Übersicht: Auswirkungen des Ukraine-Krieges auf Dublin-Überstellungen

Wegen der großen Anzahl Geflüchteter aus der Ukraine lehnen osteuropäische Staaten zum Teil die (Rück-)Übernahme von Personen ab, die im Rahmen des Dublin-Verfahrens überstellt werden sollen. Ob Dublin-Bescheide deshalb rechtswidrig sind, ist unter Verwaltungsgerichten umstritten.

Hinweis: Die Meldung wurde hinsichtlich Rumäniens am 7.6.2022 aktualisiert.

Einleitung

Die Versorgung Schutzsuchender aus der Ukraine stellt die angrenzenden Staaten zurzeit vor große Herausforderungen. Das hat auch Auswirkungen auf Dublin-Verfahren von Personen, die in diese Länder überstellt werden sollen. So erklärte Polen bald nach Kriegsbeginn, Dublin-Überstellungen abzulehnen. Auch andere Staaten (Slowakei, Rumänien, Tschechien und Bulgarien) sollen entsprechende Erklärungen abgegeben haben. Das OVG Nordrhein-Westfalen forderte das BAMF Ende März zu einer Stellungnahme auf. Es sei bekannt geworden,

dass seit Ende Februar 2022 Dublin-Überstellungen nach Polen, Rumänien, Tschechien, in die Slowakei und nach Bulgarien von diesen Staaten wegen der großen Zahl der dort ankommenden ukrainischen Schutzsuchenden abgelehnt werden.“ (unveröffentlichtes Schreiben des OVG Nordrhein-Westfalen an das BAMF)

Auch die Welt am Sonntag berichtet unter Berufung auf eine Quelle im Innenministerium Baden-Württemberg über einen Überstellungsstopp nach Polen, Rumänien, Tschechien und die Slowakei (Meldung vom 2.4.2022):

Ein Rückführungsstopp gelte „aufgrund der hohen Belastung“ auch für die „stark betroffenen Fluchtzielländer Polen, Rumänien, Tschechien und Slowakei“. Polen und Rumänien hätten aufgrund der sich dynamisch entwickelnden Situation in der Ukraine mitgeteilt, dass zur Entlastung Überstellungen bis auf Weiteres nicht entgegengenommen werden. Ausnahmen seien nicht möglich, heißt es aus dem Innenministerium in Baden-Württemberg.“

Nach Informationen des dänischen Flüchtlingsrats (Danish Refugee Council, DRC) haben Polen, die Slowakei, Rumänien und Tschechien erklärt, keine Dublin-Überstellungen anzunehmen, wobei Rumänien erklärt haben soll, in dringenden Einzelfällen Ausnahmen zu machen. Für Bulgarien liegen keine entsprechenden Informationen vor.

Die vorliegende Übersicht stellt die uns bekannte Sachlage und Rechtsprechung zu den einzelnen Ländern zusammen und gibt Hinweise für die Beratungspraxis.

Polen

Mit Rundschreiben vom 25. Februar 2022, welches in Gerichtsentscheidungen zitiert wird, haben die polnischen Behörden den nationalen Dublin-Einheiten gegenüber erklärt, dass ab dem 28. Februar 2022 keine Übernahmebereitschaft mehr bestehe:

"[...] Due to the situation on the territory of Ukraine, Poland immediately suspends all INCOMING transfers. All incoming transfers are suspended until further notice. Please cancel all incoming transfers scheduled from 28.02.2022. [...]"

Wie sich die Weigerung Polens auf die Rechtmäßigkeit entsprechender Dublin-Bescheide auswirkt, ist unter Verwaltungsgerichten umstritten. Dabei ist neben der Frage, ob In Polen eine unmenschliche Behandlung droht, vor allem strittig, ob das BAMF die Abschiebung nach Polen anordnen kann. Gemäß § 34a Abs. 1 S. 1 AsylG ist hierfür nämlich Voraussetzung, dass feststeht, dass die Abschiebung auch durchgeführt werden kann. Andernfalls kann bloß eine Abschiebungsandrohung ergehen (§ 34a Abs. 1 S. 4 AsylG).

Das VG Aachen (M30526) gab einem Eilantrag mit Blick auf das o.g. Rundschreiben statt. Es befand die Abschiebungsanordnung für unzulässig, da entgegen § 34a Abs. 1 S. 1 AsylG nicht feststehe, dass die Abschiebung durchgeführt werden kann:

Denn jedenfalls die grundsätzliche (Wieder)Aufnahmebereitschaft des Zielstaats muss im entscheidungserheblichen Zeitpunkt nach höchst- und obergerichtlicher Rechtsprechung positiv geklärt sein. Dies ergibt sich sowohl aus dem klaren Wortlaut der Norm ("feststeht"), als auch aus dem Sinn und Zweck des Dublin-Systems und der mit ihm verwirklichten verfahrensrechtlichen Dimension der materiellen Rechte, die die Richtlinie 2011/95/EU (sog. Anerkennungsrichtlinie) Schutzsuchenden einräumt. […] An einer positiv geklärten (Wieder)Aufnahmebereitschaft fehlt es hier unstreitig. [...][Es] steht zurzeit positiv fest, dass Polen aufgrund des Krieges in der Ukraine bis auf weiteres generell nicht mehr zur (Wieder)Aufnahme Schutzsuchender im Rahmen des Dublin-Systems bereit ist.“

Auch das VG Berlin (Beschluss vom 19.4.2022, M30631), die sechste Kammer des VG Arnsberg (Beschluss vom 27.4.2022, M30609) und zuletzt das VG Minden (Beschluss vom 20.05.2022, M30651) gehen in aktuellen Entscheidungen davon aus, dass Dublin-Bescheide mit einer Abschiebungsanordnung nach Polen rechtswidrig seien, weil nicht feststehe, dass die Abschiebung durchgeführt werden kann. Ähnlich geht die 22. Kammer des VG Düsseldorf (Beschluss vom 26.4.2022) davon aus, dass Polen bis auf Weiteres nicht zur (Wieder)Aufnahme Schutzsuchender im Rahmen des Dublin-Systems bereit sei und deshalb vorläufiger Rechtsschutz zu gewähren sei. Der vorläufige Rechtsschutz sei jedoch auf drei Monate zu befristen. Für eine weitergehende Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage fehle es angesichts der sich dynamisch entwickelnden Situation in der Ukraine an der erforderlichen Tatsachengrundlage.

Die zwölfte Kammer des VG Düsseldorf (Beschluss vom 12.4.2022) hat einem Eilantrag ebenfalls stattgegeben, stützt diese Entscheidung jedoch darauf, dass das BAMF verpflichtet sei, gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO den Selbsteintritt zu erklären. Die Kapazitäten Polens zur Aufnahme von Flüchtlingen seien zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung erschöpft und es sei nicht zu erkennen, dass der polnische Staat zur Unterbringung weiterer Flüchtlinge in der Lage wäre. Ähnlich führt die zehnte Kammer des VG Arnsberg (Beschluss vom 16.3.2022 – 10 L 125/22.A) aus, dass nicht auszuschließen sei, dass nach Polen überstellten Asylsuchenden aufgrund des „Massenzustroms“ ukrainischer Geflüchteter eine Situation extremer materieller Not drohe, in der eine Befriedigung ihrer elementarsten Grundbedürfnisse nicht mehr gewährleistet sei.

Andere Verwaltungsgerichte halten Dublin-Bescheide mit dem Zielstaat Polen nach wie vor für rechtmäßig: Das VG Wiesbaden (Urteil vom 6.5.2022 – 3 K 1656/18.WI.A) meint, dass die Unmöglichkeit der Überstellung von Asylsuchenden an einen bestimmten Staat nur die Überstellung hindere, aber kein Recht auf Ausübung des Selbsteintrittsrechts begründe. Im Übrigen drohe der – psychisch erkrankten – Klägerin in Polen auch keine unmenschliche Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GR-Charta; es gebe keine Anhaltspunkte für systemische Schwachstellen. Es sei auch nicht zu prognostizieren, dass sich durch die Flüchtlingsbewegungen die Aufnahme und Lebensbedingungen für anerkannte Schutzberechtigte in Polen so weitreichend verschlechtern würden, dass im Falle einer Zuerkennung internationalen Schutzes von einer ernsthaften Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung auszugehen wäre. Das BAMF hatte aufgrund der Schwangerschaft der Klägerin zum Zeitpunkt des Erlasses des Bescheids eine Abschiebungsandrohung und keine Abschiebungsanordnung nach § 34a AsylG erlassen. Die Frage, ob die Durchführbarkeit der Abschiebung „feststeht“, war deshalb nicht entscheidungserheblich.

Das VG Augsburg (Beschluss vom 21.4.2022 – Au 8 S 22.50098) und VG Lüneburg (Beschluss vom 8.3.2022 – 5 B 23/22) stellten auch fest, dass Überstellungen durchgeführt werden können. Ausreichend sei insofern eine Prognose des BAMF, dass die Abschiebung innerhalb der sechsmonatigen Überstellungfrist mit großer Wahrscheinlichkeit erfolgen könne. „Feststehen“ i.S.d. § 34a Abs. 1 S. 1 AsylG bezeichne eine relative Wahrscheinlichkeit. Ferner seien keine Anhaltspunkte ersichtlich, dass im Falle einer Überstellung nach Polen eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GR-Charta drohte.

Slowakei

Die Slowakei hat laut VG Würzburg (Urteil vom 5.4.2022) erklärt, Überstellungen im Rahmen der Dublin III-Verordnung ab 2. März 2022 nicht mehr zu akzeptieren, um den aus dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine resultierenden erheblichen Flüchtlingsbewegungen gerecht zu werden. Unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des VG Aachen (siehe oben) entschied das VG Würzburg deshalb, dass ein Dublin-Bescheid mit dem Zielstaat Slowakei rechtswidrig sei. Es fehle an der nach § 34a Abs. 1 S. 1 AsylG vorausgesetzten positiv geklärten, zumindest grundsätzlich bestehenden (Wieder-)Aufnahmebereitschaft des Zielstaats. Dass diese erforderlich sei, ergebe sich insbesondere aus dem Wortlaut der Norm („feststeht“). Dass – wie vom BAMF ausgeführt – zumindest nicht ausgeschlossen sei, dass die Slowakei innerhalb der Überstellungsfrist wieder aufnahmebereit sein werde, sei nicht ausreichend.

Rumänien

Auch hinsichtlich Rumäniens bestünden laut VG Düsseldorf (Beschluss vom 4.5.2022), konkrete Anhaltspunkte dafür, dass zurzeit keine Übernahmebereitschaft bestehe. Das VG ordnete deshalb für drei Monate die aufschiebende Wirkung der Klage an. Es spreche überwiegendes dafür, dass Rumänien momentan aufgrund des Krieges in der Ukraine bis auf weiteres generell nicht zur (Wieder-)Aufnahme Schutzsuchender im Rahmen des Dublin-Systems bereit sei:

Die Beklagte hat im vorliegenden Verfahren bestätigt, dass Rumänien aufgrund der sich dynamisch entwickelnden Situation in der Ukraine am 1. März 2022 mitgeteilt habe, dass Überstellungen ab sofort zunächst nicht mehr entgegen genommen werden. Lediglich in dringenden Einzelfällen bleibe eine Überstellung weiterhin möglich.“

Ende Mai hat die Dublin-Unit Rumäniens in einem Rundschreiben gegenüber den anderen Mitgliedstaaten jedoch erklärt, Dublin-Überstellungen schrittweise wieder akzeptieren zu wollen, wobei die Kapazitäten zurzeit noch beschränkt seien.

Tschechien

Zwar gibt es die oben genannten, allgemeinen Hinweise darauf, dass Tschechien keine Dublin-Überstellungen mehr akzeptiert. Weitergehende Informationen oder Rechtsprechung liegen uns hierzu bis jetzt jedoch nicht vor.

Bulgarien

Das VG Köln (Beschluss vom 21.4.2022 – 13 L 589/22.A) gab einem Eilantrag statt, weil es davon ausging, dass es an einer positiv geklärten (Wieder-)Aufnahmebereitschaft fehle und die Voraussetzungen des § 34a Abs. 1 S. 1 AsylG folglich nicht vorlägen. Nach Auskunft des BAMF hätten die bulgarischen Behörden mitgeteilt, dass Überstellungen im Rahmen der Dublin III-VO ab sofort nicht mehr entgegengenommen würden.

Mit Schreiben vom 25. April 2022 hat das BAMF gegenüber dem VG Hannover (Schreiben vom 25.4.2022 – Az. 2 A 1530/22) jedoch erklärt:

„Bulgarien beantwortet weiterhin Übernahmeersuchen aus Deutschland und die Überstellungen werden weiterhin durchgeführt.“

Das deckt sich mit uns vorliegenden Informationen von Anwält*innen, wonach es in den letzten Wochen zu Überstellungsversuchen nach Bulgarien aufgrund der Dublin III-VO gekommen ist.

Fazit

In tatsächlicher Hinsicht ist festzuhalten, dass Polen generell Überstellungen im Dublin-Verfahren verweigert, sodass es zurzeit nicht zu Abschiebungen dorthin kommt. Auch hinsichtlich der Slowakei  scheint das gesichert. Hinsichtlich Tschechiens gibt es lediglich allgemeine Informationen, dass die dortigen Behörden nicht zur (Rück-)Übernahme bereit seien. Bezüglich Bulgarien scheint es weiterhin oder wieder zu Überstellungen im Dublin-Verfahren zu kommen und auch Rumänien will wieder Überstellungen akzeptieren.

In der Rechtsprechung ist dabei umstritten, welche Auswirkung die Erklärung eines Mitgliedstaates hat, Asylsuchende bis auf Weiteres nicht im Rahmen des Dublin III-VO zurückzunehmen: Im Zentrum steht hier die Frage, ob angesichts einer solchen Erklärung feststeht, dass eine Abschiebung i.S.v. § 34a Abs. 1 S. 1 AsylG durchgeführt werden kann. Während einige Gerichte unter Hinweis auf den Wortlaut der Norm überzeugend darlegen, dass die Durchführbarkeit damit eben – zum Zeitpunkt der Entscheidung – nicht feststeht, beziehen andere Gerichte auch mögliche zukünftige Entwicklungen in ihre Erwägungen mit ein. Selbst wenig fundierte Prognosen des BAMF, wonach die Abschiebung innerhalb der Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO möglicherweise noch erfolgen könne, führen in diesen Entscheidungen zu der Annahme, dass die Durchführbarkeit der Abschiebung gemäß § 34a Abs. 1 S. 1 AsylG feststehe.

Eine andere streitige Frage ist, ob wegen der Ankunft vieler Geflüchteter aus der Ukraine eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung entgegen Art. 3 EMRK, Art. 4 GR-Charta wegen mangelhafter Aufnahme- und Verfahrensbedingungen oder nach einer etwaigen Anerkennung drohen.

Für die Beratungspraxis bedeutet das, dass die Erfolgsaussichten möglicher Rechtsmittel offen sind, obwohl überzeugende Argumente dafür sprechen, dass Dublin-Bescheide hinsichtlich Polen, Tschechien und der Slowakei zurzeit rechtswidrig sind. Zudem ist fraglich, ob erfolgreicher Eilrechtsschutz immer im Interesse der Schutzsuchenden ist, falls diese das Asylverfahren in Deutschland betreiben wollen. Wenn nach einem positiven Eilbeschluss eine Hauptsacheentscheidung erst Monate oder Jahre später ergeht, und der jeweilige Mitgliedstaat dann gegebenenfalls wieder bereit ist, Asylsuchende zurückzunehmen, droht eine negative Entscheidung in der Hauptsache und damit ein Wiederaufleben der Abschiebungsanordnung für die Dauer der Überstellungsfrist von mindestens sechs Monaten. Ein Verzicht auf einen Eilantrag kann hingegen dazu führen, dass die Überstellungsfrist abläuft, während tatsächlich keine Überstellungen möglich sind. Es sollte deshalb in jedem Einzelfall sorgsam geprüft und abgewogen werden, welches Vorgehen sinnvoll ist. Im Zweifel sollte hierzu dringend anwaltlicher Rat eingeholt werden.


Hinweis

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