11.04.2022
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Foto: picture alliance / EPA / Michael Buholzer

Europa zeigt dieser Tage eindrucksvoll, dass es in der Lage ist, große Fluchtbewegungen zu bewältigen. Geflüchtete aus der Ukraine kommen vielfach die ersten Tage privat unter, erhalten nach der Registrierung direkt einen Status, dürfen sich frei bewegen und arbeiten. Es stellt sich die Frage: Warum nicht immer so?

Über sie­ben Mil­lio­nen Men­schen sind laut UNHCR inner­halb der Ukrai­ne auf der Flucht vor dem Krieg, mehr als 4,5 Mil­lio­nen sind bereits in Nach­bar­staa­ten geflo­hen und rund 300.000 davon befin­den sich mitt­ler­wei­le in Deutsch­land (Stand: 08. April). Die Auf­nah­me läuft größ­ten­teils unpro­ble­ma­tisch ab: Für Flücht­lin­ge aus der Ukrai­ne gilt die Dub­lin-Ver­ord­nung, nach der Asyl­an­trä­ge im EU-Erst­ein­rei­se­staat gestellt wer­den müs­sen, nicht. Sie dür­fen sich ihr Zufluchts­land frei aus­su­chen. Gere­gelt wur­de das ist in der »Richt­li­nie über den vor­über­ge­hen­den Schutz«, die von der Euro­päi­schen Uni­on am 3. März akti­viert wur­de und auch dafür sorgt, dass ukrai­ni­sche Geflüch­te­te schnell ein Auf­ent­halts­recht erhalten.

Aufnahme von Millionen Flüchtlingen: Kein Problem für die EU

Die Auf­nah­me all die­ser Schutz­su­chen­den ist offen­sicht­lich für die Staa­ten der EU mög­lich. Unzäh­li­ge Men­schen hel­fen bei der Erst­ver­sor­gung der Geflüch­te­ten, sie dür­fen in vie­len Län­dern kos­ten­los mit öffent­li­chen Ver­kehrs­mit­teln an ihren Ziel­ort rei­sen, staat­li­che Stel­len wer­den durch vor­über­ge­hen­de oder sogar dau­er­haf­te pri­va­te Auf­nah­me von Ukrainer*innen ent­las­tet und aller­orts wer­den in Win­des­ei­le Anlauf­stel­len und Unter­brin­gungs­mög­lich­kei­ten hoch­ge­zo­gen. Dazu kommt der erwähn­te EU-Rats­be­schluss, der den Flücht­lin­gen einen Auf­ent­halts­sta­tus gibt, Sozi­al­leis­tun­gen garan­tiert und ihnen ermög­licht, eine Arbeit aufzunehmen.

Die­ses Zusam­men­spiel ist ein groß­ar­ti­ges Bei­spiel dafür, wie Flücht­lings­auf­nah­me funk­tio­nie­ren kann!

Die­ses Zusam­men­spiel ist ein groß­ar­ti­ges Bei­spiel dafür, wie Flücht­lings­auf­nah­me funk­tio­nie­ren kann. Men­schen, die gera­de vor einem schreck­li­chen Krieg flie­hen, oft in gro­ßer Sor­ge um Ange­hö­ri­ge sind und vor einer unge­wis­sen Zukunft ste­hen, müs­sen kei­nen gro­ßen büro­kra­ti­schen Appa­rat durch­lau­fen, sind nicht stän­dig in Unsi­cher­heit und Angst über ihr Blei­be­recht und kön­nen sofort damit begin­nen, hier in Deutsch­land Fuß zu fassen.

Es geht auch ohne Bürokratie und Restriktionen!

Vie­len ande­ren Geflüch­te­ten, die eben­falls aus Kriegs- und Kri­sen­ge­bie­ten wie Syri­en, Afgha­ni­stan und dem Irak stam­men und eben­so schreck­li­che Din­ge erlebt haben, ist das lei­der nicht ver­gönnt. Sie dür­fen die ers­te Zeit in Deutsch­land nicht aus der Erst­auf­nah­me­ein­rich­tung aus­zie­hen, erhal­ten je nach Natio­na­li­tät kei­nen Zugang zu Inte­gra­ti­ons­kur­sen, wer­den mit Wohn­sitz­auf­la­gen und Arbeits­ver­bo­ten gegän­gelt. Vie­le von ihnen müs­sen lan­ge auf Ent­schei­dun­gen über ihren Asyl­an­trag war­ten oder müs­sen sogar eine Abschie­bung fürchten.

Und sie erhal­ten Leis­tun­gen nach dem Asyl­be­wer­ber­leis­tungs­ge­setz, also noch unter dem Niveau von Hartz IV. Für Ukrainer*innen wur­de das ver­gan­ge­ne Woche beim Bund-Län­der-Gip­fel geän­dert: Sie kön­nen ab Juni regu­lä­re Sozi­al­leis­tun­gen nach dem SGB II oder XII bezie­hen. Das ist grund­sätz­lich sehr begrü­ßens­wert, aber auch hier stellt sich die Fra­ge: War­um nicht für alle? Wes­halb gel­ten für nicht-ukrai­ni­sche Geflüch­te­te Restrik­tio­nen, wie­so erhal­ten sie nicht die glei­chen Leis­tun­gen? Die aktu­el­len Erfah­run­gen zei­gen ja ein­drück­lich, dass eine men­schen­wür­di­ge Auf­nah­me nicht nur funk­tio­niert, son­dern auch für alle Sei­ten Vor­tei­le hat.

Auch im Fall Ukraine: Selektive Solidarität

Mit einer trau­ri­gen Ein­schrän­kung: Dritt­staats­an­ge­hö­ri­ge, die eben­so vor dem Ukrai­ne-Krieg flie­hen, ste­hen oft vor den alt­be­kann­ten Pro­ble­men – vor allem, wenn sie eine ande­re Haut­far­be haben oder zu den Roma gehö­ren. Allein in Polen erhal­ten zehn­tau­sen­de von ihnen aus ras­sis­ti­schen Beweg­grün­den nicht die glei­che Unter­stüt­zung wie ande­re Flücht­lin­ge aus der Ukrai­ne. Laut Berich­ten wer­den unter ande­rem inter­na­tio­na­le Stu­die­ren­de in Polen in Haft­zen­tren inter­niert – ähn­lich wie die Geflüch­te­ten, die über Bela­rus Schutz in Euro­pa fin­den woll­ten. Auch in der Ukrai­ne selbst gibt es von der EU finan­zier­te Haft­zen­tren für Flücht­lin­ge aus ande­ren Staa­ten, die zum Teil wei­ter­hin betrie­ben wer­den und in denen aus der EU abge­scho­be­ne Men­schen um ihr Leben bangen.

Es ist Krieg und die Fluchtwege in die EU sind offen 

Aber trotz­dem fällt noch eine Sache auf: Man fin­det man nur weni­ge Mel­dun­gen über erfro­re­ne oder ertrun­ke­ne Men­schen an den EU-Gren­zen. Zum Glück gibt es kei­ne bru­ta­len Push­backs oder Fami­li­en, die im Wald cam­pie­ren müs­sen und dort ver­hun­gern. Und es wer­den auch kei­ne Kin­der von Zügen über­fah­ren, weil sie mit­ten in der Nacht ille­gal zurück­ge­wie­sen wer­den, wie die sechs­jäh­ri­ge Medi­na 2017 an der kroa­ti­schen Gren­ze. Offe­ne Flucht­we­ge sind also möglich!

Was ist mit den anderen?

Und mit­un­ter treibt der Para­dig­men­wech­sel in Euro­pa inter­es­san­te Blü­ten: Mitt­ler­wei­le for­dert Polen von der EU-Kom­mis­si­on einen Soli­dar­me­cha­nis­mus und Unter­stüt­zung von den ande­ren EU-Staa­ten bei der Flücht­lings­auf­nah­me. Jah­re­lang hat­te man sich dort, gemein­sam mit ande­ren ost­eu­ro­päi­schen Hard­li­nern, sei­ner­seits einer soli­da­ri­schen Betei­li­gung, ob durch Auf­nah­me von Men­schen oder finan­zi­el­le Bei­trä­ge, ver­wei­gert. Aber auch jetzt scheint die neue Will­kom­mens­kul­tur wei­ter­hin nur für bestimm­te Men­schen­grup­pen zu gel­ten. Denn just an der pol­nisch-bela­rus­si­schen Gren­ze, wo Geflüch­te­te immer noch ver­su­chen, in die EU zu gelan­gen, spielt sich nach wie vor eine huma­ni­tä­re Kata­stro­phe ab.

Vergessen: Die Menschen an der polnisch-belarussischen Grenze

Die Bil­der an der pol­nisch-bela­rus­si­schen Gren­ze könn­ten nicht kon­trä­rer sein zu denen an der pol­nisch-ukrai­ni­schen Gren­ze: Wei­ter­hin wer­den Schutz­su­chen­de dort bru­tal zurück­ge­drängt, ille­gal abge­scho­ben, miss­han­delt. Und die glei­chen Flüchtlingshelfer*innen, die etwas wei­ter süd­lich für ihr Enga­ge­ment gefei­ert wer­den, wer­den anders­wo sogar inhaf­tiert, wenn sie einer vor dem Hun­ger­tod ste­hen­den Fami­lie das Leben retten.

Wenn Mil­lio­nen ukrai­ni­sche Geflüch­te­te in Euro­pa Hil­fe erhal­ten – wie­so dann nicht auch die weni­gen hun­dert Men­schen, die seit Mona­ten an der Gren­ze zwi­schen Polen und Bela­rus ausharren?

Wenn Mil­lio­nen ukrai­ni­sche Geflüch­te­te in Euro­pa Hil­fe erhal­ten – wie­so dann nicht auch die weni­gen hun­dert Men­schen, die seit Mona­ten an der Gren­ze zwi­schen Polen und Bela­rus ausharren?

Vergessen: Die Menschen in den griechischen Lagern

Vor Krieg und Ver­fol­gung sind auch vie­le Men­schen geflo­hen, die noch immer in Grie­chen­land fest­ste­cken. Die meis­ten von ihnen stam­men aus Afgha­ni­stan, Syri­en, dem Irak. Zehn­tau­sen­de von ihnen har­ren dort aus, eini­ge Tau­send davon in den Elend­sla­gern auf den grie­chi­schen Inseln. Jene Elend­sla­ger, die nach dem Brand in Moria gro­ße öffent­li­che Auf­merk­sam­keit erfuh­ren. Eine nied­ri­ge vier­stel­li­ge Zahl an Men­schen nahm Deutsch­land damals auf – und das Pro­ze­de­re dau­er­te mona­te­lang. Aber auch, wer es von den Inseln her­un­ter­ge­schafft hat, lebt nicht unbe­dingt in bes­se­ren Umstän­den: Die Lager auf dem Fest­land sind eben­so elen­dig. Und aner­kann­te Schutz­be­rech­tig­te erhal­ten in Grie­chen­land kei­ner­lei staat­li­che Unter­stüt­zung. Vie­le Fami­li­en leben daher auf der Straße.

Wenn Deutsch­land hun­dert­tau­sen­de Men­schen aus der Ukrai­ne ohne Kla­gen und grö­ße­re Schwie­rig­kei­ten auf­neh­men kann – wie­so kön­nen wir dann nicht end­lich auch den Kriegs­flücht­lin­gen und ver­folg­ten Men­schen hel­fen, die seit Jah­ren ohne Per­spek­ti­ve in Grie­chen­land festsitzen?

Vergessen: Die Menschen, die im Mittelmeer ertrinken

Erst vor weni­gen Tagen war es wie­der eine Rand­no­tiz in den Medi­en: Fast 100 Men­schen sind im Mit­tel­meer bei einem Boots­un­glück ertrun­ken, auf der Flucht nach Euro­pa. Knapp 2.000 Todes­op­fer waren es 2021 gemäß UNHCR, die Dun­kel­zif­fer dürf­te weit­aus höher sein. Rund 30.000 Men­schen wur­den bei der Flucht abge­fan­gen und zurück nach Liby­en gebracht. Vie­le von ihnen dürf­ten in den berüch­tig­ten Haft­la­gern fest­ge­hal­ten werden.

Wenn es zur Ret­tung von Men­schen­le­ben jetzt end­lich offe­ne Flucht­we­ge gibt – wie­so wird dem mas­sen­haf­ten Ertrin­ken im Mit­tel­meer dann immer noch taten­los zuge­se­hen und war­um koope­riert die EU mit den­je­ni­gen, die Schutz­su­chen­de in Fol­ter­la­gern einsperren?

Vergessen: Die zurückgelassenen Ortskräfte in Afghanistan

Auch mehr als ein hal­bes Jahr nach der Macht­über­nah­me der Tali­ban sind immer noch nicht alle Men­schen geret­tet, die in Afgha­ni­stan für deut­sche Insti­tu­tio­nen gear­bei­tet haben, sich für Men­schen­rech­te ein­setz­ten oder deren Fami­lie in Deutsch­land lebt. Von den rund 30.000 gefähr­de­ten Per­so­nen mit einer Auf­nah­me­zu­sa­ge hat es erst weni­ger als die Hälf­te nach Deutsch­land geschafft! Die Eva­ku­ie­run­gen sto­cken, der poli­ti­sche Wil­le scheint nicht vor­han­den zu sein – dabei wird beson­ders für enga­gier­te Frau­en die Situa­ti­on immer pre­kä­rer. Gera­de weil die Welt­öf­fent­lich­keit auf die Ukrai­ne blickt, schei­nen die Repres­sio­nen und die Bru­ta­li­tät der Tali­ban immer wei­ter zuzu­neh­men.

Euro­pa kann, wenn es will. Auf die­ser posi­ti­ven Erfah­rung muss nun auf­ge­baut wer­den! Es darf kei­ne Geflüch­te­ten ers­ter und zwei­ter Klas­se geben!

Wenn eine Luft­brü­cke zur Umver­tei­lung von Ukrai­ne-Flücht­lin­gen mög­lich ist – wie­so gibt es immer noch kei­ne nach Afgha­ni­stan und Men­schen, die dort in Lebens­ge­fahr schwe­ben und auf Ret­tung durch uns ange­wie­sen sind, wer­den seit Mona­ten im Stich gelassen?

Solidarität mit allen Menschen auf der Flucht!

Die Euro­päi­sche Uni­on mit ihren rund 447 Mil­lio­nen Ein­woh­nern hat die Mög­lich­keit, auch meh­re­ren Mil­lio­nen Men­schen Schutz zu bie­ten. Das sagen wir und vie­le ande­re schon lan­ge und die aktu­el­le Situa­ti­on zeigt es mehr als deut­lich: Euro­pa kann, wenn es will. Auf die­ser posi­ti­ven Erfah­rung muss nun auf­ge­baut wer­den. Unse­re Soli­da­ri­tät ist unteil­bar. Sie darf nicht nur ein­zel­nen Grup­pen gel­ten. Sie muss allen Men­schen, die vor Krieg, Fol­ter und Ver­fol­gung flie­hen, zuteil­wer­den. Es darf kei­ne Geflüch­te­ten ers­ter und zwei­ter Klas­se geben!

(mk / wj)