22.08.2022
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Die Situation in Rostock-Lichtenhagen am 27. August - nun ist endlich Polizei vor Ort, nachdem das Pogrom bereits am 22. August begonnen hatte. Foto: picture alliance / ZB / Jens Kalaene

Die Erinnerung an das Pogrom darf nicht zum symbolischen Ritual der politischen Entlastung werden, fordert Heiko Kauffmann, Mitbegründer und langjähriger Sprecher von PRO ASYL. Im Interview erläutert er, wie staatlicher und alltäglicher Rassismus einander bedingen.

Vor 30 Jah­ren fand im Ros­to­cker Orts­teil Lich­ten­ha­gen das größ­te ras­sis­ti­sche Pogrom der deut­schen Nach­kriegs­ge­schich­te statt. Vom 22. bis 26. August 1992 grif­fen hun­der­te Rechts­extre­me die Zen­tra­le Auf­nah­me­stel­le für Asyl­be­wer­ber (ZAst) an und setz­ten das dane­ben­ge­le­ge­ne Wohn­heim für ehe­ma­li­ge viet­na­me­si­sche Vertragsarbeiter*innen in Brand – nur knapp ent­ka­men die dort leben­den Men­schen dem Tod. Tau­sen­de Zuschauer*innen applau­dier­ten, die Poli­zei ver­sag­te dabei, die Ange­grif­fe­nen zu schüt­zen, und die Politiker*innen miss­brauch­ten den Vor­fall im Nach­gang, um die Grund­ge­setz­än­de­rung im Jah­re 1993  zu legitimieren.

Hei­ko, du warst damals ein paar Tage nach dem Pogrom direkt vor Ort, als Inlands­re­fe­rent von terre des hom­mes und als Vor­stands­mit­glied von PRO ASYL. Wie hast du die Tage erlebt?

Das war ja nicht der ers­te rechts­ra­di­ka­le Anschlag. Aber die Dimen­si­on mit bür­ger­kriegs­ähn­li­chen Aus­ma­ßen war der­art scho­ckie­rend, dass ich kurz danach hin­fuhr um zu schau­en, wie wir hel­fen und was wir tun kön­nen. Ich traf auf eine sehr bedroh­li­che Atmo­sphä­re, aber auch auf Erschöp­fung bei den  Bewoh­nern der Stadt. Die waren miss­trau­isch, in sich gekehrt oder feind­se­lig. Die Stim­mung war so nie­der­ge­drückt, dass man am liebs­ten gleich wie­der gehen woll­te. Da tra­fen unver­hoh­le­ner Hass und Feind­se­lig­keit bei den einen auf Scham und Trau­er bei den ande­ren. Das ging tief aus­ein­an­der, die Stadt war total polarisiert.

Wie sah es in dem Wohn­heim aus, das ange­grif­fen wor­den war?

Ich war erschüt­tert über das Aus­maß der Zer­stö­rung – es war, als ob Bom­ben in das Wohn­heim gefal­len wären. Die Flu­re waren beschä­digt, alles war schwarz. Wir haben dann einen Pro­jekt­zu­schuss für den Wie­der­auf­bau eines Büros in dem Wohn­heim gege­ben, das als Treff­punkt für die Viet­na­me­sen dien­te. Unmit­tel­bar nach dem Pogrom grün­de­ten die Bewohner*innen dann den Ver­ein Diên Hông – Gemein­sam unter einem Dach. Das muss man sich mal über­le­gen: Die Viet­na­me­sen beschlos­sen, auf die Mehr­heits­ge­sell­schaft, von der sie gera­de ange­grif­fen wur­den, zuzu­ge­hen und sich für ein bes­se­res Zusam­men­le­ben ein­zu­set­zen. Der Ver­ein leis­tet bis heu­te groß­ar­ti­ge  Arbeit.

Wie erklärst du dir, dass der ras­sis­ti­sche Mob tage­lang so frei wal­ten konnte? 

Die poli­ti­sche und gesell­schaft­li­che Stim­mung war damals im gesam­ten Bun­des­ge­biet der­art pola­ri­siert und auf­ge­heizt, wie ich es in mei­nem gan­zen Leben nicht wie­der erlebt habe. Bereits seit Mit­te der 1980er Jah­re hat­ten poli­ti­sche und media­le Kam­pa­gnen mit einer rück­sichts­lo­sen Instru­men­ta­li­sie­rung von Flücht­lin­gen eine Asyl­de­bat­te vom Zaun gebro­chen, die die Stim­mung im Land anheiz­te. Wöchent­lich las man von Angrif­fen auf Flücht­lings­un­ter­künf­te. Ein schlim­mer Vor­läu­fer war Hoyers­wer­da im Sep­tem­ber 1991, wo hun­der­te von Migran­ten ange­grif­fen und gejagt wur­den und nicht von der Poli­zei geschützt, son­dern letzt­end­lich eva­ku­iert wur­den. Das fei­er­te der rech­te Mob in einer Wei­se, dass er den Begriff der »ers­ten aus­län­der­frei­en Stadt Deutsch­lands« bemüh­te, der in Anleh­nung an den Begriff »die ers­te juden­freie Stadt Deutsch­lands« an wirk­lich dunk­le Zei­ten erinnerte.

Flan­kiert wur­de das Gan­ze seit Jah­ren von immer schär­fe­ren Geset­zen der Kohl-Regie­rung, die dar­auf abziel­ten, Flücht­lin­ge abzu­schre­cken. Man­gel­haf­te medi­zi­ni­sche Ver­sor­gung, Unter­brin­gung in Sam­mel­la­ger mit oft kata­stro­pha­len Lebens­um­stän­den, stän­di­ger psy­chi­scher Druck auf die Flücht­lin­ge, auf­grund von Resi­denz­pflicht und vie­lem mehr. Die Ver­elen­dung, Iso­la­ti­on und Zer­mür­bung ist also nicht eine zwangs­läu­fi­ge Fol­ge für das Flücht­lings­schick­sal, son­dern vom Gesetz­ge­ber erwünscht her­bei­ge­führt. Die staat­li­che Abschre­ckungs­po­li­tik bil­det bis heu­te ein Netz aus Bevor­mun­dung, Ent­wür­di­gung und Kon­trol­le. Flücht­lin­ge wer­den in pau­scha­ler Wei­se dis­kre­di­tiert und oft über Jah­re als Men­schen mit nie­de­ren Rech­ten kennt­lich gemacht und aus­ge­grenzt. Die­se Geset­ze schaf­fen dann Fak­ten, die ihrer­seits das zugrun­de­lie­gen­de Bild von Flücht­lin­gen reproduzieren.

So war es auch in Rostock-Lichtenhagen…

Ja, die Bil­der von Unrat vor der Flücht­lings­un­ter­brin­gung waren ja nicht von den Flücht­lin­gen ver­schul­det, son­dern der ent­stand, weil sie kei­ne Unter­kunft beka­men. Die cam­pier­ten da seit Wochen und nichts tat sich. Die­se Poli­tik der Aus­gren­zung, Stig­ma­ti­sie­rung und Min­der­be­wer­tung von Flücht­lin­gen macht auf die­se Wei­se dann aus ihnen einen sozia­len Geg­ner, einen Feind und einen Recht­lo­sen, lan­ge bevor Gewalt­tä­ter und rech­te Schlä­ger­trupps ihren dump­fen Hass an ihnen ausüben.

Wel­che Bedeu­tung hat­te die­ser ein­schnei­den­de Vor­fall für die Arbeit von PRO ASYL?

Wir haben PRO ASYL 1986 ja in der ers­ten Hoch­pha­se der ver­ba­len Anschlä­ge auf das Grund­recht auf Asyl gegrün­det. Wir woll­ten der Ein­stim­mung der deut­schen Bevöl­ke­rung durch rech­te Poli­tik und rech­te Medi­en etwas ent­ge­gen­set­zen und durch Auf­klä­rung und Kam­pa­gnen deut­lich machen: Flücht­lin­ge sind gefähr­det – und nicht gefähr­lich. Nach Ros­tock-Lich­ten­ha­gen sind wir viel offen­si­ver gewor­den. Wir haben die Rechts­be­ra­tung auf­ge­baut, haben das Instru­ment der Peti­tio­nen immer mehr genutzt, ver­stärkt öffent­lich­keits­wirk­sa­me Kam­pa­gnen initi­iert, auf Auf­klä­rung und Doku­men­ta­ti­on gesetzt, uns in poli­ti­sche Gre­mi­en ein­ge­mischt und zustän­di­ge Poli­ti­ker ange­spro­chen. Und wir haben mit vie­len Bünd­nis­sen zusam­men­ge­ar­bei­tet, um Ras­sis­mus zurück­zu­drän­gen. Die­se Aus­ein­an­der­set­zung haben wir damals lei­der ver­lo­ren: 1993, als das Grund­recht auf Asyl qua­si abge­schafft wur­de. Wir kamen nicht gegen die­sen Sturm des Radi­ka­lis­mus an. Der Asyl­kom­pro­miss war eine direk­te Fol­ge von Ros­tock-Lich­ten­ha­gen und dien­te der Poli­tik dazu, den letz­ten Schuss auf das Asyl­grund­recht abzugeben.

Ros­tock-Lich­ten­ha­gen ist nun 30 Jah­re her. War­um spielt die Erin­ne­rung dar­an noch heu­te so eine wich­ti­ge Rolle?

Es ist drin­gend not­wen­dig, dass sich die Gesell­schaft ihres eige­nen Ras­sis­mus und der Grün­de dafür bewusst wird. Das ist lei­der bis heu­te nicht in der not­wen­di­gen Wei­se gesche­hen. Wir haben mit Solin­gen, NSU, Hal­le, Hanau und vie­len ande­ren schreck­li­chen Bege­ben­hei­ten eine Kon­ti­nui­tät rech­ter und ras­sis­ti­scher Gewalt – ganz zu schwei­gen von den täg­li­chen Angrif­fen und Her­ab­set­zun­gen von Flücht­lin­gen. Aus Ros­tock-Lich­ten­ha­gen kön­nen wir ler­nen: Struk­tu­rel­le und insti­tu­tio­nel­le Ungleich­hei­ten ver­let­zen nicht nur die Men­schen­wür­de und die Men­schen­rech­te der betrof­fe­nen Flücht­lin­ge, son­dern sie sind auch Nähr­bo­den für Frem­den­feind­lich­keit und rechts­extre­me Gewalt. Denn staat­li­cher und all­täg­li­cher Ras­sis­mus bedin­gen einander.

»Ras­sis­mus kommt aus der Mit­te der Gesell­schaft und aus dem Geist von Gesetzen.«

Hei­ko Kauffmann

Was ist jetzt drin­gend notwendig?

Nötig ist eine offen­si­ve und glaub­wür­di­ge Aus­ein­an­der­set­zung mit Rechts­extre­mis­mus und Ras­sis­mus, die sich nicht auf das indi­vi­du­el­le Ver­hal­ten ver­engt, son­dern nach den staat­li­chen Antei­len fragt, sprich: Nach insti­tu­tio­nel­len, struk­tu­rel­len und gesetz­li­chen Aus­gren­zun­gen und Dis­kri­mi­nie­run­gen von Flücht­lin­gen. Das ist bis heu­te lei­der nie umfas­send gesche­hen. Trotz vie­ler Anmah­nun­gen – auch von UN-Gre­mi­en – haben alle Innen­mi­nis­ter von Otto Schi­ly bis Horst  See­ho­fer auf die­se For­de­rung stets nur pat­zig und empört reagiert. Erin­ne­rung und Geden­ken darf aber nicht zu einem sym­bo­li­schen Ritu­al der poli­ti­schen Ent­las­tung wer­den. Kurz- und Lang­zeit­fol­gen des größ­ten Pogroms in Deutsch­land seit 1945 müs­sen inten­si­ver auf­ge­ar­bei­tet werden.

Und wer ernst­haft und glaub­haft gegen Rechts­extre­mis­mus vor­ge­hen will, muss Flücht­lin­gen und Migran­ten Rech­te geben und end­lich auf­hö­ren, sie zu Men­schen zwei­ter Klas­se zu machen. Ras­sis­mus kommt aus der Mit­te der Gesell­schaft und aus dem Geist von Geset­zen. Ich den­ke hier zum Bei­spiel an eine Ras­sis­mus­stu­die bei der Poli­zei und einer Unter­su­chung von deren Prak­ti­ken wie Racial Pro­fil­ing – das wäre ein rich­ti­ger Ansatz gewe­sen, wur­de aber vom dama­li­gen Innen­mi­nis­ter See­ho­fer zurückgewiesen.

Was for­derst du anläss­lich des Gedenk­ta­ges kon­kret von der Bun­des­re­gie­rung und dem Parlament?

Die Anker­zen­tren, Groß­la­ger und Haft­zen­tren, in denen schutz­su­chen­de Men­schen iso­liert, zer­mürbt und häu­fig ihrer Wür­de und ihrer Rech­te beraubt wer­den, gehö­ren auf­ge­löst. Das dis­kri­mi­nie­ren­de Asyl­be­wer­ber­leis­tungs­ge­setz mit den schä­bigs­ten Stan­dards zum Leben – weit unter­halb des amt­lich ermit­tel­ten Exis­tenz­mi­ni­mums – muss abge­schafft wer­den. Für beson­ders wich­tig hal­te ich die Ein­set­zung einer Enquete-Kom­mis­si­on aus Wis­sen­schaft, Poli­tik und Zivil­ge­sell­schaft, um insti­tu­tio­nel­len Ras­sis­mus in Deutsch­land zu unter­su­chen und zu über­win­den. Und wenn man über die Gren­zen der Bun­des­re­pu­blik hin­aus­schaut, muss end­lich Schluss sein mit der poli­ti­schen Inkauf­nah­me des Ster­bens im Mit­tel­meer. Hier wäre eine par­la­men­ta­risch-zivil­ge­sell­schaft­li­che Initia­ti­ve zur Grün­dung einer »Euro­päi­schen Gesell­schaft zur Ret­tung Schiffs­brü­chi­ger« sinn­voll – ana­log zur Deut­schen Gesell­schaft zur Ret­tung Schiffbrüchiger.

Der­zeit erle­ben wir in Deutsch­land gesell­schaft­lich eine auf­ge­schlos­se­ne Stim­mung gegen­über Geflüch­te­ten aus der Ukrai­ne und staat­lich den Ansatz der Inte­gra­ti­on von Anfang an mit Auf­ent­halts­per­spek­ti­ven und Zugang zu Bil­dung und Arbeit. Stimmt dich das hoffnungsvoll?

Natür­lich ist das posi­tiv. Was NGOs, Wis­sen­schaft­ler und die UN seit Jahr­zehn­ten pre­di­gen für eine gelin­gen­de Inte­gra­ti­on und für einen sozia­len Frie­den in der Gesell­schaft – das ist hier gesche­hen. Es kann also gehen. Wir sehen jetzt auch, inwie­weit in der Bevöl­ke­rung Hilfs­be­reit­schaft da ist und die Rea­li­tät des Lebens ange­nom­men wird. Wir sind fern von popu­lis­ti­schen Bewe­gun­gen gegen die Auf­nah­me von Ukrai­nern. Dass die Gesell­schaft soweit gelernt hat, ist wunderbar.

Aber hat die Poli­tik auch kon­se­quent dazu gelernt? War­um gilt die­se Will­kom­mens­kul­tur gegen­über Geflüch­te­ten aus der Ukrai­ne mit ukrai­ni­scher Staats­an­ge­hö­rig­keit nicht in glei­cher Wei­se für Peo­p­le of Color, die aus der Ukrai­ne flie­hen muss­ten, oder für Stu­den­ten aus Tsche­tsche­ni­en, die genau den­sel­ben Bedro­hun­gen und den­sel­ben Bom­ben aus­ge­setzt waren? Deutsch­lands Umgang mit Flücht­lin­gen ist ein Spie­gel­bild des gesamt­ge­sell­schaft­lich trans­por­tier­ten und akzep­tier­ten Ras­sis­mus. Und nicht nur in Deutsch­land. Der schlimms­te Ras­sis­mus der Euro­päi­schen Uni­on ist, dass es nach 25 Jah­ren noch immer nicht gelun­gen ist, das Ster­ben auf dem Mit­tel­meer zu been­den. Die Kapa­zi­tä­ten und das Know-how, um dem Ster­ben ein Ende zu set­zen, sind da. Aber es wird Ster­ben gelas­sen. Eines Tages wer­den wir von unse­ren Enkeln und Uren­keln gefragt wer­den: Was habt ihr, was hat die Gesell­schaft und die Poli­tik dage­gen getan?

Hei­ko Kauff­mann war 1986 Mit­grün­der der Bun­des­ar­beits­ge­mein­schaft PRO ASYL, von 1994 bis 2002 Spre­cher von PRO ASYL und bis 2012 Vor­stands­mit­glied. Zuvor war er Inlands­re­fe­rent beim Kin­der­hilfs­werk terre des hom­mes und im Bun­des­vor­stand von Amnes­ty International.

(fw)