01.04.2022
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Geflüchtete aus der Ukraine können sich das Land, in dem sie vorübergehenden Schutz erhalten, selbst aussuchen. Flüchtlingen aus anderen Herkunftsländern wird diese Möglichkeit jedoch verwehrt. Foto: picture alliance / ANP | Ramon van Flymen

Im Zuge der Flucht aus der Ukraine geht die EU in der europäischen Flüchtlingspolitik aktuell neue Wege, die vor wenigen Wochen noch für viele Politiker*innen undenkbar waren. Die freie Wahl des Schutzlandes wird von Menschenrechtsorganisationen schon lange gefordert, sie muss nun konsequent für alle gelten.

Seit mehr als vier Wochen herrscht Krieg in der Ukrai­ne – und die euro­päi­sche Flücht­lings­po­li­tik steht Kopf. Wäh­rend grö­ße­re Ent­schei­dun­gen im Bereich Asyl und Migra­ti­on nach 2015 in der Euro­päi­schen Uni­on jah­re­lang nicht mög­lich waren,  einig­ten sich die zustän­di­gen Innenminister*innen am 3. März 2022 ein­stim­mig (!) auf die erst­ma­li­ge Anwen­dung der Richt­li­nie über den vor­über­ge­hen­den Schutz, auch bekannt als Mas­sen­zu­stroms­richt­li­nie (mehr dazu hier).

Freie Wahl des Schutzlandes für Geflüchtete aus der Ukraine

Die Anwen­dung der Richt­li­nie führt zu schnel­lem Schutz für Men­schen, die aus der Ukrai­ne geflo­hen sind  (zur genau­en Anwen­dung und Pra­xis­hin­wei­sen sie­he hier). Der Rats­be­schluss regelt dar­über hin­aus aber auch eine neue Pra­xis, näm­lich dass Ukrainer*innen sich das Land, in dem sie vor­über­ge­hen­den Schutz erhal­ten, selbst aus­su­chen können.

Im Erwä­gungs­grund 16 des Rats­be­schlus­ses steht hierzu:

»Dar­über hin­aus haben ukrai­ni­sche Staats­an­ge­hö­ri­ge als von der Visum­pflicht befrei­te Rei­sen­de das Recht, sich inner­halb der Uni­on frei zu bewe­gen, nach­dem ihnen die Ein­rei­se in deren Gebiet für einen Zeit­raum von 90 Tagen gestat­tet wur­de. Auf die­ser Grund­la­ge kön­nen sie den Mit­glied­staat wäh­len, in dem sie die mit dem vor­über­ge­hen­den Schutz ver­bun­de­nen Rech­te in Anspruch neh­men wol­len, und ihrer Fami­lie und ihren Freun­den in den der­zeit in der Uni­on bestehen­den beacht­li­chen Dia­spo­ra-Netz­wer­ken nach­zie­hen. Dies wird in der Pra­xis eine aus­ge­wo­ge­ne Ver­tei­lung der Belas­tun­gen zwi­schen den Mit­glied­staa­ten erleich­tern und so den Druck auf die natio­na­len Auf­nah­me­sys­te­me verringern.«

Beim Son­der­tref­fen der euro­päi­schen Innenminister*innen am 28. März prä­sen­tier­te die Kom­mis­si­on gemein­sam mit der fran­zö­si­schen Rats­prä­si­dent­schaft einen 10-Punk­te-Plan für eine stär­ke­re Koor­di­nie­rung, um vor dem Krieg in der Ukrai­ne flie­hen­de Men­schen will­kom­men zu hei­ßen. Um die aktu­ell beson­ders betrof­fe­nen  Mit­glied­staa­ten mit Gren­ze zur Ukrai­ne zu unter­stüt­zen,  wird  über eine soge­nann­te Soli­da­ri­täts­platt­form der Bedarf an Unter­brin­gungs­plät­zen kom­mu­ni­ziert. Weni­ger betrof­fe­nen Mit­glied­staa­ten mel­den ihre Ange­bo­te. Letzt­lich beruht das Sys­tem aber wei­ter auf der Grund­an­nah­me, dass die flie­hen­den Men­schen sich ihren Schutz­ort selbst aus­su­chen kön­nen – sie nur über Infor­ma­tio­nen über Unter­brin­gungs­mög­lich­kei­ten oder Trans­port­we­ge hier­bei unter­stützt werden.

Kontrast: Zwangssystem der Dublin-Verordnung

Dies steht im schar­fen Kon­trast zu den sons­ti­gen Rege­lun­gen der euro­päi­schen Flücht­lings­po­li­tik. Denn laut der soge­nann­ten Dub­lin-III-Ver­ord­nung sind Per­so­nen, die einen Asyl­an­trag stel­len, ver­pflich­tet, dies in dem Mit­glied­staat zu tun, in den sie als ers­tes ein­rei­sen. Die aller­meis­ten Men­schen auf der Flucht kön­nen sich also nicht aus­su­chen, ob sie in Frank­reich, Schwe­den oder Deutsch­land einen Asyl­an­trag stel­len und spä­ter leben möchten.

Sie müs­sen den Antrag statt­des­sen direkt nach Ein­rei­se stel­len – und da es kaum lega­le Ein­rei­se­mög­lich­kei­ten und Visa für Flie­hen­de gibt, müs­sen sie dies meist in einem Mit­glied­staat an einer EU-Außen­gren­ze wie Grie­chen­land oder Ita­li­en tun, den sie zum Bei­spiel per Boot errei­chen können.

Das führt nicht nur zu einem unfai­ren  Ungleich­ge­wicht an Ver­ant­wor­tung  zwi­schen den Mit­glied­staa­ten, son­dern auch zu viel Leid und Frus­tra­ti­on bei den Men­schen. Denn zum einen sind die Bedin­gun­gen gera­de in den Mit­glied­staa­ten mit Außen­gren­ze sehr schlecht für Asyl­su­chen­de und Flücht­lin­ge (sie­he zu den Bedin­gun­gen in Grie­chen­land hier), zum ande­ren dro­hen bei ent­spre­chen­der Wei­ter­flucht inner­halb Euro­pas Rück­füh­run­gen in den zustän­di­gen Mitgliedstaat.

Deutsch­land hat 2021 zum Bei­spiel 2.656 Men­schen ent­spre­chend der Dub­lin-III-Ver­ord­nung in ande­re EU-Mit­glied­staa­ten gebracht. Das ist sogar nur ein Bruch­teil der eigent­lich zuge­stimm­ten Über­stel­lun­gen, denn im letz­ten Jahr stimm­ten die ande­ren Mit­glied­staa­ten ins­ge­samt 18.429 Über­stel­lun­gen aus Deutsch­land zu. Nach Deutsch­land wur­den 2021 4.274 Men­schen überstellt.

Mit Aus­nah­me von Fami­li­en­zu­sam­men­füh­run­gen mit Ehepartner*innen oder Kin­dern wer­den ande­re fami­liä­re Ver­bin­dun­gen, Freund­schaf­ten, Kon­tak­te oder ande­re Anknüp­fungs­punk­te – wie zum Bei­spiel Sprach­kennt­nis­se, Aus­bil­dungs- und Arbeits­chan­cen – über­haupt nicht berücksichtigt.

Zivilgesellschaftliche Forderung seit 2013: Free Choice!

Das Dub­lin-Sys­tem steht auf­grund die­ser Pro­ble­me schon lan­ge in der Kri­tik. Anstatt schutz­be­dürf­ti­gen Men­schen schnell in Euro­pa Schutz zu bie­ten, ver­zö­gert es bei Wei­ter­rei­se den Zugang zu Schutz oft über Monate.

Schon im März 2013 hat PRO ASYL des­we­gen gemein­sam mit  AWO – Arbei­ter­wohl­fahrt Bun­des­ver­band e.V., Der Pari­tä­ti­sche Wohl­fahrts­ver­band – Gesamt­ver­band e.V., Deut­scher Anwalt­ver­ein, Dia­ko­nie Deutsch­land, Jesui­ten-Flücht­lings­dienst und Neue Rich­ter­ver­ei­ni­gung e.V. in einem Memo­ran­dum zur Flücht­lings­auf­nah­me in der Euro­päi­schen Uni­on fol­gen­des gefordert:

»Um ein gerech­tes und soli­da­ri­sches Sys­tem der Auf­tei­lung der Ver­ant­wort­lich­keit für Flücht­lin­ge in der Euro­päi­schen Uni­on zu eta­blie­ren, das gleich­zei­tig die Anlie­gen der Flücht­lin­ge berück­sich­tigt, ist ein Sys­tem­wech­sel erfor­der­lich. Das Prin­zip der »frei­en Wahl des Mit­glied­staa­tes« für Asyl­su­chen­de ver­bun­den mit einem euro­päi­schen Aus­gleich­fonds, der auf soli­da­ri­schen und gerech­ten Grund­sät­zen beruht, bie­tet eine Lösung, mit der die auf­ge­zeig­ten Struk­tur­feh­ler abge­baut wer­den kön­nen.« (S. 7 des Memorandums)

Die­se For­de­run­gen wur­den auch in die ver­schie­de­nen Ver­su­che von Reform­pro­zes­sen des »Gemein­sa­men Euro­päi­schen Asyl­sys­tems« ein­ge­bracht. Doch bis­lang beharr­ten die Euro­päi­sche Kom­mis­si­on und die meis­ten Mit­glied­staa­ten dar­auf, dass ent­we­der an dem Erst­ein­rei­se­kri­te­ri­um fest­ge­hal­ten wer­den soll oder dass es fes­te Ver­tei­lungs­quo­ten geben sollte.

So man­che bis­he­ri­gen Glau­bens­grund­sät­ze vie­ler euro­päi­scher Regie­run­gen in der Flücht­lings­po­li­tik schei­nen mit Blick auf die Flucht aus der Ukrai­ne über Bord gewor­fen zu sein.

Ebenso wichtig: Freizügigkeit nach Schutzstatus

Doch die freie Wahl des Mit­glied­staats, in dem Geflüch­te­te Schutz bekom­men wol­len, ist nur der ers­te wich­ti­ge Schritt. Die nächs­te ent­schei­den­de Fra­ge ist, inwie­weit Frei­zü­gig­keit nach der Aner­ken­nung gewähr­leis­tet ist.

Unionsbürger*innen kön­nen in jedem Land der Euro­päi­schen Uni­on woh­nen und arbei­ten so lan­ge sie wol­len. Das ist durch die Nie­der­las­sungs­frei­heit und die Arbeit­neh­mer­frei­zü­gig­keit, die zu den  Grund­frei­hei­ten der Euro­päi­schen Uni­on zäh­len, sicher­ge­stellt. Doch für Men­schen, die im Asyl­ver­fah­ren einen Schutz­sta­tus zuge­spro­chen bekom­men, gilt dies nicht. Mit dem Auf­ent­halts­ti­tel, den sie bekom­men, kön­nen sie zwar für drei Mona­te inner­halb von sechs Mona­ten im Schen­gen-Raum rei­sen, sie kön­nen sich aber nicht dar­über hin­aus nie­der­las­sen und arbeiten.

Erst nach fünf­jäh­ri­gem recht­mä­ßi­gem Auf­ent­halt in einem EU-Mit­glied­staat und wenn wei­te­re Vor­aus­set­zun­gen erfüllt sind,  kann eine Erlaub­nis zum Dau­er­auf­ent­halt in der EU erteilt wer­den, über den man auch eine Auf­ent­halts­er­laub­nis in einem ande­ren Mit­glied­staat bekom­men kann (sie­he hier­zu die Bro­schü­re vom Pari­tä­ti­schen Gesamt­ver­band). Wenn eine Per­son ent­ge­gen die­ser Rege­lun­gen doch ver­sucht, sich in einem ande­ren Mit­glied­staat nie­der­zu­las­sen, kann es zu inner­eu­ro­päi­schen Abschie­bun­gen kom­men. Damit ist es für das spä­te­re Leben in der Euro­päi­schen Uni­on ent­schei­dend, in wel­chem Mit­glied­staat man sei­nen Asyl­an­trag stel­len muss.

Vorübergehender Schutz: Keine innereuropäischen Abschiebungen

Für aus der Ukrai­ne geflo­he­ne Men­schen, die den vor­über­ge­hen­den Schutz bekom­men, gel­ten zunächst ein­mal ähn­li­che Regeln. Der Rats­be­schluss hält hier­zu fest:

»Sobald ein Mit­glied­staat einen Auf­ent­halts­ti­tel nach der Richt­li­nie 2001/ 55/EG erteilt hat, hat die Per­son, die vor­über­ge­hen­den Schutz genießt, zwar das Recht, 90 Tage inner­halb eines Zeit­raums von 180 Tagen in der Uni­on zu rei­sen, soll­te aber die Rech­te, die sich aus dem vor­über­ge­hen­den Schutz erge­ben, nur in dem Mit­glied­staat gel­tend machen kön­nen, der den Auf­ent­halts­ti­tel erteilt hat. Dies soll­te einem Mit­glied­staat nicht die Mög­lich­keit neh­men zu beschlie­ßen, Per­so­nen, die nach die­sem Beschluss vor­über­ge­hen­den Schutz genie­ßen, jeder­zeit einen Auf­ent­halts­ti­tel zu ertei­len.« (Erwä­gungs­grund 16)

Aller­dings soll es laut dem Rats­be­schluss nicht zu inner­eu­ro­päi­schen Abschie­bun­gen kom­men, denn die Mit­glied­staa­ten haben sich dar­auf geeig­net,  Arti­kel 11 der Richt­li­nie über den vor­über­ge­hen­den Schutz, der Abschie­bun­gen ermög­licht, nicht anzu­wen­den (Erwä­gungs­grund 15 des Rats­be­schlus­ses). Also weni­ger Zwang, aber wei­ter­hin bei Wei­ter­rei­se kei­ne Rech­te? Wie sich dies genau gestal­ten wird, bleibt wohl abzu­war­ten, da auch die poli­ti­schen Ent­schei­dun­gen wei­ter­hin dyna­misch sind.

Aus der aktuellen Situation lernen: Das Zwangssystem Dublin endlich abschaffen!

So man­che bis­he­ri­gen Glau­bens­grund­sät­ze vie­ler euro­päi­scher Regie­run­gen in der Flücht­lings­po­li­tik schei­nen mit Blick auf die Flucht aus der Ukrai­ne – die beson­ders offen­sicht­lich macht, dass star­re Sys­te­me wie das Dub­lin-Sys­tem nicht funk­tio­nie­ren – über Bord gewor­fen zu sein.

Die Erkennt­nis, dass es vie­le Vor­tei­le brin­gen kann, wenn schutz­su­chen­de Men­schen sich ihren Schutz­ort selbst aus­su­chen kön­nen, muss nun aber ins­ge­samt in der euro­päi­schen Asyl­po­li­tik adap­tiert wer­den. Wäh­rend die gan­ze Welt auf die Ukrai­ne schaut, wird in Brüs­sel wei­ter über den »New Pact on Migra­ti­on and Asyl­um« ver­han­delt, der das bestehen­de euro­päi­sche Asyl­recht refor­mie­ren soll. Doch bis­lang sehen die dis­ku­tier­ten Vor­schlä­ge zu einer Asyl-und Migra­ti­ons­ma­nage­ment-Ver­ord­nung kei­ne grund­sätz­li­che Abkehr vom Dub­lin-Sys­tem oder schnel­le­re Frei­zü­gig­keit vor. Dass dies not­wen­dig wäre macht die aktu­el­le Situa­ti­on mehr als deut­lich – und auch, dass es tat­säch­lich mög­lich ist!

(wj)