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Ein Symbolbild für Abschottung und Grenzschließungen. Foto: Unsplash

Die Zahl der nach Deutschland Geflüchteten ist vergleichsweise hoch und schon wird eine Asyldebatte losgetreten, die den Geflüchteten das Recht auf Schutz abspricht. CDU / CSU rufen nach Grenzschließungen, Stopp von Aufnahmen, nach mehr Abschiebungen. Der Faktencheck zeigt: Die Schutzquote ist hoch und das vermeintliche Abschiebungsdefizit komplex.

Ja, es kom­men aktu­ell vie­le schutz­su­chen­de Men­schen nach Deutsch­land. Nein, das ist kein Grund zur Panik. Es ist ins­be­son­de­re kein Grund, um Grenz­schlie­ßun­gen, Abschot­tung und »kon­se­quen­te Rück­füh­run­gen« zu for­dern, wie die Uni­on um Fried­rich Merz es aktu­ell tut – denn so wird Men­schen auf der Flucht der Weg in die Sicher­heit ver­sperrt. Im letz­ten Jahr hat Deutsch­land 1,2 Mil­lio­nen geflüch­te­te Men­schen auf­ge­nom­men. Rund eine Mil­li­on flo­hen vor den rus­si­schen Bom­ben aus der Ukrai­ne. 200.000 Men­schen stell­ten einen Asyl­an­trag – die Hälf­te von ihnen kam aus Syri­en und Afgha­ni­stan, wo die Regime bekann­ter­ma­ßen schwe­re Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen ver­üben. In den ers­ten drei Mona­ten 2023 haben rund 81.000 Men­schen erst­ma­lig Asyl in Deutsch­land beantragt.

Das sei schon mal vor­an­ge­stellt: Die meis­ten aktu­ell nach Deutsch­land flie­hen­den Men­schen haben ein Recht auf Schutz, die Schutz­quo­te liegt auf dem Rekord­hoch von 70 %. Trotz­dem ist unter dem Deck­man­tel angeb­lich »ille­ga­ler Ein­rei­sen« eine Debat­te ent­brannt, wie ihre Flucht ver­hin­dert wer­den kann. Auch das angeb­li­che Voll­zugs­de­fi­zit bei Abschie­bun­gen hat poli­tisch ein­mal mehr Hoch­kon­junk­tur. Anlass genug, um einen genau­en Blick auf die Zah­len und die Begrif­fe der aktu­el­len Debat­te zu werfen.

70 %

Schutz­quo­te liegt auf dem Rekordhoch

Hoher Schutzbedarf zeigt sich in den Schutzquoten

Die Hälf­te der Asyl­su­chen­den in Deutsch­land kommt allein aus den bei­den Staa­ten Syri­en und Afgha­ni­stan. In den Top 10 der Asyl-Her­kunfts­län­der sind mit der Tür­kei, dem Irak, dem Iran, oder Soma­lia und Eri­trea wei­te­re Län­der mit auto­ri­tä­ren Regi­men zu fin­den bzw. in denen bewaff­ne­te Aus­ein­an­der­set­zun­gen herr­schen. Dem­zu­fol­ge lag die Schutz­quo­te trotz wei­ter­hin restrik­ti­ver Ent­schei­dungs­pra­xis beim BAMF im ver­gan­ge­nen Jahr bei 72 %, im lau­fen­den Jahr ist sie mit 71 %nahe­zu unver­än­dert. Fast drei von vier Asyl­su­chen­den erhält also Schutz vom BAMF. Dar­in nicht ein­ge­rech­net sind die vie­len Tau­send Men­schen, die vom BAMF abge­lehnt und erst spä­ter von den Gerich­ten als schutz­be­rech­tigt aner­kannt wer­den. Mehr als ein Drit­tel der von Gerich­ten inhalt­lich über­prüf­ten BAMF-Beschei­de erwies sich 2022 als falsch und wur­de aufgehoben.

»Eindämmung illegaler Migration« heißt, Schutzbedürftigen den Schutz zu verweigern

Die in den Debat­ten um die stei­gen­den Flücht­lings­zah­len immer wie­der gefor­der­te Begren­zung der »ille­ga­len Migra­ti­on« wür­de also bedeu­ten, Men­schen, die vor Ver­fol­gung, gra­vie­ren­den Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen oder Krie­gen flie­hen, den Zugang zum Asyl­ver­fah­ren und in den aller­meis­ten Fäl­len zum benö­tig­ten Schutz zu ver­wei­gern. Statt über die Schutz­be­dürf­tig­keit der Men­schen zu spre­chen, wird über den Schutz der Gren­zen dis­ku­tiert. Die Kriegs­flücht­lin­ge aus der Ukrai­ne haben das »Glück«, kein Visum für die Ein­rei­se zu benö­ti­gen, sonst wären auch sie Teil der Debat­te um die Ein­däm­mung der »ille­ga­len Migra­ti­on«. Eine For­de­rung, auf die glück­li­cher­wei­se aktu­ell nie­mand käme.

Mit den viel zitie­ren »ille­ga­len Ein­rei­sen« ver­hält es sich auch nicht so ein­fach, wie häu­fig sug­ge­riert. Zwar ist die Ein­rei­se von Men­schen aus Syri­en oder Afgha­ni­stan nicht legal, wenn sie kein Visum haben. Aller­dings gibt es kein Visum für Schutz­su­chen­de. Die Men­schen haben also gar kei­ne ande­re Wahl, als in der Regel nicht-legal ein­zu­rei­sen, wenn sie in Deutsch­land Schutz suchen möch­ten. Aus die­sem Grund stellt die Gen­fer Flücht­lings­kon­ven­ti­on die »ille­ga­le Ein­rei­se« unter Straf­frei­heit, da ansons­ten die aller­meis­ten Men­schen ihr völ­ker­recht­lich ver­brief­tes Recht auf Asyl gar nicht wahr­neh­men könnten.

Unter dem Deck­man­tel der For­de­rung »ille­ga­le Migra­ti­on« zu ver­hin­dern, steckt also viel­fach der Ruf, Men­schen auf der Flucht zu stop­pen. In der Pra­xis bedeu­tet dies an vie­len Außen­gren­zen der EU bru­ta­le und ille­ga­le Push­backs, die das Leben der Men­schen gefähr­den. Es ist absurd: Wenn sie hier sind, bekom­men sie Schutz. Aber der Weg zum Schutz wird ihnen mög­lichst schwer gemacht.

Mit den viel zitie­ren »ille­ga­len Ein­rei­sen« ver­hält es sich auch nicht so ein­fach, wie häu­fig suggeriert.

Betrach­tet man die Zurück­wei­sungs­zah­len des letz­ten Jah­res und die Her­kunfts­län­der der Betrof­fe­nen, muss man jedoch befürch­ten, dass es nicht nur an den EU-Außen­gren­zen zu ille­ga­len Zurück­wei­sun­gen kommt, son­dern dass die­se auch an den deut­schen Gren­zen längst an der Tages­ord­nung sind. Mit über 25.000 Zurück­wei­sun­gen hat sich die Zahl der Zurück­wei­sun­gen im Ver­gleich zum Vor­jahr nahe­zu ver­dop­pelt – unter ihnen über 5.000 afgha­ni­sche, 3.500 syri­sche und über 2.000 tür­ki­sche Staats­an­ge­hö­ri­ge, also die Haupt­her­kunfts­län­der der Asylsuchenden.

Abschiebungsdebatte wird bewusst hochgekocht

Eine wei­te­re reflex­haf­te For­de­rung, wenn die Asyl­an­trags­zah­len stei­gen, ist die For­de­rung nach mehr Abschie­bun­gen. Die Zah­len, die dabei in der Debat­te ange­führt wer­den, sind aber deut­lich kom­ple­xer als es vie­le Politiker*innen ger­ne hät­ten. So redet auch CDU-Chef Fried­rich Merz aktu­ell ger­ne von 300.000 aus­rei­se­pflich­ti­gen Men­schen, die sei­ner Ansicht nach wohl alle direkt abge­scho­ben wer­den sol­len. Dabei igno­riert Merz geflis­sent­lich, dass es bei vie­len die­ser Men­schen gute Grün­de gibt, war­um sie wei­ter­hin in Deutsch­land sind und dass vie­le von ihnen gar nicht abge­scho­ben wer­den kön­nen. Die Stim­mung wird mit den Zah­len trotz­dem hochgekocht.

Rich­ti­ger wäre es über 248.000 Men­schen mit Dul­dung zu spre­chen, weil man bei die­sen davon aus­ge­hen kann, dass sie tat­säch­lich noch in Deutsch­land leben. Wer die übri­gen 56.000 Men­schen ohne Dul­dung sein sol­len, bleibt eines der Mys­te­ri­en des Aus­län­der­zen­tral­re­gis­ters (AZR). Beim aller­größ­ten Teil von ihnen ist schlicht davon aus­zu­ge­hen, dass sie sich gar nicht mehr in Deutsch­land auf­hal­ten, Stich­wort: nicht erfass­te Aus­rei­sen. Selbst nach Anga­ben der Bun­des­re­gie­rung ist die Zahl der Aus­rei­se­pflich­ti­gen höchst unge­nau und die Daten des AZR teil­wei­se fehlerhaft.

Unter den Gedul­de­ten fin­den sich 32.000 Men­schen aus dem Irak, 21.000 aus Afgha­ni­stan, 16.000 aus Nige­ria, 14.000 aus der Rus­si­schen Föde­ra­ti­on und 11.000 aus dem Iran. Nach Afgha­ni­stan, Russ­land und in den Iran fin­den aktu­ell aus guten Grün­den gar kei­ne Abschie­bun­gen statt! Allein der Blick auf die Top 5 der Her­kunfts­län­der der Gedul­de­ten und auf die Grö­ßen­ord­nung der Zah­len belegt also die Unred­lich­keit der Debat­ten um Aus­rei­se­pflich­ti­ge und zu weni­ge Abschie­bun­gen. Eben­so die Tat­sa­che, dass 136.000 Gedul­de­te – also mehr als die Hälf­te – bereits län­ger als 5 Jah­re in Deutsch­land leben. Abseh­bar wer­den vie­le von ihnen, über das Chan­cen-Auf­ent­halts­recht ihren Auf­ent­halt ver­fes­ti­gen können.

Laut Aus­län­der­zen­tral­re­gis­ter (AZR) wer­den zudem bei­spiels­wei­se 25.000 Dul­dun­gen wegen »fami­liä­rer Bin­dun­gen«, 6.000 wegen einer »beruf­li­chen Aus­bil­dung« oder 3.000 wegen schwer­wie­gen­der »medi­zi­ni­scher Grün­de« aus­ge­wie­sen. Die meis­ten Dul­dun­gen wer­den laut AZR wegen »feh­len­der Rei­se­do­ku­men­te« erteilt, obwohl die feh­len­den Papie­re häu­fig gar nicht ursäch­lich für die Nicht-Abschie­bung sind: So sind bspw. Tau­sen­de Men­schen aus Afgha­ni­stan »offi­zi­ell« wegen Pass­lo­sig­keit gedul­det; abge­scho­ben wer­den dür­fen sie aber wegen des Abschie­bungs­stopps nicht.

Übri­gens: Mit 168.000 stel­len Men­schen mit abge­lehn­tem Asyl­an­trag nur etwas mehr als die Hälf­te aller Aus­rei­se­pflich­ti­gen. Auch hier ist die Debat­te in der Öffent­lich­keit also deut­lich verkürzt.

Zahlenfixierte Abschiebungsdebatte ist irreführend

13.000 Men­schen wur­den letz­tes Jahr aus Deutsch­land abge­scho­ben, weni­ger als in den Vor-Coro­na-Jah­ren. Immer wie­der wird die­se Zahl in Zusam­men­hang mit über 300.000 Aus­rei­se­pflich­ti­gen oder der Zahl der abge­lehn­ten Asyl­be­wer­ber gebracht und viel zu weni­ge Abschie­bun­gen beklagt.  Zwi­schen die­sen 13.000 Abschie­bun­gen und rund 100.000 nega­ti­ven Asyl-Ent­schei­dun­gen 2022 besteht jedoch über­haupt kein Wider­spruch, da der Groß­teil der abge­lehn­ten Asyl­su­chen­den ins Kla­ge­ver­fah­ren geht und gar nicht aus­rei­se­pflich­tig wird. Nicht weni­ge von ihnen kla­gen zu Recht und mit Erfolg. Die meis­ten abge­lehn­ten Asylbewerber*innen wer­den – falls die Kla­ge erfolg­los bleibt – also erst Jah­re spä­ter ausreisepflichtig.

Vor allem aber sind im ver­gan­ge­nen Jahr min­des­tens 27.000 Men­schen »frei­wil­lig« aus­ge­reist, also mehr als dop­pelt so vie­le, wie abge­scho­ben wur­den. Mut­maß­lich ist die­se Zahl sogar noch wesent­lich höher, da »frei­wil­li­ge Aus­rei­sen«  im Aus­län­der­zen­tral­re­gis­ter (AZR) nur man­gel­haft erfasst wer­den und vie­le Men­schen aus­rei­sen, ohne sich bei der Aus­län­der­be­hör­de abzumelden.

Dass sich der öffent­li­che Dis­kurs trotz­dem fast aus­schließ­lich um ver­meint­lich zu weni­ge Abschie­bun­gen dreht, trägt also nicht zu einer Ver­sach­li­chung bei, weil eine ver­meint­lich nied­ri­ge Abschie­bungs­zahl kei­ner­lei Beleg für (zu) weni­ge Aus­rei­sen ist. Sol­che Debat­ten sind im bes­ten Fall irreführend.

Arbeitsverbote und Restriktionen helfen weder den Menschen, den Behörden, noch der Wirtschaft

In der über­wie­gen­den Behör­den­pra­xis steht bei Gedul­de­ten jedoch vor allem deren Aus­rei­se­pflicht im Vor­der­grund. Anstatt die vor­han­de­nen huma­ni­tä­ren Auf­ent­halts­rech­te groß­zü­gig aus­zu­le­gen und zu gewäh­ren, wer­den die Men­schen viel zu häu­fig in Arbeits­ver­bo­te gedrängt und zum lang­jäh­ri­gen Leben in Sam­mel­un­ter­künf­ten ver­pflich­tet. Sol­che oft­mals über Jah­re dau­ern­den Zustän­de sind nicht nur für die Betrof­fe­nen unhalt­bar, son­dern mit­ur­säch­lich für Unter­brin­gungs­pro­ble­me in man­chen Kom­mu­nen und für die Über­las­tung in den Ausländerbehörden.

Wenn es aber unzäh­li­ge Men­schen mit sehr guten Dul­dungs­grün­den gibt, wenn Her­kunfts­län­der bei der Wie­der­auf­nah­me ihrer Staats­an­ge­hö­ri­gen nicht oder wenig »koope­rie­ren«, wenn Abschie­bun­gen in den Irak oder nach Afgha­ni­stan aus guten Grün­den nicht oder nur in gerin­gem Umfang mög­lich sind, hel­fen wei­te­re Debat­ten über »Migra­ti­ons­ab­kom­men« und »mehr Abschie­bun­gen« kurz­fris­tig nie­man­dem wei­ter. Nicht den Men­schen, nicht den Kom­mu­nen und auch nicht der Wirt­schaft, die Arbeits­kräf­te drin­gend benö­tigt. Unab­hän­gig davon wäre es völ­lig uto­pisch, fast 250.000 Aus­rei­se­pflich­ti­ge abzu­schie­ben. Sol­che Debat­ten sol­len ver­meint­lich ein­fa­che Lösun­gen prä­sen­tie­ren, die es in die­ser Form aber gar nicht gibt.

Kurz­fris­tig bleibt also zu hof­fen, dass das Chan­cen-Auf­ent­halts­recht groß­zü­gig umge­setzt wird und vie­le der lang­jäh­rig Gedul­de­ten davon pro­fi­tie­ren kön­nen. Ers­te Erfah­run­gen mit dem neu­en Recht las­sen aber Befürch­tun­gen wahr wer­den, dass vie­le Aus­län­der­be­hör­den sehr krea­tiv dar­in sind, in der Aus­le­gung des Chan­cen-Auf­ent­halts für die Men­schen neue Aus­schluss­grün­de zu kre­ieren. Die­se restrik­ti­ve Pra­xis der ver­gan­ge­nen Jah­re fort­zu­füh­ren und das nicht ein­ge­lös­te »Ver­spre­chen von Abschie­bung« mit unbe­ding­tem Wil­len auf­recht­erhal­ten zu wol­len, hilft den Men­schen aber nicht, son­dern zemen­tiert nur deren ent­rech­te­te Situa­ti­on sowie die teils haus­ge­mach­ten Pro­ble­me in den Kom­mu­nen und Ausländerbehörden.

 (dmo)