekrutierung für den Krieg in der Ukraine.

64 Der Kläger zu 1. kann auch nicht auf eine innerstaatliche Fluchtalternative verwiesen werden (a. A.: VG Braunschweig, Urteil vom 11. Oktober 2022 - 8 A 388/19 - juris Rn. 33), da die tschetschenischen Behörden über Zugriff auf die Datenbanken der Russischen Föderation verfügen und ihn auf diesem Wege ausfindig machen können, wenn er sich an einem anderen Ort innerhalb der Russischen Föderation registriert. Eine solche Registrierung wiederum ist gesetzlich vorgeschrieben und für den Erhalt von Sozialleistungen, aber auch anderen Leistungen der Behörden unverzichtbar. Die russischen Behörden arbeiten daran, verschiedene Regierungsdatenbanken zu integrieren, um ihre Mobilisierungsanstrengungen zu verstärken und gegenüber Zugverweigerern hart durchzugreifen [...]. Kennen die tschetschenischen Behörden den Aufenthaltsort des Klägers zu 1., kann auf diesen zumindest Druck ausgeübt werden, nach Tschetschenien zurückzukehren. Zwar spricht Erhebliches aus den Erkenntnismitteln dafür, dass andere Behörden der Russischen Föderation, sowohl die nationalen, als auch die der verschiedenen Teilrepubliken, Anforderungen tschetschenischer Behörden nur im Falle rechtskräftiger Urteile ordnungsgemäß bearbeiten. In den übrigen Fällen kann eine Umsetzung schlicht unterbleiben. Das kann aber nicht sichergestellt werden, weil die zuständigen Behörden rechtlich zu einem anderen Vorgehen verpflichtet sind. Von größerer Bedeutung ist allerdings, dass die tschetschenischen Behörden und andere für Ramsan Kadyrow Tätige überall in der Russischen Föderation Druck auf Exil-Tschetschenen ausüben können, ohne daran von den sonstigen lokalen Behörden gehindert zu werden. Es ist deshalb mit einem erheblichen Risiko verbunden, der Aufforderung solcher Personen, nach Tschetschenien zurückzukehren, nicht zu folgen. [...]